»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

22.2.

Grundsätzlich hatte ich vorgehabt, Bücher zurückzubringen, die ich mir unter dem Decknamen Patrick Bateman ausgeliehen hatte. Doch beim Betreten der DDR-Kneipe ohne Namen fiel mir siedend heiß ein, dass ich ohne das Buch, das ich mir dort vor ein paar Wochen aus dem Regal rechts vom Tresen genommen hatte, erschienen war. Weil es Sonntag war, und weil ich ein Sonntagskind bin, stand eine männliche Person hinter dem Tresen, damals war es eine weibliche gewesen, und so durfte ich davon ausgehen, dass ich unbelangt bleiben würde, entspannte mich also etwas, erhob dann meine Stimme und rief eine Lokalrunde aus: »Ich zahle in bar«.

Vier Schnaps und vier Bier später, eigentlich aber noch währenddessen, rappelte sich der kleine schwarze Hund eines vaporisierenden Gastes auf, um mich zu umgarnen. Da erhob ich meine Stimme ein weiteres Mal und sagte: »Sitz!«

Die folgende Zeile wurde im Ostberliner Dialekt vorgetragen, der ja unter uns Linguisten als Soziolekt gilt, und den man nicht nachmachen kann. Mirna Funk könnte, ich aber bin ja aus Baden-Württemberg, kann das auch auswendig und fehlerfrei buchstabieren, der in Ost-Berlin Geborene aber sprach: »Das kann ich jetzt ja wohl kaum glauben! Ich traue meinen Augen nicht: Das hat er zuvor noch nie gemacht.«

- Tiere mögen mich, sagte ich.

- In all den Jahren, da wir nun schon eine Hund-und-Herr-Beziehung führen, hat er das noch nie gemacht, beteuerte die Sagengestalt aus einem meiner Romane über die Arbeitslosen.

- Kinder übrigens auch, erwiderte ich, um anschließend mit ähnlicher Geste den Wirt anzuweisen, die schlechte Luft aus den Gläsern meiner Genossen zu lassen und die Flasche »gleich hier« auf dem Tresen stehen zu lassen. Jetzt aber mal Tacheles: Was soll das in Sachsen?

Alle starrten den Hund an, der da noch unverändert als Ebenbild seiner selbst zu meinen Füßen saß und zu mir aufschaute. Schenkte ich ihm meine Aufmerksamkeit, legte er den Kopf, wie um bedächtig zu wirken, von links nach rechts und pochte dann flauschig morsend mit seinem Schwänzchen auf den Fußboden.

Okay, keine Meinung? Ich aber. Mir reicht es nämlich und ich will, dass der Staat eisenhart durchgreift. Ich will konkret, dass eine Armada von Hubschraubern am Horizont dieser ostdeutschen Kuhdörfer erscheint, wie die apokalyptischen Reiter mit Rotorengewalt, und aus denen sollen sich Sondereinsatzkommandos abseilen und jedem Otto, der dort rumgrölt und Flagge zeigen will, die Mündung des Sturmgewehrs an die Stirn drücken. Diskutieren ist schön, appellieren auch, aber manchmal, und damit meine ich jetzt, also seit Sonntagnachmittag, hilft nur noch eins: Gewalt. Und zwar richtig. Dafür haben wir ausgebildete Leute, die beherrschen das Töten als Handwerk. Die können ihren Drohungen Nachdruck verleihen. Die haben Tellerminen, Nahkampftechnik und Sturmgewehre. Niemand traut sich, die nach ihrem Waffenschein zu fragen. Mit Tazern oder Pflastersteinen geben die sich gar nicht erst ab. Den will ich sehen, der dann noch einen seiner dummen, stumpfen, notgeilen Sprüche macht, wenn er sich einem Bataillon schwarz gekleideter Kevlarjungs gegenüber sieht. Dann nässt er nämlich erst mal seine dämlichen Camouflagehosen ein vor lauter Nationalstolz, wenn ihm unser Staat auf die harte Tour erklärt, wer hier wem und was zu sagen hat.

-Das finde ich jetzt aber etwas primitiv, was du da von dir gibst, sagte der Wirt.

-Ich auch, sagte der neben mir. Das sind doch Stammtischparolen.

-Wo sind wir denn hier, rief die einzige Frau, die leider schon vollkommen besoffen war.

Also packte ich den Singular aus.

Und sagte: Alter, ich steh‘ mal nun auf Jazz und Funk, bei Wagner muss ich kotzen und bei Mozart werd‘ ich krank! Aber Spaß beiseite: Hier kommt Alex. Oder wie die Muse zu sagen, ja, pflegt, ich mag’s nämlich lieber gepflegt, also die Muse sagt: Wer mir mein Dach vergiftet, dem zünde ich die Wasserquelle an. Und diese hohlen Fritten aus Sachsen, die vergiften mein Dach, unser Dach, das müssen die büßen. Die einzige Sprache, die bei denen noch ankommt, ist rohe Gewalt. Ohne leider. Die tun mir null leid. Und zwar pars pro toto, denn Verallgemeinern kann ich auch. Und zwar, wie alles, auch noch viel besser. I put the gemein in Verallgemeinerung und ich will, dass der Staat jetzt in ganz Sachsen durchgreift. Mit der Worfschaufel soll er zuschlagen, und diesen Hobbyrevoluzzern die Fresse polieren, bis die dort einstimmig das Grundgesetz singen können, auf das sie sich dummdreist berufen, obwohl sie es noch gar nie gelesen haben. Noch nicht einmal vom Hörensagen her kennen die überhaupt ihre Rechte, und wie Dr. Dr. Erlinger sagt, hat jeder, der behauptet, dies oder das sei doch bloß sein gutes Recht, eben immer und original genau gar kein Recht, das zu tun, was er sich einbildet, tun zu dürfen. Ist doch klar wie Kloßbrühe. Stimmt’s oder habe ich recht?

- Recht natürlich, sagte mein Nebensitzer. Der Wirt nickte auch. Der Hund - ach, lassen wir das lieber.

