»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

10.8.

In der fantastischen Dokumentation Kubrick’s Boxes geht es tatsächlich ausnahmslos um die Schachteln, in denen er seine Recherchen nach Filmprojekten geordnet archivieren ließ. In einer kurzen Einstellung war dann das Firmenschild der Kartonagenfabrik zu sehen, bei der er nach Jahrzehnten von bei Schreibwarenhändlern gekauften Schachteln seine eigene, die Kubrick-Schachtel herstellen ließ. Das Modell sah schon in dem Film derart gut aus – Stanley Kubrick hatte in einem maschinengeschriebenen Brief angeordnet, dass sich der Deckel leicht, aber nicht zu leicht, eben perfekt abheben lassen müsste –, dass ich den Firmennamen googelte, um dann auf deren Website zu gelangen: C. Ryder & Co. Ltd. ist auch heute noch »Königlicher Lieferant Ihrer Majestät« als »Specialist Box Makers«. Auf meine Anfrage hin erhalte ich nach einigen Stunden auch eine Antwort per E-Mail: Ja, man könne mir diese Schachteln nach Stanley Kubricks Maßgaben auch heute noch anfertigen und hierher nach Hause liefern. Es gibt aber, das zeigt die Website in der Rubrik Wire Stitched Boxes, ohnehin ein extrem gutes Angebot an Archivschachteln von der, sozusagen: Stange. Ich bin aber derart betört von dieser einstündigen Dokumentation über Schachteln, dass ich unbedingt die Original Kubrick-Schachteln haben will. Also bestelle ich mir für meine Zwecke zunächst mal zehn Stück.

9.8.

Nach einer nahezu schlaflos verbrachten Nacht entdeckte ich nach einem Waldspaziergang im Morgengrauen ein Büschel Immortellen, die dort aus einem Riss im Trottoir wuchsen. Das war direkt neben der Platane vor dem Anwesen des Abgesandten des Saudi Arabischen Königs, dessen Name nicht auf dem Klingelschild steht. Der König von Saudi Arabien heißt, das ist bekannt سلمان بن عبد  العزيز آل سعود. Der Abgesandte hält seit letzter Woche einen Schlittenhund in seinem Garten. Das kann man durch die Gitterstäbe des Zaunes gut sehen, weil der Husky, der noch ganz jung ist und dicke Pfoten hat, als trüge er Ugg Boots, immer gleich hinter dem Tor herumliegt. Dort steht seine Behausung, ein merkwürdig schlumpfpilzförmiges Gebilde aus violettem Samt. Der Schlittenhund des Saudi Arabischen Botschafters liegt neben diesem Pilzhaus, vermutlich ist es ihm auch so schon zu warm. Außerdem glaube ich zu wissen, dass es sich speziell bei Schlittenhunden um frenetische Rudeltiere handelt. Also kommt in seinem Fall noch ein Gefühl der Einsamkeit, oder noch schlimmer: Verlassenheit dazu. Würde ich mir, wenn ich in Riad stationiert würde, dort einen Schwan halten? Vermutlich nicht. Vor ein paar Wochen ließ sich der Abgesandte in seinem Vorgarten ein Gewächshaus aufstellen. Auch wieder direkt am Zaun, sodass ich den Vorgang der Bepflanzung bequem im Vorübergehen studieren konnte. Nach und nach wurden darin hinter klaren Scheiben die eigenartigsten, nämlich die allerunauffälligsten und unspektakulärsten Pflanzen aufgestellt. Bis auf den obligatorischen Feigenbaum, den sich jeder Gewächshausbesitzer hält, wirkten die allesamt wie einheimische Ruderalpflanzen auf mich. Vermutlich wirken die aber auf ihren Besitzer exotisch. Vergleichbar mit dem traurig tapsenden Hund mit seinen eisblauen Augenscheiben. (Raf Simons hat mir mal erzählt, dass er beim Entwerfen oft an Schlittenhunde denkt; und an Siamkatzen).

Ich trennte die Immortellen ab, kürzte die Stiele, entfernte die gefiederten Blätter und stellte die gelben Knopfblüten zu den Lavendelrispen in meine Vase ohne Wasser. Angeblich behalten die Immortellen ihr Sonnengelb für ewig. Homöopathen glauben zudem, dass man mit einem Öl aus den Blüten die Entstehung von Hämatomen verhindern kann.

8.8.

