»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

10.7.

Heute soll es warm werden, angeblich 29 Grad, und ich glaube das stimmt sogar, denn ich wachte bereits um 4 Uhr auf, weil es zu warm geworden war. Alle Fenster geöffnet und im warmen Durchzug noch auf der Decke eingeschlafen und von einem unwiderbringlichen Augenblick der Zuneigung geträumt. Auge in Auge.

Jetzt ziehen Herden aus gleichförmig kleinen Wolken wie helle Rasterfelder über den Himmel, der gläsern wirkt, so viel Licht scheint dahinter und kommt unvermindert durch. Auch der See wirkt tiefblau und es gibt kaum Wellengang. Dafür zeigt sich die Strömung, denn es handelt sich in Wahrheit um gar keinen See, er heißt bloß so, aber es ist ja die Havel, die hier nur stark verbreitert vorbeifließt.

In den Büschen piepst und raschelt es von den vielen Mäusen, die winzig klein sind, braun mit einem dunklen Rückenstreifen, ähnlich der Hunderasse Rhodesian Ridgeback, und von denen es in diesem Sommer besonders viele gibt. Die Katze braucht nicht einmal mehr Milch oder Trockenfutter, sie wird immer dicker. Neulich hat sie einer Taube den Kopf abgebissen, den Rest einfach liegen lassen, sie konnte nicht mehr. Wir haben dann kurz überlegt – eine Taube ist ja schon ein großes Tier: vergraben oder bestatten? Aber niemand mag Tauben, also griff ich nach dem kopflosen Vogel mit dem Umschlag eines Maxibriefs und beförderte ihn in die Tonne für den Haushaltsmüll. Sie war noch warm.

Und ich twitterte meinem Liebling.

9.7.

Gestern viel gearbeitet. Zu viel vermutlich. Ich habe einen solchen Muskelkater im Oberarm (vom Anreißen des Außenborders), dass ich kaum tippen kann. Also: Es fällt mir schwer. In dieser Angelegenheit war ich auch mittags kurz an der Tankstelle, einer Agip, weil dort die Motorradrocker vorfahren und angeblich ist ja das Gemisch, das ich in den Bootsmotor füllen soll, eine Mixtur, die in Motorrollern Verwendung findet. Ich brachte also meinen Kanister mit, der ganz anders ausschaut als einer für PKW, er ist nämlich signalfarben-orange und von seiner Bauweise flach und langgezogen (Modell Ente). An der Kasse arbeitete eine sympathische Butchlesbe im Fred-Perry-Hemd und ich sagte: »Guten Tag, könnte ich hier fünf Liter Benzin reinhaben?«

Sie sagte: »Mach doch.«

Ich sagte: »Okay, wenn das geht. Ich hätte dann noch eine Fachfrage: Ich brauche nämlich noch einen Liter Öl für das Gemisch 1:100 – welche dieser siebenundzwanzig Sorten Öl empfehlen Sie mir denn für einen Außenbordmotor?«

Sie schaute in zumindest meine Richtung, denn ich deutete auf die Wand hinter mir, wo in Wahrheit freilich weit mehr als siebenundzwanzig Plastikflaschen und Plastikkanisterchen mit Motoröl aufgereiht waren.

Sie sagte: »Das weiß ich doch nicht.«

Ich wusste nicht, vielleicht lag das an mir, denn für mich gehörten Tankstellen bis dato zur Sachgruppe Apotheke et cetera, weil es dort eben gefährliche und teilweise auch sehr spezielle Produkte gibt. Beispielsweise Wischblätter für Scheibenwischer, Fliegenschwäme oder Xenon-Glühmittel. Die gibt es halt nicht in jedem Supermarkt. Nicht mal bei Obi.

»Aber sie arbeiten doch hier an der Tankstelle«, versuchte ich an ihr Ehrgefühl zu appellieren.

»Ja«, sagte sie, »aber ich arbeite hier bloß.«

8.7.

Eigentlich war gestern ein mega gelungener Tag, weil wir zuerst eine schönen Spaziergang machten. Davor waren wir Kaffee trinken gewesen und währenddessen hatte mir Monika auszugsweise davon erzählt, wie es mit Jutta Koether und Diedrich Diedrichsen sich verhalten hatte, und ich konnte ihr wiederum aus meinem Blickwinkel, meiner Erlebnisperspektive heraus berichten, dass wiederum Jochen Distelmeyer – also kurz und gut: Durch das Übereinanderlegen unserer Perspektiven fanden wir dann gemeinsam über die Sache gebeugt zu einem Bild, in dessen Zentrum Diedrich Diedrichsen sich befand, der wiederum Jutta Koether derart angezogen hatte, dass sie sich in die Kunstproduktion stürzte, und Jochen Diestelmeyer, damals unsterblich in Jutta Koether verliebt, vor allem ihrer Kunstproduktion wegen, nahm dann, um Jutta Koether für sich zu gewinnen, mal eben so die beiden wichtigsten Platten der letzten dreißig Jahre (in deutscher Sprache gerappt und gesungen) auf.