- Ich muß jetzt leider los, weil ich a) die Herdplatte angelassen hab, b) zwei Hummer daheim, um die ich mich kümmern muss und drittens habe ich nicht als einziger zu viele Filme geschaut. Wir alle haben mittlerweile viel zu viele Filme geschaut, in denen exakt das passiert, was der Staat sich jetzt nicht traut, aber besser mal machen sollte. Ist doch kein Wunder, dass sich diese asozialen Penner in Sachsen so aufführen, weil sie sich im guten Recht wähnen, dass ihr unheiliges Treiben ohne Folgen bleiben wird. Die haben alle diese Filme gesehen, in denen Leuten wie ihnen aus dem Hubschrauber ganz harte Suppe eingeschenkt wird. Wenn das nun endlich bitte auch in der Realität genau so geschehen würde, hätte das einen heilsamen Effekt. Und zwar blitzartig. Das sind doch alles Memmen, die haben doch keine Chance im Battle. Ist so. Ohne leider. Ich würde es ja machen, aber es ist von vorneherein sinnlos, von daher spare ich mir die Liebesmühe, denen The Portage To San Cristobal of A.H. vorzulesen. Noch nicht einmal über Megaphon brächte das irgendwas. Woody Allen sagt das ganz richtig in Manhattan: Eine beißende Glosse über die Nazis in Kentucky ist schön und gut, aber mit Baseballschlägern und Springerstiefeln nach Kentucky und die Nazis verprügeln, macht halt einfach mehr Eindruck auf die Nazis.

- Na, dann mach doch, sagte mein Nebensitzer. Du kannst da ja hinfahren nach Sachsen und dich mit denen prügeln.

- Ich kann mich nicht prügeln, sagte ich. Aber dafür kann ich bügeln.

- Ist noch was drin, rief mir der Wirt hinterher und meinte die Flasche.

- Könnt ihr behalten, sagte ich, schenke ich euch.

21.2.

Heute früh war ich als erstes bei Mitte Meer und habe zwei Hummer gekauft. Wie die Portugiesen mir schriftlich versichern wollten, handelt es sich dabei um ein Ehepaar. Mal schauen.

Anne will, dass ich ihr Manuskript lese. Ich will das auch, weil ich denke, dass ein Buch über Suizid eine gute Sache ist. Was Anne nicht will, so gut kennen wir uns zumindest, ist, dass ich bei der Lektüre ihres Manuskriptes in Tränen ausbreche, wie es im Deutschen heißt. Tue ich aber leider. Da kann weder Anne noch ich etwas dafür.

Sich das Leben nehmen, das hat dein Freund Christian, von dem du nun auch schon wieder 20 Jahre bald nichts mehr gehört hast, damals als eine legitime Möglichkeit ins Spiel gebracht. Damals hattet ihr gerade eure Zwangsverpflichtung als Zivildienstleistende hinter euch - zwei Jahre. Die Frauen, die ihr danach getroffen habt, konnten sich das vermutlich ebenso wenig vorstellen, wie ihr euch selbst, was das bedeuten würde, dem Staat mal so eben zwei Jahre eures Lebens geschenkt zu haben; zwei Jahre: es würde deren zwanzig dauern, bis ihr eines Morgens aufwachen würdet, um überhaupt denken zu können »O Gott!«

Damals schien das normal. Es gab und es gibt Nationen wie Eritrea oder wie Israel, da gehen die Frauen für Jahre in den Staatsdienst und fragen sich niemals öffentlich, warum. Aber in Deutschland?

Damals noch BRD. Ich kann mich erinnern, da lag ich mit Senta auf dem Teppichboden in ihrem Kinderzimmer, wir hörten Blue Lines, und danach kam Dead Can Dance, und wir waren uns ganz sicher, dass morgen, spätestens aber übermorgen der Atomkrieg kommt, der unsere Leben auslöschen würde. Wahrscheinlich ist das mittlerweile in Vergessenheit geraten, und das ist auch gut so, aber Massive Attack hießen so, weil es damals den ersten Krieg gegen die Ölstaaten gab. Eigentlich wollten sie bloß Massive heißen, es gibt auch Pressungen von Unfinished Sympathy, die waren unter Massive erschienen. Dies nur all derer wegen, die noch immer behaupten, dass alles, was ich oder was wir machen, rein oberflächlich und ästhetisch begründet erscheint. Ist übrigens ein Zitat Adolf Hitlers, das sinngemäß lautet: »Sie machen einen Fehler, wenn sie das, was wir vorhaben, als rein politisches Vorhaben beurteilen wollen«. Bret Easton Ellis hat das zitiert.

Zitate von Zitaten, Tee vom Tee und Kekse aus Keksen: so sind wir aufgewachsen. Dazu chirurgische Schnitte, das hieß: Bomben auf Bagdad, Bomben auf Zagreb und auf die Falklandinseln, Bomben auf all diese Orte, an denen wir noch nicht gewesen waren und dann plötzlich stand Joschka Fischer im Anzug und ohne Sneaker neben Gerhard Schröder. Übrigens: Im Gegensatz zu den übrigen Forschern im Felde des sogenannten Lifestyles habe ich gründlich recherchiert und weiß von daher direkt, das heißt: von Nesrin zu Königsegg, dass der Anzug aus dem Hause Brioni, den Gerhard Schröder einst auf diesem Foto für die Gala trug, aus dem Schlussverkauf bei Sør zu Hannover stammte - unter Sozialdemokraten gesprochen also: halb so wild.

Die Muse gähnt so schön. Das Geräusch, das sie dabei produziert, bedeutet für mich die Verkörperung der Behaglichkeit und ich muss dann immer an Ernst Jünger denken und was er in den Stahlgewittern über den Bauchschuss geschrieben hat: wie er das beobachtet, wie sich dort einer ausstreckt und ihm fällt dazu eine Katze ein, die möglichst viel vom Sonnenschein an ihre Unterseite lassen will.

