»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

3.10.

Der sogenannte Einzug des Tiefdruckgebietes brachte für mich die gewohnten Probleme: Schon beim Augenaufschlagen verspürte ich ein Schwindelgefühl. Und das wurde logischerweise auch nicht schwächer dadurch, dass ich mich in die Vertikale erhob. Ich blieb liegen, bis es wieder dunkel geworden war (also bis 20 Uhr). Ich hasse das Krankenhaus. Zwar kenne ich sie nicht alle, aber ich nehme mal an, dass ich Krankenhäuser an sich hasse, also die Erfindung und die Institution, und dort nie wieder hin will, aber allein zu Hause, ohne andere Patienten, ohne Krankenhauskost und Krankenhausbettwäsche ist es nicht schlimm. Vor allem ist es sicher! Vor dem Wochenende hatte mir mein Vater eine einerseits unglaubliche, andererseits wiederum eine mich in all meinen Krankenhausphobien nur noch bestätigende Geschichte erzählt, die mich, im Gegensatz zu den meisten seiner von ihm sogenannten Geschichten, auch wirklich interessieren tat, da sie ausnahmsweise von ihm handelte: Und zwar war mein Vater im Februar ins Krankenhaus eingeliefert worden nach einem leichten Schlaganfall. Kaum wieder zuhause, musste er schon wieder dorthin zurück. Dieses Mal war es sein Herz, das ihm Probleme machte. Er wurde untersucht, in eine Narkose versetzt, mit Elektroschocks behandelt, um das Herz wieder zurück in den Rhythmus einer gesunde Gangart zu versetzen. Ein paar Wochen später, ich glaube, es waren derer maximal drei, wurde er wieder eingeliefert, weil die Herzrhythmustörungen erneut aufgetreten waren. Es erfolgte eine erneute Untersuchung, wieder die Narkose, wieder die Elektroschocks und dann ein paar Tage stationären Aufenthaltes zur Beobachtung. Schließlich durfte er wieder nach Haus.

Und so ging es die nächsten Monate weiter. Auf ein paar Wochen daheim folgte eine Woche Krankenhaus. Bei jedem Mal ohne Befund, die Erkrankung schien rätselhaft. Meine arme Mutter war natürlich bereits gedanklich mit ihrem Dasein als Witwe nach 47 Jahren Ehe beschäftigt. Auch wenn sie, ebenso natürlich, mit mir darüber nicht sprach. Aber ein Sohn fühlt ja, was die Mutter beschäftigt. Dann mussten aus den Gründen des jederzeit möglichen Herztodes meines Vaters auch noch zwei bereits gebuchte und bezahlte Ferienreisen abgesagt werden. Und das, wo speziell meine Eltern in Arbeitnehmerzeiten beide ihre sämtlichen Möglichkeiten zur Vergnügung auf die Zeit ihrer Rente, wo es möglich und auch akzeptiert war (von Gott und Gesellschaft), projektiert hatten. Sie fürchten nichts so sehr wie Ungewissheit. Das habe ich möglicherweise von ihnen, wenn auch nicht in dem Maß.

Und jetzt stellt sich bei einem erneuten Aufenthalt im House of Horrors, es war der siebte oder achte insgesamt seit Februar, heraus, dass es sich bei dieser ominösen Herzkrankheit meines Vaters in Wahrheit um eine verschleppte und nicht diagnostizierte Rippenfellentzündung handelte, die diese Herzrhythmusstörungen ausgelöst hatte. Und diese Entzündung, so jetzt der von den Ärzten fairerweise geäußerte Verdacht, hatte sich mein Vater bei seinem ersten Aufenthalt dort in jenem Krankenhaus eingefangen; also den sogenannten Krankenhauskeim.

Jetzt, nachdem er dort eine Woche lang stationär behandelt wurde, geht es ihm wieder bestens. Er kann sogar telefonieren und erzählt, wie früher, seine interessanten Geschichten. Leider.

Aber freilich auch Gottseidank! Das Urlaubsbudget für dieses Jahr ist zwar aufgebraucht (und unter Schwaben gesprochen: verplempert!!! worden), aber sie planen bereits die Fahrten für 2017. Es besteht also wieder Hoffnung. Meiner Erfahrung nach stirbt die ja immer zuerst.

2.10.

Nebel und Regen, ein Versuch, aus den massenhaft im Vorgarten herumliegenden Bucheckern Popcorn zu machen, lieferte kein befriedigendes Ergebnis. Zwar wird die dreikantige Schale des Gehäuses knusprig, aber sie springt nicht auf (obwohl die Bucheckern unter dem Deckel des erhitzten Topfes herumspringen wie Maiskörner). Beim Draufbeißen findet sich darin allerdings nichts mehr außer warmer Luft. Offenbar verdampft der Kern durch die Prozedur – schnöde.

