Was machen: Vincent Schmidt
Was war der ausschlaggebende Moment deiner letzten Reise?
Mit wenigen Ausnahmen liegt allen meinen außereuropäischen Reisen die Sehnsucht nach dem Anderen zu Grunde – nach einem Raum, der so weit wie möglich von der westeuropäischen Vorstellungswelt entfernt liegt. Damit meine ich Vorstellungen von Sicherheit und Planbarkeit des Lebens, die nicht mehr hinterfragt, sondern als gegeben aufgefasst werden. Die Idee der Suche nach dem Anderen entstand 2005 während jener Weltreise. Zunächst einmal war das gar keine Weltreise, sondern eine Globusumrundung, die mich durch Südostasien, Australien, Neuseeland und die USA wieder zurück nach Europa geführt hat. Schon das Konzept dieses „Round the World“-Tickets läuft meiner heutigen Idee des Reisens zuwider. Es suggeriert, dass ich mich für ein halbes oder ganzes Jahr aus meinem hiesigen Leben zurückziehe, um eine außergewöhnliche, meine Persönlichkeit nachhaltig prägende Erfahrung zu machen. Aber wo und wie soll das denn passieren? In Südostasien? Oder Australien? Nicht einmal in Laos oder Kambodscha gab es 2005 noch die Möglichkeit abseits des Massentourismus zu reisen, um irgendetwas Individuelles zu erfahren. Ich war mindestens zehn Jahre zu spät. Interessant wurde die Reise erst, als ich mich, mehr aus politischem Interesse, an den äußersten Rand Südostasiens begeben habe, nach Ost-Timor, dass sich erst 1999 in einem blutigen Bürgerkrieg von Indonesien gelöst hatte und als Staat gerade mal seit drei Jahren existierte. Fernab von jedem „Round the World“-Flughafen flog ich mit einer kleinen Propellermaschine der australischen Air North in den kleinen Inselstaat. Das war damals die einzige Verkehrsverbindung ins Land. Neben mir saß Kirsty Sword Gusmão, die Frau des damaligen Präsidenten. Eine Regierungsmaschine besaß der junge Staat nicht. Tourismus war im Grunde inexistent – zeitgleich mit mir waren vielleicht zehn andere Reisende in Ost-Timor unterwegs und von denen habe ich mindestens zwei Drittel getroffen. Ich konnte einem Staat kurz nach seiner Stunde null beim Entstehen zusehen. All diese schönen Begriffe wie Zivilgesellschaft, Organisation oder Gewaltenteilung waren dort sehr konkrete Prozesse; es waren spannende Zeiten. Und von da an habe ich entschieden, dass ich nur noch so reisen möchte: Länder zu suchen, wo es noch relevante Erfahrungen zu machen gibt und die politisch brisant bis stürmisch sind.
Und nach Ost-Timor? Das beste Beispiel, wo du das erlebt hast?
Somaliland, das sich in den frühen Neunzigern im Zuge des bis heute andauernden Bürgerkriegs nach dem Sturz Siad Barres von Somalia gelöst hat. Seither ist es ein De-facto-Staat, ohne internationale Anerkennung, denn die sogenannte internationale Gemeinschaft hält nach wie vor an der absurden Idee eines befriedeten Gesamtsomalias fest oder ist schlicht desinteressiert. Wahrscheinlich hat der Bundesaußenminister noch nie von Somaliland gehört. Anders als Ost-Timor befindet sich Somaliland noch im Zustand des Transitorischen. Das Ziel heißt internationale Anerkennung als Staat. Die Grundlagen dafür sind in den letzten Jahren gewachsen und sie scheinen zu funktionieren. Es war beindruckend zu sehen, wie sehr alle das Erreichte zu schützen versuchen, wissend, dass es immer noch fragil ist. Nachmittags habe ich mich oft in einer Kaffeehaus-Baracke in der Hauptstadt Hargeisa aufgehalten. Ich sage Baracke, aber es war das beste Café der Stadt mit hervorragendem äthiopischem Kaffee. Dergleichen habe ich auch im benachbarten Äthiopien oft besucht, aber das Bild, das sich mir in Hargeisa bot, war einzigartig. Morgens saß dort kaum jemand, ohne eine der drei dünnen Zeitungen Somalilands zu lesen oder über die Tische hinweg das Gelesene zu diskutieren. Nachmittags, ab Punkt fünf Uhr, war es hingegen still, obwohl sämtliche Stühle besetzt waren. Alle Aufmerksamkeit galt dem somalisprachigen Nachrichtenprogramm der BBC, das für eine Stunde aus einem Lautsprecher des Cafés zu hören war. Der Schutz des Erreichten gründet tatsächlich auf politischer Bildung und diskursivem Austausch. Das ist mir fast peinlich, diese Begriffe hier zu erwähnen, denn in Europa sind das ja nur noch Phrasen aus politischen Sonntagsreden. Jedenfalls hätte man so etwas zum Beispiel im Kosovo vor oder nach der Unabhängigkeit vergeblich gesucht. Stattdessen sah ich abends junge Männer in kosovarische Flaggen gehüllt lautstark durch die Straßen ziehen.