In dem wie immer vollkommen wahnwitzigen Interview, das Sven Michaelsen mit Raimund Fellinger für das SZ Magazin geführt hat, erzählt er (Fellinger) auch von der Nadel, die Jünger angeblich stets bei sich trug, um sich bei seelischen Schmerzen den Unterarm zerfleischen zu können. Das ist eine Methode, die tatsächlich funktioniert, ich habe davon allerdings zuerst bei Alfred E. Neumann gelesen, als Prä-Teen. Damals wurde mir von der Redaktion des Magazins MAD empfohlen, gleich auf den Linken zu hauen, falls man sich beim Nageln aus Versehen auf den rechten Daumen gehämmert haben sollte. Und wenn es dann noch immer weh tun sollte: in Brennnesseln einwickeln, am besten nackt, und ganz, ganz viel Gaffer Tape darum.

Wow, wie sehr ich dieses Wort des Entstrunkens liebe!!! So gelesen in der Wochenendausgabe der Süddeutschen, deren Stil-Teil ich lese wie andere ab und an ins Spiegelkabinett auf dem Rummelplatz gehen. Schau an: So dick könnte ich sein, so dünn oder so peinlich. Hinterher ist man froh, also ich, nach der sogenannten Lektüre, dass es so weit dann doch nicht gekommen ist mit einem, mit mir, mit der sogenannten Karriere. Glücklicherweise, wobei ich halt auf keine goldene Kugel setze, sondern als Ultrawertkonservativer den Würfel schon von seiner Gestalt her als verlässlich empfinde.

In besagtem Artikel ging es übrigens um die Avocado. Also nicht etwa abstrakt, sondern um die Avocado an sich. Jahrzehntelang hatte ich geglaubt, dass die - in Wahrheit hatte ich natürlich keinen einzigen Gedanken darauf verwendet, wie oder woran die entstehen, bis -, ich wusste auch bis vor kurzem noch nicht, dass Erdnüsse keine Nüsse sind, sondern Bohnen, aber dann lebte ich etwas über ein Jahr lang mit einem Balkon, der Aussicht gab auf einen Avocado-Baum und seitdem weiß ich es halt aus der eigenen Anschauung: sie wachsen an Bäumen, die Avocados. Sieht übrigens lustig aus!

Davon steht in dem Artikel freilich nichts. Ist ja auch egal, es steht auch nicht der Trick drin, der nämlich wirklich ein Hack ist, wie man den Kern aus einer halbierten Avocado herausbekommt auf elegante Weise. Die Süddeutsche Zeitung konzentriert sich halt auf Leser in München. Da weiß man so was und saugt die Avocado und all dies Wissen um die fettreiche Steinfrucht bereits mit der Muttermilch auf. Ja, das ist eine Vorstellung, die sich als grotesk nicht nur bezeichnen ließe, sondern die das geradezu herausfordert und will (wenn sie bloß könnte). Ich frage mich halt, wie es weniger schmerzhaft würde: Zipfel zuerst, oder stumpfes Ende voran durch den Milchkanal und die sogenannte Brustwarze?

Volkmar Sigusch hat in seinen »Sexualitäten« zu Recht angemerkt, dass es unter Deutschsprachigen ein Riesenproblem mit der Erotik gibt, weil Begriffe wie Brustwarze, Schmusen und Scheide einfach nur abturnen und sogar entwerten, wo doch das Gegenteil erwünscht würde. Schon bei der Unterscheidung von Vagina oder Vulva kommen recht viele ins Schleudern, Pussy hingegen hat eine Megakarriere gemacht. Beim Venushügel muss ich ans Bestatten denken. Kitzler klingt nach einer Flasche Pommes frites. Und um hier nicht ausdauernd und bloß das Feld der weiblichen Anatomie zu beackern: Pimmel - es gibt erwachsene Frauen, die sprechen das laut aus und wundern sich dann.

Die Hummer sitzen sich in der Wanne direkt gegenüber. Sie schauen sich an.

20.2.

Ganz so langweilig war es freilich nicht.

Seit 0511 singt die Amsel gegenüber ein unfassbar schönes Lied. Die Batterien sind alle und in dem Spätkauf, wo sie mich Mr. Gutschein nennen, gibt es keine. Ich würde der Muse so gerne ein Stereo-Sample ziehen, aber das geht nun halt nicht. So lernt man ja, die Gitarre zu spielen:

»Blackbird singing in the dead of night
Take these broken wings and learn to fly«.

Den Rest habe ich vergessen, absichtlich.

19.2.

Auf dem Weg ins Café bekam ich gestern früh mit einem Mal supergute Laune. Das geschah schubweise, in einem einzigen Schub übrigens und zwar exakt auf jenem im Grunde unattraktiven Abschnitt der Marienburger Straße, kurz vor dem Postamt, rechts, wo sich dieser Spielplatz befindet mit den Tischtennisplatten. Zunächst dachte ich, es läge an der Musik, SZA, stellte dann aber, durch das Herausnehmen meiner Ohrhörer fest, dass diese Vogelstimmen doch gar nicht auf diesem wunderschönen und an Knistergeräuschen sonst nicht armen Lied festgehalten waren, sondern: die spielten live und, wie es in Stuttgart früher einmal pro Sommer geheißen hatte, Umsonst und Draußen. A propos, durch SZA und Vogelstimmen war ich an einen lustigen Vormittag im Jahr 1994 erinnert worden, in dessen Verlauf eine etwa zwei Meter große Tochter von Frankfurter Demeter-Gemüsehändlern, der Zufallsfund einer Pille Ecstasy, die dort in ihrem Bettpfostenversteck vergessen gelegen hatte, sowie die Stimme von Minnie Riperton wesentliche Rollen gespielt hatten. Tja ja, es war Throwback Thursday und ich ließ die akkumulierte Energie in meinen Handschlag strömen, als ich auf dem Kollwitzplatz auf Tilman Rammstedt stieß. Kurzes, angenehm von hauswirtschaftlichen Themen geprägtes Gespräch. Schreiben heißt ja auch Wirtschaften, wie Peter Handke einst ganz richtig festgestellt hatte; das Licht um uns herum, hier auf der Weite des Platzes besonders schön wahrnehmbar: derweil und binnen Augenblicken an Intensität zunehmend; der Himmel schließlich: wolkenfrei, nicht einmal Streifen, und nach unserer Verabschiedung, da bereits im Gehen, war mir klar: Jetzt kommt der Frühling!!!