Der Sonnenuntergang gestern, nach einem an sich unauffälligen Tag: Über den gesamten Horizont verteilt hatten sich konfettihafte Grüppchen aus Wolkenpartikeln eingefunden. An der Kuppel über mir noch einige große weiße Wolken, deren Unterseiten sich an den Kanten bereits grau verschattet zeigten. Dahinter aufdringliches Blau. Über dem Waldsaum erschienen Reste des Sonnenlichtes wie glühend gemachtes Eisen (noch immer fallen mir bloß solche primitiven, un-elektronischen Vergleiche ein, obwohl ich schon ewig keinen Schmied mehr bei der Arbeit beobachtet habe, dafür aber Glasbläser, und das ist noch nicht so viele Jahre her). In dem Moment flogen alle noch verbliebenen Vögel los und steuerten in einem gemischt zusammengesetzten Schwarm in das letzte Licht der untergegangenen Sonne hinein. Das machen sie überall auf der Welt so. Warum – ich weiß es nicht. Der Himmel blieb noch lange hell. Der Mond ganz rechts außen im Bild: dünn gefeilt, elegant. Die großen Wolken zerrannen zu geometrischen Strukturen, die wie eine Kalligraphie vor dem allmählich vergrauenden Blau standen. Wie um es zu rahmen und es zu bewahren. Wie auf jenem Gemälde von Nicolas de Staël.

Es wurde bald feucht und zu kühl, um noch draußen zu sitzen. Sprachlos zu Bett.

7.8.

Das mit den Krähen hier nimmt, ich will nicht sagen: überhand, aber es nimmt eine gewisse Form an, die in manchen Situationen beängstigend wirkt. Als ich gestern nach Hause kam, saßen zwanzig oder noch mehr auf dem Rasen und gingen ihren Geschäften nach. Das wirkte schon herdenhaft. Weil sie so groß sind und ihr Schnabel so lang wie mein Zeigefinger, bloß aus hartem, wie eloxiert wirkenden Material, schaut allenfalls eine in meine Richtung, wenn ich vorübergehe. Gemächlich hüpfen sie einen Meter auf Abstand, aber deswegen gleich wegfliegen? Nö.

Meine Regenbekanntschaft hatte mir erklärt, dass es für solch große und auch dementsprechend schwere Vögel, auch Blässhühner zählen dazu, Enten, Schwäne und der Kormoran, ziemlich anstrengend ist, zu fliegen. Sie produzieren mit einem Flügelschlag einen Vorschub, in den sie sich dann sozusagen hineingleiten lassen. Die Flugbahn sieht von daher einer Wellenbewegung ähnlich: nach dem nächsten Flügelschlag geht es wieder etwas bergauf, dann gleitet der Flugkörper abwärts, dann wieder Flügelschlag und immer so fort.

Auf dem Boden spazieren die Krähen herum, so als sei das ihre bevorzugte Fortbewegungsmethode. Was sie aus dem Rasen picken, habe ich noch nie beobachten können. Vermutlich Würmer. Vielleicht aber hacken sie auch bloß Löcher hinein – aus Lust am Hacken. Neulich haben mehrere von ihnen eine mit Altglas gefüllte Tüte aus der Müllhütte hervorgezerrt und mehrere Meter abseits transportiert, dort alle Flaschen herausgezogen und herumgeworfen. Als ich dazustieß, war eine von ihnen damit beschäftigt, den Verschluss eines ausgekratzten Nutellaglases aufzumeißeln. Sie wollte davon auch kaum ablassen, als ich mich daran machte die Flaschen einzusammeln. Es muss also so sein, dass Krähen einen entwickelten Geruchssinn besitzen – wie könnte sie sonst wissen, dass sich nahrhafte Substanzen im Inneren des Schraubglases befinden? Aus Erfahrung? War das vielleicht nicht das erste Nutellaglas, das sie in ihrem Leben geschaut hatte? Und wenn dem so war: Erkannte sie dieses Glas an seiner charakteristischen Nutellaglasform? Am Etikett? Gar am Schriftzug auf dem Etikett?

Joggingschuhe sollte man besser auch nicht mehr vor der Wohnungstür deponieren. Die tragen sie bevorzugt im Morgengrauen weg und schleudern sie irgendwohin: ins Gebüsch. Verlässt man das Haus, ist es anzuraten, die Balkontüren zu schließen. Kürzlich äugte eine bereits um die Ecke herein, erblickte mich auf dem Sofa und spazierte dann mit Unschuldsmiene weiter. Fehlte bloß noch, dass sie ein Lied gepfiffen hätte. Sie wollte definitiv hereinspazieren. Wahrscheinlich roch es gut.

Soviel weiß ich mittlerweile schon über ihre Lebensgewohnheiten: Sie machen Pause von 8 Uhr 30 bis 14 Uhr. Was sie dann machen, entzieht sich meiner Beobachtung, vermutlich schlafen. Aber nach 14 Uhr kommen sie wie gerufen auf den Boden zurück.