Das klingt nach teilnehmender Beobachtung. Wie waren denn das Reisen und die von dir beschriebene Erfahrung des Anderen in Somaliland?
Sehr intensiv. Es gab, kurze Zeit, bevor ich nach Somaliland kam, einen sehr schwerwiegenden Anschlag gegen den Präsidentenpalast, der offenbar auf militante Gruppierungen aus Restsomalia zurückging, die von Instabilität in der Region profitieren und den neuen De-facto-Staat deshalb missbilligen. Daraufhin haben die UN all ihre Mitarbeiter abgezogen und nach Nairobi überstellt. So waren in Somaliland keine Ausländer mehr, bis auf ganz wenige, von denen ich dann auch fast alle getroffen habe. Keine Reiseversicherung hatte dort Gültigkeit, keine Botschaft hätte mir in irgendeiner Weise helfen können und keine Bank hätte auf meine Konten zugreifen können. Ich hatte Bargeld, leichtes Gepäck und einen Pass mit Einreisevisa für die Nachbarländer; es gab keine Sicherheit gebenden Strukturen, auf die ich mich hätte stützen können. Auf eine gewisse Weise erschien mir dieser Zustand wie der glatte Raum bei Deleuze und Guattari: Der unbeschriebene Raum, der noch nicht eingekerbt ist durch internationalen Tourismus und in der Wahrnehmung des Reisenden einer ständigen und unvorhersehbaren Veränderung unterworfen ist.
Wie würdest du die Konfrontation von Glattem und Gekerbtem durch deine Erfahrung in Somaliland bewerten?
Als ich dort unten war, erschien es mir mitunter schwer vorstellbar, dass es von hier aus einen Weg zurück in den gekerbten Raum Europas geben würde. Nicht weil ich mich in Gefahr wähnte, ich konnte es mir technisch nicht vorstellen. Als ich schließlich eines frühen Morgens wieder in Frankfurt einschwebte, war nicht nur der gekerbte Raum wieder da; auch gehörte ich selbst wieder zum Personal dieses Raumes. Passkontrolle, Gepäck einsammeln, Bahnticket mit Kartenzahlung, ohne Blick auf den Fahrplan zum richtigen Gleis und dort in den ICE Richtung Ruhrgebiet – alles routiniert. Hier zeigt sich vielleicht auch eine intellektuelle Brüchigkeit meiner Idee des Reisens. Der Grund, warum ich mich zwischen glattem und gekerbtem Raum bewegen kann, ist mein „schöner“ Pass. Deshalb mag ich Transitzonen auf Flughäfen so gerne. Sie sind Räume, in denen temporär alle Menschen gleich sind. Das hat sich übrigens vor dem Rückflug aus Somaliland sehr eindrücklich gezeigt. Natürlich gibt es von dort keinen Flug nach Europa. Ich musste erst ins Nachbarland Djibouti reisen. In der Transitzone des Flughafens von Djibouti-City gab es drei Typen von Passagieren: Somalier auf dem Weg zur Hadj nach Mekka, piratenjagende amerikanische und Bundeswehrsoldaten in ziviler Kleidung auf dem Weg nach Hause und einige wenige nicht Zuzuordnende wie mich. Eine absurdere Zusammenstellung findet sich wahrscheinlich auf keinem zweiten Flughafen. Ich habe mir vorgestellt, dass einige der amerikanischen Soldaten vorher in Irak oder Afghanistan stationiert waren. Und jetzt warten sie mit muslimischen Pilgern in einer spartanisch ausgestatteten Transithalle, in der sich niemand auf irgendwelche Privilegien berufen kann. Und wie zur Bestätigung meines Eindrucks kam aus der Menge der somalischen Pilger einer auf mich zu und sagte, er kenne mich. Woher? Aus dem Café in Hargeisa. Er habe mich dort oft sitzen und lesen sehen.