Aus der Sicht der Kultur, die ja keine Augen hat, ist das mit den Musen keine schlechte Idee.

Dann kauften wir das Boot und fuhren full speed über den See nach Hause zurück. Großer Spaß, nein: gigantisch.

Und dieses Gefühl hielt dann auch den Nachmittag über noch an. Abends saß ich dann vor dem kleinen Café gegenüber und wartete so eher halb gespannt den Auftritt der Zauberfüße ab, freute mich aber schon auf die Nahaufnahmen. Ich saß derentwegen mit gezücktem Füller, denn ich arbeite ja an dieser poetischen Skizze mit dem Titel »Manuel Neuer, Mann«.

Tja, aber dann kam die Tagesschau. Und da kam das Schwarz-Weiß-Bild von seinem Gesicht. Und mir entfuhr ein »Nein!«

Und die Frau gegenüber, die einen modernen Gehstock bei sich hatte, fragte: »Was ist denn mit Ihnen?«

Und ich sagte: »Ich bin traurig.«

Und dann auch noch das Spiel. Aber das ging in Ordnung und war wie Kiffen für mich.

7.7.

Heute ist Siebenschläfer. Wenn es heute regnet, regnet es sieben Wochen lang. Gestern, als ich frühmorgens in die Stadt gefahren war, fing es am Hackeschen Markt augenblicklich zu regnen an, aber derart, dass die Wassertropfen von allen Seiten an mich herangeweht wurden. Ich versuchte mich unterzustellen, aber das schien unmöglich, denn selbst von unten her wurde ich nass. Dann wieder vorbei, der Wind blieb und verstärkte sich noch. Zwischendurch schien auch wieder die Sonne. Und zwischen den nass glänzenden Stämmen der Platanen in der Oderberger Straße spiegelte sich bis hinüber zur Kreuzung vor der Kulturbrauerei ein fantastisches Licht.

Ill wind den ganzen Nachmittag über. Vor der Pizzeria am Kollwitzplatz sah ich, wie der Bäcker, beim Versuch die Markise etwas zurückzukurbeln, von einem herabfallenden Ast mitgen auf die Stirn getroffen wurde, wie Ödön von Horváth, aber er musste nicht bluten und ging bald zurück in sein Geschäft. Dann saß ich später mit Constantin vor dem Souterrain, und wie immer, wenn wir uns treffen, lachten wir sehr viel. Er ist ja der lustigste Mann, den ich kenne. Er hat einen goldenen Humor und kann, glaube ich, jeden Mensch, den man so kennt, imitieren. Manche Menschen kenne ich sogar ausschließlich von den Constantinischen Imitationen her. Irgendwann fegte ihm der Wind seine Sonnenbrille aus dem Gesicht und wehte sie ein Stück die Choriner Straße hinab. Und er sah mich an, und musste noch vor mir lachen, weil er wohl meine Gedanken gelesen hatte, und dort hatte gestanden: Wie passend, ihn hält doch jeder, der ihn nicht kennt, für einen windigen Typen.

6.7.

Durch bloßes Nebeneinandersitzen entsteht ein Gespräch mit zwei Männern aus Kabul und einem aus Südafrika, Kommilitonen, die in Potsdam Public Marketing studieren – ein Studiengang, bei dem es wohl darum geht, wie sie sagen, in Zukunft »Torheiten wie den Brexit zu verhindern«. Right on!

Nach den üblichen Frage nach dem Holocaust und ob es sich bei dem überwachsenen Krater dort drüben um einen Bombentrichter aus dem Zweiten Weltkrieg handelt (ja), stellen sie mir eine Frage, auf die ich von selbst nicht gekommen wäre: Warum denn die Deutschen noch immer an ihrer Sprache festhalten, und nicht endlich auf Englisch umgestellt hätten.