6.8.

Beim Vorbeigehen schaute ich bei der Gemüsehändlerin die neu eingetroffenen Kohlrabi, und ich sagte: »Die Blätter können Sie behalten, weil ich (leider) keine Hasen hab«.

Sie aber schon, weil ihr Mann neulich ein heimatloses Karnickelweibchen im Park gefunden hatte, das sie seitdem bei sich aufziehen (ich bin halb neidisch). Sie nahm die Kohlrabiblätter beseite, die um diese Jahreszeit so süß, so würzig sind. Dazu kaufte ich ihr noch ein paar große Karotten ab (und sie nahm deren Kraut stillschweigend beiseite) und Kartoffeln. Dann plauderten wir noch ein bisschen über die dämlichen Wahlplakate (»Standpunkt Standhaft Stephan Standfuß: CDU«, »Fahrscheinlos ins Parlament: Die Piraten«, »Fortschritts Beschleuniger: FDP«, »Dein Sex Dein Gott Dein Ding: Die Grünen«) und ich verfügte mich in die Küche, um mein liebstes Saisongericht zuzubereiten: Kohlrabigemüse und Pommes Macaire.

Für zwei Personen nehme ich sechs Kartoffeln. Die sollten nicht zu klein sein, also jeweils gerade so groß, dass sie, längswärts gegriffen, in der Hand so viel Platz beanspruchen, dass Daumen und Fingerspitzen nicht mehr zueinander finden können. Sie (die Kartoffeln) kommen auf ein Gitter in den Backofen bei 180 Grad. Und das so lange, bis ich rieche, dass sie gar sind. Wer seiner Nase nicht trauen mag: Das dauert in etwa eine Stunde. Dann knistert die Kartoffelhaut bei Berührung, und sie dürfen heraus und werden auf ein Handtuch gelegt.

Während sie dort etwas abkühlen, schäle ich eine Kohlrabiknolle, die in etwa die Größe eines Karnickelkopfes haben sollte. In dünne Scheiben schneiden, und diese Scheiben wiederum in schmale Streifen. In meiner Heimat nennt man diesen Zerschneidevorgang Stifteln und genau so sollte das Ergebnis auch ausschauen: wie kurze Stifte. Dasselbe mache ich mit den Karotten. In einem schweren Topf, am besten in einem aus Eisen, erhitze ich reichlich Olivenöl, lege eine waagerecht mitsamt ihrer Schalen halbierte Knolle Knoblauch hinein (auf die Schnittflächen), streue zwei bis drei kleinteilig zerschnittene Schalotten hinzu und lasse die so lange darin, bis es duftet. Dann kommen die Stifte hinzu. Den Abrieb einer ganzen Zitrone darüber und wenig später ihren Saft. Salzen, Pfeffern, brauner Zucker (zwei Prisen). Nach einer Weile bedecke ich das Gemüse noch mit einem sehr guten Currypulver, am besten Thai-Curry, und zerreibe zwei Peperoncinischoten. Gut durchrühren, Hitze etwas runterdrehen und dann den Deckel drauf.

Derweil sind die Kartoffeln so weit abgekühlt, dass ich sie anfassen kann. Sie werden jetzt halbiert, und mit einem Löffel schabe ich ihr Innenleben aus der Schale in eine Schüssel. Das kann man sich gut merken: von der Schale in die Schüssel. Das wird mit zwei Eigelben, Pfeffer, reichlich Salz (Kartoffeln brauchen extrem viel Salz!) und einem kartoffelgroßen Stück Butter vermischt (mit einer Gabel). Es entsteht eine Art Kartoffelbrei, den ich zusätzlich noch mit Frühlingszwiebelgrün vermische, das ich hierfür in feine Ringe geschnitten habe. Es geht aber auch Schnittlauch. Und es geht (sollte es sein müssen) auch Speck, auch Salami oder Schinken, Käse et cetera. Ist der Kartoffelteig mit der Gabel gut durchgearbeitet, kommt er auf ein nasses Küchenbrett, wird zu einer Wurst gerollt und mit dem Messer schneide ich von der Wurst gut Fingerdicke Taler ab. Die werden etwas platt gedrückt und in einer Pfanne im Fett meiner Wahl gebraten. Butter geht, Olivenöl geht besser. Eine Mischung aus Butter und Olivenöl ist meinem Geschmack nach perfekt. Die Taler einmal wenden. Wenn sie beidseitig braun und knusprig scheinen, sind sie fertig und können raus. Währenddessen gebe ich einen ganzen Becher Crème Fraîche an die Kohlrabi-Karotten-Mischung. Beides zusammen, die Kartoffeltaler und das Gemüse, schmeckt um diese Jahreszeit genial. Man kann es aber auch im Winter zubereiten. Es schmeckt eigentlich immer gleich gut.