The Joy of Haushalt. Weil Eric verreist ist, um sein Examen als Minentaucher abzulegen (jedenfalls verstehe ich den Inhalt seiner SMS in diese Richtung weisend), griff ich selbst zu den Putzmitteln und saugte und wischte den Nachmittag über, was mir, wohl auch, weil es vor den Fenstern so ungemütlich zuging, weitaus mehr Spaß machte als gedacht. Endlich weiß ich, woher der appetitliche Duft kommt, den die Behausung nach Erics Besuchen verströmte: Er benutzt eine Bodenpflege mit Lavendelgeruch!

Beim Einkaufen fiel mir vor dem Supermarkt ein Plakatmotiv auf, darauf waren zwei kuschelnde Männer in einem Bett abgebildet. Mehr an Information ging, bis auf ein eiscremehaftes Logo, nicht daraus hervor, also notierte ich mir den Markennamen. Enttäuschenderweise stellte ich zuhause dann fest, dass es sich um einen Versandhandel für sogenannte Toys (fürs Liebesspiel) handelte. Enttäuschend auch vor allem deswegen, weil es in deren Shop nichts, aber auch gar nichts Neuartiges zu bestellen gibt.

»Die Tatsache, dass schon heute sehr viele Männer und nicht wenige Frauen ins World Wide Web gehen, um stimulierende Bilder anzuschauen, zu flirten, eigene Fotos oder Filmaufnahmen hineinzugeben, mit einem Chatpartner sich zu erregen, vor einer Webcam sexuelle Handlungen zu vollführen, einen Gelegenheits- oder maßgeschneiderten Dauerpartner zu suchen usw., wird unser Liebes-, Geschlechts- und Sexualleben in einem Maß verändern, das wir uns noch gar nicht ausmalen können. VR und RL, das heißt Virtual Reality und Real Life, werden sich zunehmend verflechten. Die neuen e-Apparate gesellen sich zu jenen Objekten, die massenhaft erotisch besetzt werden – im Sinne der für unsere Warenwelt charakteristischen Objektophilie«, schrieb Volkmar Sigusch im 99. Fragment seiner kritischen Theorie Sexualitäten. Allerdings sind auf jener Site ausschließlich mechanische und elektromechanische Liebesspielzeuge bestellbar. Ein Ei, das mit »kalter Flüssigkeit gefüllt«, übergestülpt werden kann. Ein Auflagevibrator. Diverse Dildos. Dilden? Jedenfalls alles geradezu bastelhaft real. Virtuell scheint dabei lediglich die Phantasie über die Qualität des somit erreichten Orgasmus. Tatsächlich sind diese Passagen in den Paarinterviews einigermaßen sehenswert (könnten freilich noch überraschender gescriptet werden, denn mittlerweile holen ja sogar die Berliner Verkehrsbetriebe in dieser Hinsicht rasend schnell auf).

Beworben werden die nach Paarkonstellationen zusammengestellten Pakete nämlich mit Testimonials, in denen Paare aus dem sogenannten Real Life in ihren noch warmen Betten lagernd, über die angeblich soeben gemachten Erfahrungen mit den Geräten berichten. Ziemlich peinlich das Ganze, könnte direkt vom Familienministerium produziert worden sein. Es gibt drei Frau-Mann-Paare und eines aus Mann-Mann. Frau-Frau kommt nicht vor. Implizit lautet die Aussage: Sexuelle Geschicklichkeit ist dem geheimen Wissen der Frauen inhärent. Treffen zwei dieser naturbegabten, direkt von der Sexgöttin inspirierten Wesen aufeinander, braucht es keiner zusätzlichen Technologie. Dann ist das die Technologie, die zu sich selbst kommt. Dementsprechend primitiv und so gesehen halbfertig stellen sich die Männer in den Testimonials dar: Der nicht glatzköpfige Liebespartnerdarsteller aus der Mann-Mann-Konstellation kichert beim Aussprechen des in seinem Paket enthaltenen Gerät namens »Eichelschmeichler«, woraufhin der glatzköpfige Eicheldarsteller ihn anweist, ihm eben damit »mal einen zu schmeicheln, Du«. Wer denkt sich so etwas aus? Das Impressum gibt leider nicht sehr viel her. Unter den traditionellen Frau-Mann-Konstellationen gibt es allerdings eine wahrscheinlich unfreiwillig komisch gecastete: Da hat der glatzköpfige Mann einen sechs Meter langen Rauschebart von lockiger Konsistenz, die sich zum Verwechseln ähnlich auf dem Kopf seiner Liebespartnerdarstellerin sozusagen fortpflanzt. Ältere Zuschauer werden sich unwillkürlich an eine Szene aus Bernd Eichingers Das Boot erinnert fühlen, wo sich bei der Filzlauskontrolle zwei Matrosen gegenseitig damit necken, dass sie sich die Haare am Arsch des einen mit denen in der Nase des anderen zu Zöpfchen verflechten könnten.