Wirkt sich diese besondere Erfahrung von Raum auf dein Leben in Deutschland aus? Beispielsweise in der Wahrnehmung des Alltags?
Vieles erscheint mir sehr belanglos. Anderes regt mich dafür umso mehr auf.
Und wie sieht es im Umgang mit Kunst aus? Du bist angehender Kunsthistoriker.
In der Kunst interessieren mich Umwälzungen, radikale Brüche mit dem Vorangegangenen. Viele interessante Arbeiten sind in Zeiten von transitorischem Charakter entstanden und vermögen es, die Dynamik dieser Zeit zu transportieren.
Zu deiner letzten Reise. Wie kam es zu dieser Route?
Sie ist zunächst Teil einer sehr klassischen Überlandroute, klassisch spätestens seit den 1970er Jahren. Sie war Teil des damaligen Hippietrails, der von Istanbul, durch die Türkei, Iran und Pakistan bzw. damals vermehrt durch Afghanistan nach Indien geführt hat. Insofern ist das nichts weltbewegend Neues. Doch ich habe die Route variiert. Statt in Lahore rechts abzubiegen, bin ich in die Berge gereist, den Karakorum-Highway entlang, der für sich genommen schon eine der bekanntesten Überlandrouten der Welt ist. Und der Beginn meiner Reise war wieder di nicht endenden Suche nach De-facto-Staaten im transistorischen Zustand geschuldet. Und das war der kurdische Teil des Iraks.
Irakisch-Kurdistan hast du aus einem sehr besonderen Blickwinkel erlebt.
Ich war Gast einer Familie, die sich als eine in gewisser Weise nicht durchschnittliche Familie herausgestellt hatte, sondern eine, die in die höchsten politischen Kreise vernetzt ist. Der Vater der Familie war eine Art Parteisekretär in einer der beiden kurdischen Parteien. Er war ein hoch angesehener Mensch. Und den Blick, den ich dann auf dieses Land erhalten habe, war ein ganz besonderer. Es gab verschiedene Ereignisse. Es gab diesen Tag, wo wir auf dem Landsitz der Familie waren. Ein sehr europäischer Begriff, aber er ist sehr treffend. Eine grüne Oase in der Mitte der Wüste, wo an einem Tag drei recht hohe kurdische Politiker empfangen werden sollten. Als Vorhut kamen Soldaten, die das Gelände gesichert haben und dann kamen nach und nach diese Politiker, die im Versammlungsraum gesessen haben, während sämtliche zur Familie gehörenden Frauen das Essen zubereitet haben. Die Aufgabe der Söhne und der männlichen Verwandtschaft war es, das Essen hereinzutragen und zu servieren. Das Gespräch fand ausschließlich zwischen dem Vater und den drei Politikern statt. Einer der Politiker war während des Regimes von Saddam Hussein im österreichischen Exil, und so wurde ich gebeten, dort hinzuzutreten, und zu sprechen. Dabei stellte sich heraus, dass ein Politiker der Präsident des kurdischen Parlaments ist, woraufhin ich in das Parlament eingeladen wurde, und dort eine hochgradig exklusive Führung bekommen habe. Ich wurde in sämtliche Abteilungen geschoben, wo sich mir Menschen als „Media Advisor of the Government“ vorgestellt haben. Ich war plötzlich in diplomatischer Mission ohne einen diplomatischen Auftrag zu haben, jedenfalls war er mir nicht bekannt. Aber vielleicht geht es in der Diplomatie um nichts anderes. Wahrscheinlich ist es das. Miteinander sprechen und dabei die Worte stets abwägen.