5.8.

Mit dem Regenrauschen eingeschlafen und mit dem Regenrauschen aufgewacht. Es hat sich kaum abgekühlt, die Fenster stehen offen und von mir aus kann es auch weiterhin solche Sommer geben, die wie Regenzeiten in anderen Breiten sind. Freilich hätte ich dann gerne auch darauffolgende Winter, die trocken sind, bei 12 bis 14 Grad.

Ich versuche mir vorzustellen, wie all dies vor meinem Fenster bald ausschauen wird – es ist ja durchwegs alles mit Laubbäumen bestanden bis hinüber ans andere Ufer. Erst bunt, dann nackt. Zwar heißt es licht, aber das wird dann vom Schrumpfen der Tageslichtphasen gemindert. Und quelqu’un ma dit que der See vor vier Jahren ein paar Tage lang zugefroren war, sodass man darauf gehen konnte. Vor vier Jahren war ich um jene Zeit auf dem Weg nach New York gewesen, um dort Weihnachten zu feiern. Wurde aber leider am Flughafen von Addis Abeba festgehalten, eines kleinen Visavergehens wegen, das ich unterschätzt hatte. Nun stand ich am 22. Dezember kurz vor Mitternacht ohne Pass da. Der Beamte in der Deutschen Botschaft meinte am Telefon zwar, dass das illegal sei, da mein Pass das Eigentum der Bundesrepublik Deutschland sei, aber dieser Einwand brachte leider nichts. Am Heiligabend stand ich dann mit meinem Reisefreund Richard vor Gericht. Das war in einem Pepsi-Zelt, es war heiß und dunkel und der Richter trug einen Umhang aus ungebügeltem Satin wie in einem Harry-Potter-Film. Ich sollte mich auf Amharisch verteidigen, die Verhandlung wurde auf Amharisch geführt. Richter heißt Fürtebet, aber ich verwechselte in der Folge zwei Worte, die ziemlich ähnlich klangen und alle Zuschauer lachten sich scheps über uns. Dann zahlten wir eine hohe Strafe in bar und das in US-Dollar, die wir illegal kaufen mussten, standen einen ganzen Tag vor dem Einwanderungsministerium an, daneben die schrottige Säule mit dem Sowjetstern oben drauf, und bekamen dann schließlich unsere Pässe wieder.

An Silvester traf ich über Umwege an der Upper Westside ein. Die Party in einer großen Wohnung mit Ausblick auf den Broadway könnte ich heute noch minutiös nacherzählen. Seltsamerweise. Am nächsten Morgen ging ich Bagel kaufen. Die Trottoirs kamen mir so sauber vor. Feuerwerk war ja damals schon verboten, aber es fehlte halt auch der Staub und die Tiere, die ich aus Addis Abeba gewohnt war. Ich weiß noch, das ich das Innenleben eines öffentlichen Mülleimers fotografiert habe, weil da lauter Klarsichtverpackungen von Salaten drin lagen und Klarsichtbecher von Säften und verschiedenfarbige Strohhalme. Das schien mir alles so heiter und ungewohnt shiny und eigentlich schien es mir in dem Augenblick und in der Verfassung, in der ich mich befand: wie Kunst. Und dann wurde es hell, es war der erste Januar 2013 in Manhattan: dieser Himmel, dieses Licht!

4.8.

Zauberhafteste Himmelssituation des bisherigen Jahres heute früh, direkt über meinem Balkon um 07 Uhr 07: ein zartes Blau, davor ein paar gelockte Spuren Wolkendunst, eingerahmt von einem Feld dicker Flocken. Darüber ein Kreuz aus bereits verwehten, circa jeweils 500 Metern breiten Kondenstreifen, die ins Unendliche weisen. Ein Flugzeug, klein und silbern zieht einen präzisen Strich wie mit Lackmarker mitten hindurch. Kaum zwei Minuten später ist alles von einer herangewehten Schicht hell- und dunkelgrau melierter Wolkenballen verdeckt wie von einem Schleier, aus dem sich längliche Formen bilden. Eine davon gegliedert wie ein Zeigefinger, sodass die benachbarten Formen wie abgebrochen wirken auf mich. Dann ändert sich das Licht und die Krone des gegenüberstehenden Baumes, einer Eiche, wird wie von einem Scheinwerfer angestrahlt.

Enten pflasterten seinen Steg.

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