1.10.

Im Gebiet des nördlichen Amazonas leben diverse Schmetterlingsarten in Symbiose mit der Schienenschildkröte (podocnemis unifilis). Der Fluss hat sich auf diesem Abschnitt an der Grenze zu Peru bereits derart weit von den Einströmungen des Pazifik entfernt, dass seine Wasser kein Natrium mehr enthalten. Die fleischfressenden Tiere nehmen die lebenswichtigen Salze durch ihre Nahrung auf. Die Schmetterlinge behelfen sich mit einem Trick: Als gleichwarme Tiere streben die Schildkröten nach Sonnenplätzen. In der Regenzeit von November bis Mai wachsen die Ufer zu, sodass einzelne, daraus hervorragende Wurzeln, Totholz und Steine zu unter den Schildkröten begehrten Aufenthaltsorten werden. In den Regenpausen sind regelrechte Rangeleien unter den Amphibien zu beobachten. Ist die Liegeplatzordnung erst ausgefochten, kommen die Schmetterlinge und lassen sich auf den Hälsen und Köpfen der sich sonnenden Schildkröten nieder. Ihre auf- und zuklappenden, fächelnden Flügelhälften wirken wie der Schildkrötenhaut aufgesetzte, bunt geschminkte Lider. Die Schmetterlinge sammeln die Tränen aus den Schildkrötenaugen; die Schildkröten sind aber nicht traurig, die Tränen werden gebildet, um die Reptilienaugen vor dem Austrocknen zu schützen. Die Schmetterlinge wiederum trinken diese Tränen nicht. Es handelt sich ausschließlich um männliche Exemplare, die ihre erbeuteten Schildkrötentränen so lange bei sich führen, bis deren flüssiger Anteil verdampft ist. Die verbleibenden Spuren aus Salzen werden zu kleinen Kugeln gerollt. Das Schmetterlingsmännchen übergibt solche Kugeln aus Schildkrötentränensediment an sein Weibchen, um mit der Übergabe dieses Geschenkes den Paarungsprozess einzuleiten. Durch die Versorgung mit dem aus Schildkrötentränen gewonnenen Natrium sorgt es zugleich für eine ausgewogene Ernährung des Partners.

Bei Sonnenaufgang, derzeit 6 Uhr 30, machen die Vögel vor dem Hintergrund des rauschenden Stromes der Autobahn amazonashafte Geräusche. Langgezogenes Zwirbeln, Duo-Piepser setzen Häkchen dahinter. Als hüpfende Kleckse beackern Amseln den Rasen und verschwinden mit langen Sprüngen in den bergenden Schatten des Gebüschs. Am Nachthimmel gibt es im Oktober den seltenen Stern namens Formalhaut zu sehen. Laut Herrn Marx, der es gestern in seiner monatlichen Kolumne in der Zeitung angekündigt hat, befindet er sich im »unscheinbaren Sternbild des Südlichen Fisches, das jedoch durch ihn heraussticht (…) Außerdem gehört der weiß leuchtende Stern mit einer Entfernung von 20 Lichtjahren zu den leuchtkräftigsten Nachbarsternen unserer Sonne, die er um etwa das Fünfzigfache an Helligkeit übertrifft«.

​Die zu Recht gefürchtete Phase des Mercury in Retrograde ist nun endlich vorüber. Die noch verbliebenen Haushaltsgeräte verrichten klaglos ihre Arbeit, Pakete und andere Postsendungen werden ordnungsgemäß zugestellt. »Merkur kann zu Beginn des Monats in der Morgendämmerung tief am östlichen Horizont erspäht werden. Besitzer eines Fernglases oder kleinen Fernrohres (✔️) können am 11. Oktober frühmorgens gegen sieben Uhr die enge Begegnung mit Jupiter verfolgen, wobei der Merkur nördlich an dem wesentlich helleren Riesenplaneten vorbeizieht.«

Ich bin gespannt. Mit dem Frühaufstehen habe ich kein Problem.

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