Als schwierig erwies es sich, zu erklären, was ich hier mache, in meinem hiesigen Teil des Lebens, nämlich Kunsthistoriker. Die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die sich für Kunst interessieren, die weniger als 2000 Jahre alt ist, war schwierig zu vermitteln. Und so konnte ich argumentieren, wie ich wollte. Ich war irgendwann der Archäologe. Und es war dann ‚natürlich‘ so, dass der Vater den Chef der kurdischen Antikenbehörde im Irak kennt und es sich dann auch nicht vermeiden ließ, ihn zu treffen. Auch ihm konnte ich nicht klarmachen, was genau mein Schwerpunkt ist. Also hat auch er mich für einen Archäologen gehalten und mir nach dem üblichen Zeremoniell des Zusammensitzens, Teetrinkens und diplomatischen Sprechens, jede Form von Unterstützung für sämtliche Ausgrabungsprojekte angeboten, die ich möglicherweise in Irakisch-Kurdistan haben könnte.
Du hast dich bedankt und angemerkt, dass du im Zweifelsfall das Angebot annehmen wirst?
Genau das habe ich getan. Wobei sich die Frage stellt, wie dieser Zweifelsfall aussehen mag.
Das bereits erwähnte „übliche Zeremoniell“ des Spazierengehens, Teetrinkens, Zusammensitzens hast du auch in Pakistan erfahren. Zur besseren Veranschaulichung hast in der Vorbereitung auf unser Gespräch auf die Erzählung „Der Islam ist eine grüne Wiese, auf der man sich ausruhen kann“ von Christian Kracht verwiesen. Ein Text, den du in Bezug auf Pakistan immer noch für aussagekräftig hältst.
Als ich den Text das erste Mal gelesen habe, vor circa zehn Jahren, habe ich das für eine sehr exotische Erzählung gehalten, weil sich der Ich-Erzähler auf eine sagenhafte Reise in die pakistanischen Stammesgebiete begibt, wo er in den Ort Darra Adam Khel kommt, den bekanntesten Waffenmarkt der Welt. In der Re-Lektüre und der eigenen Erfahrung in Pakistan, habe ich festgestellt, dass der gesamte Text eine sehr treffende Beschreibung der Situation eines Ausländers in Pakistan ist, der bis heute zeitlos ist. Der Text ist jetzt 15 Jahre alt, aber so noch anwendbar, was beachtlich ist. Dergleichen lässt sich über kaum einen anderen Text des „Gelben Bleistifts“ sagen. Es gibt Nuancen, die sich verschoben haben: Die Taliban regieren nicht mehr im benachbarten Kabul. Es war mir aufgrund des Krieges zwischen verschiedenen militanten Gruppen und der pakistanischen Armee auch nicht möglich, in die Stammesgebiete zu reisen. Aber die Art und Weise wie der Ich-Erzähler mit der Figur des Ibrahim Khan zusammentrifft, entspricht in hohem Maße meinen Begegnungen mit jungen Pakistanis. Der Erzähler kommt in Kontakt mit Personen, mit denen man dann in Ermangelung von Bars spazieren geht, an irgendeinem Stand Ziegenmilch kauft und in einer Teestube mit Tee verzehrt. So läuft es. Und man spricht über dieses und jenes, aber vor allem werden immer sehr viele Fragen gestellt. Fragen bei denen klar wird, dass es kaum haltbare Vorstellungen von „meiner Provinz“ gibt.
Trotz oder gerade wegen der Möglichkeiten der globalen Vernetzung durch das Internet?
Wahrscheinlich wegen des Internets. Das internetbasierte Wissen über das Leben in Europa hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Es ist stark durch filmische Fiktion geprägt, und zwar aller Genres. Andererseits habe ich auch ältere Herren getroffen, die vor dreißig Jahren in Europa waren und sehr fundierte Offline-Kenntnisse hatten.
Krachts Geschichte endet damit, dass der neue Freund des Ich-Erzählers ihm ein Paket zum Abschied überreicht, in dem ein Geschenk ist, ein Koran.
Das ist immer noch sehr bezeichnend für Pakistan. Als Europäer wird man in der Regel für einen Nicht-Muslimen gehalten. Und so wurde mir oft mehrmals am Tag gesagt, dass ich doch ein netter Mensch sei, und es schade wäre, wenn ich nach dem Tod nicht in den Himmel käme. Und aus diesem Grund würden sich alle sehr freuen, wenn ich den Islam als Glauben annehmen würde.