Licht, Sounds und auch jener spezielle Duft: frisch irgendwie, spielfreudig. Dazu kam, dass auch noch Andreas Koch Geburtstag hatte, was Kerstin uns verriet, woraufhin gesungen wurde und ich las ihm als Gabe noch einmal sämtliche Briefe an die Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor, die in Bezug auf die rosafarbene Mustafa-Karikatur von Greser+Lenz veröffentlicht worden waren.

Der Tag war also, um noch nicht einmal neun Uhr, bereits als geglückt zu bezeichnen. Doch musste ich nach Marienfelde aufbrechen. Eine Unternehmung, die trotz oder wegen des immer nur noch schöner werdenden Frühlingswetters zu einer schier endlosen Fahrradtour geriet. Irgendwann fragte ich einen der bereits irritierend ländlich gekleideten Passanten, wo hier denn die Hausnummer 71 zu finden sein könnte, da wies er auf ein schräg gegenüber positioniertes Reihenhaus. Wir beide standen indes vor der Giga-Filiale eines Tierfutterdiscounters. Nun bin ich ja, was subversiven Humor anbetrifft, so einiges gewohnt, aber dass die weltgrößte Werbeagentur sich ausgerechnet in einem moosgrünen Reihenhaus kurz vor dem Autobahndreieck verschanzt? Kurz darauf klingelte auch schon mein Telefon. Leider nicht die Muse dran – in Kalifornien war es ja bereits weit nach Mitternacht –, sondern Philipp, mein Mann bei Kemmler Kemmler:

– Wo bist du?

– In Marienfelde. Die Straße gibt es zweimal, anscheinend.

– Genau. Dabei dachte ich, die Postleitzahl könnte dir den Weg weisen. Punktpunktpunkt.

Als wir uns am frühen Abend in der anderen Straße gleichen Namens am Gleisdreieckspark trafen, stellten wir fest, dass ausgerechnet diese Straße einen Glitch bei Google Maps hervorruft. Selbst wenn ich nämlich besagte Straße mitsamt korrekter Postleitzahl eingab, stellte das Programm, während noch die Routenberechnung lief, im Hintergrund bereits wieder auf Marienfelde um. Vermutlich steckte Marcus Johst dahinter, der von einem Konkurrenten der Agentur Kemmler Kemmler beauftragt worden war, Google Maps dementsprechend hacken zu lassen. Marcus Johst betreibt ja die einzige mir bekannte Agentur für Anti-PR.

Wenn jetzt noch bald, dachte ich in der U-Bahn, die Sonne erst nach 20 Uhr untergehen wird, ist alles gut.

Gleich neben dem Apple Store auf dem Kurfürstendamm befindet sich ein Hotel, das heißt Hotel California. Dieser Zusammenhang war mir bislang noch nie aufgefallen, ich nahm ihn für zeichenhaft und betrat den Store. Die Frage lautet ja schon seit Monaten: Laptop oder iPad Pro? Ich fand das Schreiben auf dem iPad immer total angenehm. In einem Birger-Sellin-Sinne befreiend geradezu. Und das iPad Pro ist so schön groß und wiegt dabei nicht viel mehr als mein erstes. Plus: Dazu gibt es einen magischen Stift, den man besser nicht verlieren sollte, weil er teuer ist, aber das mit der Fingerfarbenmalerei muss halt auch mal endlich aufhören. Und außerdem ist mir dieser neue Laptop viel zu klein! Angeblich ist ja sein Bildschirm so großartig, aber der Bildschirm interessiert mich gar nicht so sehr.

Entscheiden kann ich mich trotzdem nicht. Vermutlich aber am Samstag vielleicht.

Interessanterweise, also vor allem halt für mich interessant, bin ich der einzige Gast auf der Buchvorstellung von Sven Hillenkamp. Was aber, darüber klärt mich der Mann vom Catering auf, daran liegt, dass ich eine Stunde zu früh erschienen bin. Und zwar nicht irgendwo, sondern in den sogenannten Räumlichkeiten der Redaktion des Merkur. Ja: Wahnsinn. Die gibt es nämlich wirklich, diese Räumlichkeiten. Hätte ich nicht gedacht. Vor allem hätte ich nie gedacht: in Berlin. Und es schaut dort genau so aus, wie ich mir die Redaktionsräumlichkeiten des Merkur nicht vorgestellt hatte: irgendwie schmuddelig und lieblos unaufgeräumt. In einem Zimmer liegt ein brauner Flokati. Zum Glück gibt es aber keine Salzstangen, denn die Krümel von Salzstangen kriegt man aus einem Flokati selbst mit einem Staubsauger auf Stufe elf mit abgemachter Schnute nicht mehr heraus. Die muss man dann einzeln herauskämmen, am besten mit einem Hundekamm, der hat die idealen Zinken (weil Flokatiteppiche nämlich eigentlich, also die Originalflokatis in Braun, von denen einer in diesem Charlottenburger Balkonzimmer liegt, nach Art eines indischen Dhurries aus Hundehaar gesponnen sind; oder geknüpft, wie es in der Perückenmachersprache heißt, wobei gesponnen die Natur des Produktes besser träfe, wo doch Zuckerwatte und Flokati benachbart stehen im Periodensystem der Widerspenstigkeiten).

Nach zwei Gläsern eines ausgezeichneten Merlots trifft aber endlich Tom Kraushaar ein, der Verleger selbst und begrüßt mich, sowie ein reizendes Paar mittlerweile pensionierter Kulturjournalisten aus München, wo ich den Merkur ja auch ansässig wähnte. Es geht dann bald schon um den Abriss sämtlicher Filialen der Supermarktkette Kaiser’s, deren Pachtverträge vom Berliner Senat in einer handstreichartigen Aktion gekündigt wurden, um die attraktiven Standorte nach Abriss der im Grunde hässlichen Pavillons, in denen die Kaiser’s-Märkte nun die längste Zeit untergebracht waren, für den asozialen Wohnungsbau zu nutzen. Ein paar Meter von der Merkur-Redaktion entfernt, baut auf eben einem solchen Grundstück Daniel Libeskind eine saudisch anmutende Perlmuttspirale aus siebenundvierzig Penthouse-Eigentumslofts; am Teutoburger Platz beim Souterrain um die Ecke, wo ich wohne, bauen die von allen gleichsam gehassten, trotzdem leider erfolgreichen Graft Architekten um Wolfram Putz einen Megakomplex aus familienfreundlichen Single-Etagen. Stimmt: Die haben auch mal etwas für Brad Pitt entworfen.

