»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

3.8.

Wenn ich am Vorabend eine Stunde auf dem See unterwegs war, wache ich in dem Gefühl auf, dass sich die Wellen bewegen – in mir, durch mich hindurch. Sanft, so als läge ich auf einem Wasserbett. Verstandesmäßig ausschalten oder unterdrücken läßt es sich nicht. Und das Gefühl scheint sich während meines Schlafens zu formieren. Es kommt dann über den Tag immer mal wieder. Wenn ich eine Weile lang still sitze oder liege. Scheint das Gehirn ziemlich zu irritieren aufgrund seiner Außergewöhnlichkeit.

In der Zeitung las ich von einem seltenen Vogel, der hierzulande überwintert, obwohl er sich das eigentlich aufgrund seiner Bauweise und Lebensart gar nicht leisten kann. Er ist sehr klein, seine Eier wiegen jeweils nur ein Gramm. Sie sind rostrot gesprenkelt (wozu die Sprenkelung dient, stand in dem Text leider nicht. Will ich aber unbedingt herausfinden; also generell: Wozu sind die Sprenkel auf Vogeleiern gut?). Damit die zierlichen Baumläufer nicht erfrieren, drängen sie sich im geplusterten Zustand mit anderen in ihren Behausungen aneinander und bilden sogenannte Schlafrosetten. Obwohl ich das Wort Rosette ansonsten nicht mag, fand ich die Idee einer Schlafrosette wunderschön. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sich das Geplustertsein für den Vogel selbst genauso schön anfühlt oder auch nur annähernd so, wie sich ein geplusterter Kleinvogel von außen. Ich sehe ja den ganzen Tag Federn herumliegen: das spitze Ende ist im Verhältnis zum flauschigen Teil immer recht lang. Und das steckt ja hundertfach im Vogel drin. Wie eine eiserne Jungfrau, so stelle ich mir das Innenleben der Vögel im Querschnitt vor.

2.8.

Auf halber Strecke in Richtung Alexanderplatz kam eine Frau mit goldenem Retriever in den Waggon, der Hund streckte sich auf dem Boden aus wie vor dem Kamin in einer Filmdekoration und sie blieb gleich bei der Tür stehen, in eine Nische gelehnt, und telefonierte, während sie aus dem schmalen Fenster sah. Zumindest dachte ich das. Sie trug ihr Haar lang über ihre Ohren hängend, und sie sprach ziemlich laut wie viele, die über Ohrhörer telefonieren. Dann wurde das Gespräch, das ich und alle Umstehenden zwangsläufig mithörten, zunehmend abstruser. Sie fing an, ihren Gesprächspartner hart zu beschimpfen. Es ging, das machte sie klar, um eine Spionageaffäre. Bei diesem Reizwort sah ich offen hin. Ich würde ohnehin bei der nächsten Haltestelle aussteigen müssen. Sie hatte überhaupt kein Telefon. Wir stiegen zusammen aus. Ich ging eine Weile noch neben ihr her über den Bahnsteig. Ihr Gespräch war offenbar zu Ende. Der Hund sah dem Ausgang des Bahnhofsgebäudes entgegen.

Seltsam, dass niemand sie darauf angesprochen hatte, dass sie zu laut telefonierte, was bei regulär Telefonierenden ja schon öfter mal vorkommt. Mich hätte auch interessiert, weshalb sie das Telefongespräch imitiert, sobald sie einen mit Menschen gefüllten Waggon betritt. Habe mich aber nicht getraut, sie anzusprechen. In meinem Viertel gibt es einen ganz in Blütenweiß gekleideten Mann, der spaziert nicht, sondern geht mit schnellen Schritten durch die Gegend; er hält nie an, jedenfalls habe ich das noch nie gesehen. Er trägt weiße Kopfhörer mit goldenen Verzierungen, die sind über ein weißes Kabel mit einem weißen Lautsprecherkasten verbunden, der an seinem weißen Gürtel befestigt ist. Auf diesem Kasten, der größer ist als einst der Sony Walkman, blinken im Takt der Musik bunte Leuchtelemente in verschiedenen Formen (Blume, Diamant et cetera). Die Musik ist ziemlich laut. Wenn er vorübergeht, wird das von manchen hier als Belästigung empfunden. Vielleicht sogar als Bedrohung. Wahrscheinlich auch deswegen, weil er immer so undurchdringlich zu lächeln scheint. Und weil er es dabei vermeidet, einen direkt anzusehen. Mich würde interessieren, was er in seinen Kopfhörern hört: ob da ein Band läuft oder eine Datei, die ihm etwas ganz anderes in die Kopfhörer spielt als die Lautsprechermusik – Vogelstimmen oder Straßengeräusche.

Neulich, da war er gerade unten vorübergezogen, fiel mein Blick auf eine Frau mit langem weißen Haar, die mir in einiger Entfernung schräg gegenüber saß. Sie löffelte ein Eis. Und zwar mit Begeisterung. Ich sah, wie sie nach der Quetschflasche mit dem Ketchup griff, die für die Burger-Esser bereit steht, und wie sie eine nicht kleine Menge davon in ihren Eisbecher spritzte. Ich habe sie nicht gewarnt, wollte aber auch nicht wissen, wie das schmeckt. Ich konnte auch nicht mehr wegsehen. Auch dann nicht, als sie zum zweiten Mal nach der Flasche griff, um den Becher damit aufzufüllen. Sie löffelte sehr schnell.

1.8.

AUGUSF
(August mit einem halbierten Telegraphenmast)

Was Du willst
Was Du wünschst
Ist anderen sehr
Oft egal
Manchmal bedeutend
Wie Heidegger erklärte
In seinem Opus Fidibus
Einsam ist
Die Leserin
Zuhanden
Wie der
Griff an einer Tür
Erst da
Für Dich (und mich)
Für uns
In dem Augenblick da, da
Wir
Danach gegriffen, ohne hinzuschauen
In den letzten Tagen
Habe ich so
Viele Türenmetaphern
Gehört, Gelesen, Recherchiert
Ich warte
Bald
Dass eine Person
Zu einer anderen Person
Nach den Tellerfotografien
Sagt: »Mh —«
Schmeckt wie eine Tür

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