Ich versuche zu erklären, dass Deutsch die Grundlage unserer Kultur bedeutet, dass in Deutschland der Buchdruck erfunden wurde, dass der Buchdruck das Selbststudium der Bibel ermöglicht hat, und dass die in der Bibel erzählten Geschichten zur Verbreitung der christlichen Werte geführt hat, auf denen unsere Gesellschaftsordnung noch immer beruht. Und das zum Glück. Interessanterweise, das fällt mir aber hinterher erst ein, erwähne ich mit keinem Wort die deutsche Dichtung, ich verweise nicht auf unsere Literaten und unsere Literatur. Eine daraus, aus meinem Hinweis auf unsere christlichen Werte entspringende Frage, weshalb sich ausgerechnet das Ungarische und das Finnische ähnlich sind, kann ich mit der Völkerwanderung zumindest zu erklären versuchen. Eine historische Tatsache, die allen dreien bislang unbekannt gewesen war. Ich führe die Ähnlichkeit des italienischen Namen des Brotes (Ciabatta) und eines indischen (Chapati) vor Ohren.

Das kommt bei den Männern aus Afghanistan gut an und führt dann zu längeren Augenblicken der Nachdenklichkeit. Aber um auf ihre Ausgangsfrage zurückzukommen: Ich kann zwar, wie sie festgestellt hatten, flüssig auf Englisch erzählen, aber eben nicht schreiben. Weil es, vielleicht auch nur für mich, einen Unterschied gibt zwischen Reden und Schreiben, der wesentlich ist. Warum, das kann ich, das wird mir dabei bewusst, gar nicht erklären. Mir fehlen nicht die Worte, aber der Vorgang des Schreibens an sich ist wohl unbeschreiblich für mich. Unbegreiflich nicht. Aber es verhält sich so, wie mit meinem Verhältnis zur Zeit: Ich weiß ganz genau, was Zeit ist. Aber erklären kann ich es nicht.

5.7.

»Über das Verhältnis zum eigenen Körper und zu anderen menschlichen Körpern entwickelt sich die Beziehung jedes menschlichen Körpers zur übrigen Objektwelt und aus dieser die Sprechweise dieser Körper von sich, den Objekten, den Beziehungen zu den Objekten. In welcher Weise spricht die ‚faschistische Sprache‘ von solchen Verhältnissen und warum – das ist die Richtung, in die die Fragestellung entwickelt wird.« — Klaus Theweleit

Wenn es eine Tablette gäbe, ein Medikament, das den Prozessor der Wahrnehmung, also meine Seele, so verändern könnte, dass ich die Menschen so sehen dürfte wie Tiere, ich würde sie einnehmen. Ich finde beinahe alle Tiere schön und interessant und die meisten finde ich sogar niedlich. Menschen, vor allem die, die ich nur aus der Beobachtung kenne, machen mir einfach bloß Angst.

Für die Blässhühnerfamilie am gegenüberliegenden Ufer beginnt jetzt die Zeit der Vertreibung ihrer Küken aus dem Nest. Ich weiß nicht, wie man bei Wasservögeln das Äquivalent zum Flüggemachen nennt, aber es geht brutal vonstatten und in etwa so, wie es in einem Erziehungstipp aus dem Alten Testament heißt: »Sie bestreiche sich die Brust mit bitterer Salbe«. Das Gefieder der Blässhuhnjungen wirkt noch immer flaumig, staubgrau und an den Brüsten bis über den den ganzen Lauf der Halsvorderseite hinauf bis an die Unterseite der Schnäbel verläuft eine weiße Spur, die sich bei den erwachsenen Tieren emblemhaft auf jenen Tüpfel aus Tippex, der dann von der Schnabelspitze aus senkrecht bis auf das Schädeldach weisen wird, reduziert. Die Augenfarbe des Nachwuchses ist auch noch nicht rot, wie bei den geschlechtsreifen, sondern ebenfalls von einem gräulichen Braun.

Manchmal machen sie dumme Sachen. Beispielsweise steuert dann eines von ihnen zwischen die Schwimmkörper eines der Tretboote hinein, wo es ja nach vorneheraus keinen Ausweg gibt und ich frage mich, was es dort in dieser dunklen Sackgasse will. Bißchen aufdringlich auch, also sehr, dass dies kleine Geschwader während seiner Ausfahrten permanent Kontakt zueinander hält über Warnrufe, die sich für meine Sinnesorgane so anhören, als würde eine Radlaufglocke aus Glas betätigt (insofern es so etwas überhaupt gibt).