Weiterhin geht es um Hühner mit gekürzten Schnäbeln, also ob das wirklich schöner ist fürs Federvieh, beziehungsweise: woran sich denn feststellen ließe, ob ein Huhn glücklich ist oder nicht. Mir liegt es beinahe schon auf der Zunge, Giorgio Agamben anzuführen, da trifft der Autor ein. Und die Lesung aus dem Buch »Negative Moderne« fängt endlich an.

18.2.

Die Muse schickt ein Carepaket. Darin finde ich unter anderem warme Sachen zum Anziehen, was gut ist, denn gestern hat es hier schon wieder zu schneien angefangen; den Roman von Miranda July, versehen mit dem Hinweis, dass lediglich die vordere Hälfte für mich interessant sei, sowie 107 Muscheln. Quersumme 8 – ich weiß, was sie mir damit sagt.

Auf einer beigefügten Postkarte, die umseitig das Motiv »Nurse displaying a Morphy-Richards Astral mini-refrigerator« zeigt, steht unter anderem ihre auf die Variationsbreite dieser Muschelsammlung bezogene Frage, ob mir eine Theorie bekannt ist, die einen Zusammenhang findet zwischen der Formenvielfalt eines regionalen Muschelvorkommens und der Bevölkerungsstruktur der jeweils an diese Fund-, oder Anschwemmorte, den Stränden also, angrenzenden Quartiere. Stimmt: Die Muscheln vom Strand in Santa Monica sehen allesamt nicht nur ähnlich aus, sie sind auch ungefähr gleich groß; beziehungsweise gibt es insgesamt zweierlei Größen: sehr klein und winzig. Als hätte, wie Marcel Proust das seinen Erzähler während einer Eisenbahnfahrt über zwei ihm gegenübersitzende Herren in identischen Outfits und mit ähnlichen Bärten und Frisuren denken lässt, »die Natur vorübergehend auf industrielle Fertigung umgestellt.«

Und wenn Miranda July auf den nächsten Seiten weiter so punkten kann (und ich glaube, sie kann, denn die Muse fand die gesamte erste Hälfte ja sehr gut; nicht super gut zwar, aber immerhin sehr), ist das schon das zweite neue Buch in diesem noch nicht einmal viertelalten Jahr, das ich gerne lese. Auf Seite 9 schreibt sie (also Frau July, nicht die Muse) über ihre Ohren: »Abgesehen davon stehen die Flächen zwischen meinen Augen, meiner Nase und meinem Mund in einem perfekten Verhältnis zueinander. Nur ist das bisher noch niemandem aufgefallen. Und auch meine Ohren: entzückende kleine Muscheln. Ich klemme immer die Haare dahinter und versuche, Räume voller Menschen mit den Ohren voran zu betreten, seitwärts.«

Die Übersetzung hat Stefanie Jacobs gemacht. Ich finde sie sehr gut. Beispielsweise fällt es mir bei zitiertem Absatz echt schwer, den ins Englische zurückzuübertragen. Das ist immer ein 1a-Zeichen, finde ich. Umschlag ist auch okay, sieht lustigerweise plötzlich aus wie von Kanye West beziehungsweise Peter de Potter, der war früher dran. Ich erinnere mich, dass Miranda July im vergangenen Jahr ein Bild auf Twitter postete mit acht Ausgaben unterschiedlicher Lizenzverlage, und bis auf einen hatten alle ihre ursprüngliche Umschlaggestaltung übernommen (von Mike Mills). Mike Mills hat auch das Vorsatzpapier entworfen – sehr hübsch und: That’s Power!, weil bei den Herstellern der Verlage solche Sonderwünsche extra kosten.

Beim Aufwachen frage ich mich, ob die Muse vielleicht für immer in Kalifornien bleiben wird. Es regnet hier ja schon wieder und im Krankenhaus gegenüber sehe ich Fenster, gefüllt mit ultratrübseligem Licht. Man glaubt ja immer, also denkt vage, dass sich mit schriftlicher Kommunikation selbst Riesendistanzen, selbst Zeitunterschiede spielend überwinden lassen, aber das stimmt eben gar nicht, das ist eben nur Glaube. In Wirklichkeit ist die mündliche Kommunikation, also sprechen, in Sachen Unmittelbarkeit ungeschlagen: 150 Worte pro Minute bringt eine durchschnittlich begabte Person unter, beziehungsweise an den sprichwörtlichen Mann. Alles andere, ob nun tippen oder Sip-and-puff, ja selbst elektronisch gestützte Pseudotelepathie kann da nur Ersatzleistungen bieten, die an das Original nicht heranreicht. Tippen auf einer Tastatur (Modell QWERTZ), beispielsweise im Skype-Chat oder im Hangout bei Google: 80 Worte pro Minute max. Ich schaffe noch nicht einmal die Hälfte fehlerfrei, weil ich wie beinahe alle Menschen, die ich kenne und die ihr Geld mit Schreiben verdienen, das Zehnfingersystem n a t ü r l i c h nicht beherrsche und mit zwei Fingern (denen zum Zeigen) tippe. Leerzeichen mit dem Daumen links. Tippen auf dem iPhone oder auf dem Galaxy, also auf jeden Fall mit Touchscreen: 20 Worte pro Minute. Die Erfüllung der großen Hoffnung, der Fantasie – nämlich Radiotelepathie – wird wohl noch ein bisschen länger auf sich waren lassen als gedacht. Derzeit schafft das beste Interface für die drahtlose Textübertragung von Gehirn zu Gehirn gerade einmal sechs Worte pro Minute. Das dauert. Es gibt ja Menschen, die kriegen schon einen Wutanfall, wenn sie versehentlich iPhoto öffnen – – – – – – sechs Worte pro Minute!!!

Und dann, glaube ich, sehe ich das mittlerweile realistischer als noch vor ein paar Jahren, als ich mit Freeman Dyson über diese Technologie sprach. Das war noch vor dem Film Her und dieser Horrorvision von 8316 anderen, mit denen das Betriebssystem, in das Theodore verliebt ist, simultan kommuniziert; in 641 ist sie zu jener Stunde simultan verliebt (exklusive Theo). Aber selbst unter Menschen: Wie liefe das ab? Gäbe es da eine nervtötende Ankündigungsmelodie wie bei Skype (Wieso lässt die sich eigentlich nicht verändern!), wenn der andere mit einem telepathieren möchte? Oder wird der einfach automatisch zugeschaltet? Wie lange dauert das dann, bis man die Stimmen im Kopf, die eigene im Zweifelsfall, von der des anderen nicht mehr unterscheiden kann? Vielleicht war es ja das, was ich einst so interessant, schön und sogar erstrebenswert fand an dieser Fantasie. Mittlerweile glaube ich, das wäre der Horror. (Ich muss an Gummibären auf dem Backblech denken bei 180°C). Dadurch gingen mir die Eigenheiten des anderen verloren. Ihm meine aber auch. Seine Persönlichkeit. Meine. Weder ich noch sie wären dann noch jemand, sondern halt nur noch irgendwas.

17.2.

Lidl wirbt mit einem Zitat von Niklas Luhmann. Spontan denke ich: Das ist gut. Und fotografiere das gesamte Plakat, das in der Kniprodestraße neben einer Tankstelle montiert ist: Eine Frau mit langem blondem Haar schaut so von unten herauf in die Kamera. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt ohne Ärmel. Das Haar strömt über ihre Ohrmuschel hinweg, bedeckt sie, verschwindet in einer Kurve über ihren Hinterkopf und rauscht dann über ihre linke Schulter in einer moselschleifenartigen Bewegung herab, bis es versiegt unter dem am rechten unteren Bildrand plazierten Logo von Lidl, das zwar nicht von Anton Stankowski entworfen wurde, aber deswegen allein auch noch nicht schlecht ist.

Rechts oben dann steht das Zitat: »Sei doch einfach nur natürlich.« In Versalien einer Typo, die an die Schreibweise des Logos von Helmut Lang erinnern soll. Darunter allerdings – ich frage mich, weshalb Grafikern so etwas noch immer einfällt, dabei war das schon in meiner Jugend out – diagonal und in grellpinker Sprühdosenoptik »Bleib schön du selbst«. Der urheberrechtliche Hinweis auf Niklas Luhmann, »dt. Soziologe« und die Jahreszahlen seiner Geburt, am 8. Dezember 1927 in Lüneburg, und seines Todes, am 6. November 1998 in Oerlinghausen, symbolisiert durch * beziehungsweise ✝ stehen, wie es die Tradition vorsieht, in Klammern da und sind gesetzt in einer leicht gedehnten und zudem kursivierten Times New Roman, sodass dieses gesamte Plakat einen Hautgout von Post-Internet Art verströmt.

Mir fehlt der Verweis auf den Kontext. Ich fürchte, dass Lidl mit diesem aus dem Kontext gerissenen Zitat Niklas Luhmanns deutlich weniger von den damit beworbenen Haarpflegeprodukten verkaufen können wird, als potentiell möglich wäre, wenn man sich entschieden hätte, die übrigen Freiflächen des Plakates für die Kontextualisierung des Zitates zu nutzen. Das stammt ja bekanntlich aus der Unterhaltung Niklas Luhmanns mit Alexander Kluge anlässlich des Erscheinens von Luhmanns Theorie der Liebe »Liebe als Passion«. Niklas Luhmann hat gerade die theoretische Herleitung des Schäferstündchens abgeschlossen, zitiert La Rochefoucauld, wonach sich die Leute nicht verlieben würden, wenn sie nicht zuvor gelesen hätten, dass dies überhaupt möglich sei. Alexander Kluge macht die für ihn typischen Geräusche des atemlosen Folgens in Gedanken, also er markiert, weil er selbst nicht zu Wort kommt, durch hörbar gemachte Respiration eine Art Schluckaufgeräusch, das die Stationen seines gedanklichen Voranschreitens anzeigt wie Pfosten; er signalisiert seinen Gesprächspartnern, dass er schweigenderweise trotzdem vorankommt, gedanklich noch dabei ist, gleichzuziehen mit seinem Gegenüber, Niklas Luhmann in diesem Fall, der soeben bestens gelaunt mit dem fraglichen Zitat aus der Kurve kommt: »Es gibt ja nichts Schlimmeres, das sie zu ihrer Frau sagen können, als: Sei doch einfach nur natürlich.«

Kluge: Ja. Ja, ja!

Luhmann: Wenn man da bloß anfängt nachzudenken, wird man verrückt.

16.2.

Eine Zeit meines Lebens konnte ich links und rechts nicht auseinanderhalten. Das ging so weit, dass mein Fahrlehrer auf seiner Seite einen Schraubenzieher von der Klinge bis zur Manschette des Griffs im Lüftungsgitter (das in der Fachsprache Mannanströmer heißt) versenken musste und mich von da an mit den Richtungsangaben »Schraubenzieher«, beziehungsweise »nicht Schraubenzieher« durch die Altstadt von Vaihingen an der Enz dirigierte. In Deutschland war es damals angeblich illegal, einen Führerschein für jemanden auszustellen, der nicht genau wusste, wo links war und wo rechts. Also strengte ich mich an, das Schraubenziehersystem dort zu verinnerlichen, wo vorher schon kein Platz für das Rechts-links-System gewesen war. Oder keine Struktur dafür bereit stand, so etwas aufzunehmen.