Es ist ein gefahrvolles Leben. Im Grunde genommen ist es ein Leben ohne Sinn, weil es, zumindest scheint mir das so, keine Pausen gibt. Das ist bei den Enten anders, die oft stundenlang schlafen; bei den Schwänen dito, weil die mir bei ihrem Umherfahren oft den Eindruck vermitteln können, sie täten das, um sich ihre Umgebung anzuschauen. Bei den Blässhühnern aber gibt es anscheinend ausschließlich Betriebsamkeit, ja geradezu Hektik. Wird das Nest nicht repariert, wird entweder gefickt, oder das Gefieder gerichtet, oder gegessen, oder erzogen. Wahrscheinlich liegt es daran, an deren Lebensführung, das mir die Blässhühner vor allen anderen Teichbewohnern so sympathisch sind.

Der Schwan, so schön und elegant er mir vorkommt, macht mir nicht den Anschein, als könnte er sich leer und verbraucht fühlen. Eventuell verspürt er instinktiv kurz vor dem Ende seines Lebens auch einen Impuls à la »Oh, okay that feeling – ich fahr mal besser dort rüber ins Schilf, denn meine ‚Pillen wirken bald‘«. Der Schwan kennt auch bloß den Anreiz seines Hungers und das Völlegefühl. Der Schwan weiß nicht, was ein Flugzeug ist, er nimmt lediglich bedrohliche Schatten aus dem Luftraum über sich wahr. Der Schwan kann nicht den größten Schatten aus dem Luftraum über sich in einer abstrakten Form, als Metapher auf sein Bauchgefühl übertragen, um sich selbst zu erklären, was mit ihm ist.

4.7.

Als ich nach Hause kam, war der Himmel sternenklar, so wie ich es zuletzt in Afrika erlebt hatte, und ich konnte, wie es in der Frankfurter Allgemeinen in der handgezeichneten Rubrik Der Sternenhimmel im Juli angekündigt worden war, jenes Sternbild der Schlange erkennen, das unter dem Großen Wagen sich zeigte wie ein Lächeln aus Tupfen. Der Große Wagen stand direkt über dem Dach meines Hauses.

Am nächsten Nachmittag ging ich wieder zum Easy Rider, um nachzusehen, aber dass die Räuber die Buddhastatue über Nacht klammheimlich (oder beklommen) zurückgebracht hätten, diese Annahme oder Hoffnung, die sich bei mir aus schweren Träumen ergeben hatte, bestätigte sich leider nicht. Der Wirt war dennoch guter Laune, da sich während des Deutschlandspiels bei ausbleibendem Regen sehr gute Umsätze hatten machen lassen. Zudem war wohl alles friedlich verlaufen. Er hatte mir etwas mitgebracht: eine Ausgabe der Illinois Staats=Zeitung, vom 16. Juni 1893, einer Tageszeitung in deutscher Sprache*, gesetzt in Frakturschrift (sieht aus wie die Neue Züricher vor dem Rebrush durch Mike Meiré, also auch komplett mit dem kuriosen Umbruch von Artikeln, die teilweise in Z- oder F-Form sich durch die Spalten sozusagen schlängeln), zu deren Existenz oder Vorhandensein er mir gar nicht mehr sagen konnte als »ist noch von Vattern im Keller«. Auf dem Titelblatt stand mit grünem Signalstift »Carlotta« geschrieben. Und er, der Wirt also, sagte, dass mir die Sprache gefallen müsste, man hätte ja damals, das würde ich lesenderweise entdecken, noch ganz anders geschrieben (im Sinne von erstaunlich und/oder gut).

Die Titelgeschichte dieser Tageszeitung bestand in einer Abhandlung über den Bergkristall (mit y und zwei l) von Wenzel Peiter. Daneben eine Anekdote, die komplett in bayrischem Dialekt aufgeschrieben war. Darunter stand eine Presseschau »Heiteres aus deutschen Zeitungen«, die mit einem Geviertelstrich begann: »Aus Schwetzingen berichtet das Brettener Wochenbl. Nr. 50: ‚Vor etwa 30 Jahren verlor eine hiesige Familie ein goldenes Ringchen. Dieser Tage ergab sich beim Spargelstechen, daß ein Spargel durch das langvermisste Ringchen gewachsen und (es, Anm. JB) dadurch wieder in den Besitz der Eigentümerin gelangt ist.‘ — Der Spargel! das war hübsch von ihm.«

* verlegt im 46. Jahrgang durch Balthasar Blatz, Brewing Co., Chicago, Tel. 4357. Verbunden mit dem Hinweis: »Die Illinois Staats=Zeitung ist in allen News-Stores der Stadt zu haben.«

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