Bis ich meinen Führerschein dann endlich ausgehändigt bekam, fiel ich zweimal durch die theoretische Prüfung. Und im Praktischen lief es nicht besser. Wo rechts war und wo links, konnte ich, insbesondere in Stresssituationen, noch immer nicht zuverlässig sagen. Von daher bitte ich, wenn möglich, auch im Nachhinein all die vielen Menschen um Verzeihung, die ich über viele Jahre lang irgendwohin geschickt haben werde, ganz sicher aber sehr oft nicht dahin, wohin sie ursprünglich gewollt hatten; ursprünglich, also bevor sie mich trafen, der ihnen so angeblich hilfreiche, dabei leider komplett verkehrte Wegbeschreibungen geliefert hatte. Zu einem milden Urteil sollte bitte beitragen, dass ich selbst bis heute wirklich und wahrhaftig davon überzeugt bin, von rechts zu sprechen, wenn ich nach links deute (und umgekehrt). In Frankreich ist es ja noch schlimmer, weil da ganz rechts geradeaus bedeutet, ganz links aber nicht etwa rückwärts, sondern ganz links – und obendrein kommt es mir jetzt gerade so vor, als hätte ich dort dieses Problem gar nicht gehabt. In Äthiopien heißt kanye rechts. Links habe ich vergessen. Aber was heißt das für Kanye West?

Beinahe drastischer noch als beim Autofahren macht sich meine Schwäche vor Wasserhähnen und generell beim Schrauben bemerkbar. Will ich einen Hahn öffnen, muss ich zuvor erst vor meinen Augen eine geheime Merkbewegung pantomimisch ausführen, um mir die korrekte Drehrichtung »linksherum« fürs Öffnen der Hähne ins Gedächtnis zu rufen. Selbes gilt fürs Zudrehen. Ich habe es vergessen, aber es ist entweder Italien oder England, wo die Hähne genau andersherum gedreht werden müssen. Ich tippe mal auf England. Schränke oder andere Möbelstücke schnell und somit elegant zusammenschrauben kann ich gar nicht. Das können viele nicht, aber bei mir wirkt es extrem unbeholfen. Auseinanderschrauben geht exakt genauso schlecht. Das ist besonders unangenehm, wenn man, wie ich, als ein Betroffener dieser Schwäche zugleich liebend gerne umzieht. Mein life hack besteht von daher in einem totalen Möbelverzicht. Waschen tue ich mich aber schon.

Als ich in solcherlei Gedanken verstrickt die Winsstraße entlangging, entdeckte ich direkt vor mir eine kleine Baustelle. Ich blieb sofort stehen. In Cagnes mussten sie derzeit mit einer einzigen Baustelle auf zwanzigtausend Einwohner auskommen. Hier in Berlin ist das Verhältnis glücklicherweise noch in Ordnung, das bedeutet: umgekehrt. Was nun auf dieser Baustelle gebaut werden sollte, erschloss sich meinem nicht gänzlich unkundigen Auge zwar nicht vollends, jedoch würde es etwas Feuchtes werden, da der entfernt aufgebaute Kollege einen der formschönen Hydrantendeckel aus dem denkmalgeschützten Belag des Trottoirs gehoben hatte. Man erkennt diese im Ostteil der Stadt noch zahlreich vorhandenen Hydrantenabdeckungen an ihrer ungewöhnlichen rechteckigen Form, dazu noch an dem in den Zement des Deckels eingeprägten Buchstaben F. Ein hansaplastfarbener Schlauch entrollte sich bereits vom unterirdisch angeflanschten Hydranten bis zu den beiden Kollegen in den Wasserhosen, in deren Nähe und Obhut ich nun stand. Schon begann der Schlauch sich aufzublähen, bald ergoss sich ein Schwall nicht gerade klaren, dafür kalten Wassers um uns herum. Der eine der beiden Wasserhosenträger versuchte daraufhin, den Kopf des sich hin- und herwerfenden Schlauchendes zu fassen zu bekommen, der andere schrie zum Kollegen am Hydranten hinüber: »Ist gut jetzt. Mach zu.« Dieser winkte freundlich, und hantierte. Statt nachzulassen aber bäumte sich der Schlauch in den Händen des Vorarbeiters nur noch ungestümer auf und ließ nun eine veritable Fontäne emporsteigen, woraufhin alle im Umkreis von vier Metern total durchnässt wurden. Das geschah binnen Sekunden.

»Zu!!!«, schrie der andere in Richtung des Wasserverfügers. Der winkte tatkräftig und etwas knapp, und versuchte da auch etwas, aber es kam mir bekannt vor: wohl in die falsche Richtung. Jedenfalls entschlang sich das speiende Rohr den Bauarbeiterhänden, die es nicht mehr zu bändigen vermochten. Sein Wasser überall im Halbkreis verteilend, schließlich sich versteifend und gegen die Flanke eines Mercedes-Benz schmetternd, befreite sich der Schlauch. Es brauchte die Hilfe des Vorarbeiters, um den Hydranten zu schließen. Eine beeindruckend schäumende braune Welle schwappte im Rinnstein der Winsstraße hin und her. Sah aus wie nachmittags in Mexiko, während der Regenzeit. Um dem Freund das Gesicht zu retten, lachte ich laut. Sich gegenseitig abtrocknend stimmten die Bauarbeiter mit ein. Zum Glück war der Schulunterricht noch nicht beendet, dachte ich. So, und nur deshalb, wurde niemand verletzt.

Da klingelte mein Telefon.

– Hallo, sagte die Muse.

– Hey!, sagte ich.

– Hey, was machts du?

– Das willst du nicht wissen.

– Doch, sagte die Muse, das will ich sogar sehr genau wissen. Speziell von dir. Also?

– Hast du das von den Hummern gelesen, fragte ich.

– Nein, habe ich nicht, sagte die Muse. Was steht denn da?

– Na ja, ich konnte es selbst kaum glauben, aber die Autorin ist eine Koryphäe, ich habe es recherchiert. Sie hat Ahnung von Hummern und nicht nur von denen.

– Aha. Und was steht da?

– Es ist wohl so, dass Hummer sich nur dann fortpflanzen können, wenn das Weibchen sich gerade geschält hat. Also den Panzer am Schwanz abgeworfen. Sie ist dann besonders verwundbar. Und ausgerechnet dann wird das Männchen besonders aggressiv.

– Ah, interessant! Warum ist das eigentlich so, dass die Männchen dann ausgerechnet so außerordentlich aggressiv werden? Gerade dann, wenn ihre Weibchen so besonders verwundbar sind.

– Ja, schlimm. Man weiß es aber nicht. Das ist ein Bereich, der noch nicht genügend erforscht wurde – also der Hormonkreislauf der Hummer. Bei Hummern geht es vielleicht speziell um der Frisson, dass er mit diesen Brutaloscheren und voll auf Aggressionshormonen sie jederzeit in den weich und bloß dargebotenen Schwanz schneiden könnte; wahrscheinlich wird diese Angslust von den Hummern beiderseits empfunden und ist sozusagen deren Hummergeil.

– Tut er das denn? Ich meine: Schneidet er dem Weibchen in den ungeschützten Schwanz?

– Dazu kommt es nicht. Du musst wissen, dass sich bei den Hummern der Ausgang für die Harnröhre unterhalb der Augen befindet.

– Ah, okay.

– Sie stellt sich ihm also entgegen und spritzt ihn mit gewissen Mengen ihres Urins an. Die fächelt er sich ein und merkt sich das Aroma. Das Ganze findet ja unter Wasser statt, das darfst du nicht vergessen.

– Ne, klar. Klingt aber gut!

– Das geht über einige Tage so: Sie taucht vor seiner Höhle auf, er droht ihr mit den Scheren, fuchtelt, sie sprüht ihn an – ich stelle mir das wie bei diesen Düsen an den Scheibenwischern vor, wenn es dann so geil nach Spiritus riecht auf der Autobahn.

– Ich bediene die auch sehr gerne.

– Viel und heftig! Okay, aber irgendwann ist es dann bei den Hummern so, dass er ihrem Duft verfallen ist. Dann lädt er sie ein, in seine Höhle zu kommen.

– Das ist doch nicht wahr!

– Ich sagte dir doch: Marah J. Hardt ist eine Koryphäe, was Sex unter Meeresbewohnern betrifft. Ich habe sofort Uslar & Rai angeschrieben und Katharina schrieb zurück: Sex in the Sea kommt bei St. Martin’s Press Mitte März. Sie hat es mir bestellt!

– Ich verlange jetzt schon, dass du es mir in Gänze vorliest!!! Meanwhile – was geschieht in der Höhle?

– Er winkt sie herein mit seinen Scheren, sie parkt sozusagen rückwärts ein, um ihren empfindlichen Schwanz während des Liebesspiels im Inneren der Höhle vor eventuell vorbeitreibenden Fressfeinden zu schützen.

– Finde ich total nachvollziehbar.

– Ich übrigens auch. Sympathisch diese Hummer, oder?

– Ja, aber total! Hätte ich nie gedacht, dass die so lieb zueinander sein würden. Ich fand die nämlich ehrlich gesagt immer etwas hässlich. Schnecken haben ja wenigstens noch diesen angenehm anzufassenden Leib und ein schönes Häuschen, aber Hummer mit diesen Drähten überall und diesen Panzern und den Insektenbeinen – bäh.

– Hm. Pass auf: Wenn sie dann in der Höhle auf dem Bauch sozusagen liegt, legt er sich passgenau, also: Schere auf Schere, auf sie und benutzt dann ebendiese Insektenbeinchen, um das Weibchen unter sich herumzudrehen, sodass beide schließlich Bauchfläche an Bauchfläche aufeinander zu liegen kommen.

– Missionarsstellung.

– Verblüffenderweise. Es gibt ja nicht gerade zahlreiche Beispiele aus dem Tierreich, die – also da ist doch a tergo sozusagen die Missionarsstellung.

– Ja, Wahnsinn. Also diese Hummer werden mir immer sympathischer, die wachsen mir regelrecht ans Herz!!!

– Jetzt kommt’s.

– Klar.

– Ja, aber eben so, dass sie eine Art Einschub ihm weist, der sich ungefähr auf der Mitte ihres Leibpanzers befindet und dorthinein praktiziert er ein Organ, das nur ihr gehören wird. DENN HUMMER LEBEN MONOGAM!!!

– Wow.

– Und werden im Extremfall 100 Jahre alt. Der Koitus des Hummers dauert mehrere Stunden. Marah J. Hardt, die Koryphäe, hat es bezeugt: »Es kommt zu vereinzelten Stoßbewegungen.«

Karezza also vom Prinzip her. Tantra, big draw – Hummer sind derart advanced. Das scheint mir beinahe so zu sein wie mit den Oktopussen. Kann es denn tatsächlich sein, dass wir ausgerechnet die Meeresbewohner unterschätzt haben? Dass Oktopusse höhere Formen der Intelligenz repräsentieren und Hummer höher entwickelte Formen der Liebe und Sinnlichkeit?

– Ich weiß es nicht. Aber es beschäftigt mich.

– Sollte es auch. Mich beschäftigt es jetzt auch bereits sehr. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken.

– Dann mach‘ doch einen Subchannel auf in deinem Bewusstsein, so mache ich das. Dort gehst du tagsüber deinen Hummergedanken nach. Nachts kannst du doch ohnehin denken, was du willst.

– Okay, mache ich. Mache ich genau so.

– Wenn alle Eier in ihrem Bauch befruchtet sind, dreht er sie vorsichtig um. Dann krabbelt sie in den hintersten Winkel seiner Höhle und schläft dort viele Tage lang, bis ihr ein neuer Panzer gewachsen und dieser ausgehärtet ist. Er hält derweil vor dem Eingang zur Höhle Wache, in der seine Frau nun wohnt und heilt. Nachts schwenkt er seine Scheren durch die Strömung wie ein Fluglotse, um feindliche Schwingungen orten zu können. Wir wissen nicht, was und wie er fühlt, aber vermutlich fühlt er sich als Held.

– Das glaube ich nicht.

– Was fühlt er denn?

– Er findet das normal. Ist es doch auch.

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