»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

10.10.

»Seife — it’s my wife and it’s my life.« Eine schöne Zeile, beinahe schon ein Gedicht, wie ich finde. Es steht in meinem Notizbuch, dessen letzte Seiten ich durchblätterte, um mich an der Ausbeute meiner Erimitage zu weiden. Aber, oh Wunder Wunder: Damit hatte es sich auch schon. Bisschen mager, fand ich auch. Vor allem hatte ich es komplett anders in Erinnerung. In Erinnerung hatte ich die Tage und Nächte dort auf dem ländlichen Gebiet der ehemaligen DDR als von extremer Produktivität durchflutet behalten. Aber all I got was this silly T-Shirt. Na gut. Wird schon zu irgendwas nützlich sein. Irgendwann. Könnte sein, dass mir die allzu ländliche Abgeschiedenheit, vor allem die absolute Stille und der balladenhafte Zauber des Nichtgeschehens dort halt doch nicht so gut getan haben wie gedacht. Bei Milchkühen wiederum, das haben haben Forscher an der australischen Universität zu Leicester in diesem Sommer publiziert, verhält es sich genau andersherum. Zwei Kuhsamples gleicher Stärke wurden jeweils mit unterschiedliche Zentren aktivierender Musik bespielt. Die Gruppe, die Everybody Hurts von REM, What a Difference a Day makes von Aretha Franklin und Perfect Day von Lou Reed zu lauschen bekam, gab deutlich mehr Milch von sich, als die Gesamtheit aller Kühe aus der anderen Gruppe, die kollektiv mit dem Space Cowboy von Jamiroquai, Horny von Mousse T und Size of a Cow (hihi) von Wonderstuff beschallt wurde. Tja, Milch ist halt keine Lymphflüssigkeit, sondern scheint, dem sogenannten Herzblut eines Dichters vergleichbar, erst dann im Überfluß zu strömen, wenn es der Milchkuh gut bis bestens geht. Ganz entzückend, diese Vorstellung, wie die Kühe da in ihrem Stall stehen und sottovoce muhen, wenn Michael Stipe singt (Abb. Emoji »Eyes Full of Love«).

9.10.

Die elektrische Geladenheit des innerstädtischen Lebens, der Buzz, von Diane Charlemagne besungen, aber halt auch und mir noch lieber von Petula Clark, und von Epic Soundtracks, haut nach ein paar Tagen und Nächten extremen Landlebens freilich noch einmal ganz anders rein, beinahe schon so wie beim ersten Mal, wenn man, wie ich selbst, eigentlich vom Land kommt und für den Buzz dementsprechend empfänglich geblieben ist, weil man nicht allmählich ins Stadtleben in seiner Alltäglichkeit hineingewachsen ist, sondern blitzartig an irgendeinem Tag in früher Kindheit davon getroffen wurde. Das funktioniert ja auch andersherum: Stadtmenschen berichten dann von einem Naturflash, wenn sie nach Jahren zum ersten Mal auf eine Wiese in der Uckermark sich abgeworfen fühlen wie ein Carepaket, und rings um sie herum ist nichts mehr, was sie an den Buzz erinnert, noch nicht einmal mehr Hochspannungsleitungen oder Asphaltiertes – auch dieser Landissimo-Effekt ist besungen worden. In Naturträne von Nina Hagen.

Um mich zu akklimatisieren, war ich aus der S1 Unter den Linden ausgestiegen, um vor dem Niveahaus maulwurfshaft eine Weile vor mich hinzublinzeln. Das Niveahaus ist ein guter Ort, um sich zu akklimatisieren: vertraute Düfte, ein tröstendes Blau und der Schriftzug, mit dem ich ausschließlich angenehme Erinnerungen verbinde. Aktuell gibt es dort eine Aktion, für die Kunden sich an einem Stand im Niveahaus fotografieren lassen können, idealerweise zu zweit, denn die Botschaft aus dem Hause Beiersdorf lautet: sich gegenseitig öfter mal eincremen. »Hautpflege als Herzensangelegenheit«. Noch schöner ist die Kampagne in Frankreich, da lautet der Slogan schlicht »Le Soin«. In die Fotos wird dann die klassische Wortmarke der Creme montiert und die Fotografierten können eine mit ihrem Foto auf dem Deckel bedruckte Dose mit nach Hause nehmen. Das Customizing kostet inklusive Creme 4 Euro 90.

Gibt es auf dem Land alles nicht. Da gibt’s noch nicht einmal richtige Supermärkte, geschweige denn ein Niveahaus. Aber Selfies natürlich. Doch anderswo produzierte Bilddateien darf man nicht einschicken und per Mailauftrag auf die Dosen drucken lassen. Wahrscheinlich fürchtet man sich im Niveahaus zurecht vor Nacktbildern, Snaps et cetera.

Mit meinem leichten Gepäck, da halte ich es stets mit Astrud Gilberto, spazierte ich dann noch ein paar Meter den Boulevard hinauf, um am Potsdamer Platz meine Heimfahrt fortsetzen zu können. Geriet aber unvorhergeseherweise vor dem Brandenburger Tor in eine Demonstration der Deutschen Kommunistischen Partei. Ich wusste gar nicht, dass die noch existiert. Ich hatte geglaubt, die sei schon längst von der Linken absorbiert worden. Aber na gut, ich hatte ja auch geglaubt, dass es Frauen verboten war, sich zur Bundespräsidentin wählen zu lassen, bloß weil die antiquierte Sprache des Gesetzestextes mich das glaubend gemacht hatte. Und der Fall Gesine Schwan. Jedenfalls (ist der Kopf dicker als der Hals, wie meine Mutter zu solchen Gelegenheiten zu sagen pflegte) trottete eher denn marschierte ein Fähnlein alt gewordener Wackersdorfveteranen auf die US-Botschaft zu. Es waren Frauen und Männer im Verhältnis fifty-fifty, es gab Spruchtafeln, die mit grünem Edding auf gelber Pappe beschriftet waren, in einer Handschrift, die einen akkuraten Eindruck auf mich machte, aber auch etwas Zittriges hatte: »Schutz vor Terroranschlägen: Andere Völker in Frieden leben lassen und Rohstoffe fair handeln«, stand da auf einem. Zwei jüngere Männer schwangen Fahnen mit der weißen Taube auf blauem Grund. Eine Fahne, die ich gerne mag. Dazu schrie aber einer mit deutlich dickerem Kopf als Hals in ein Megafon. Die Leute kamen also nicht in rein friedlicher Absicht, so die Message. Es wird ja rätselhafterweise immer unverständlicher als ohne, wenn erst einer durch ein Megafon spricht oder brüllt. Der angebliche Stimmverstärker ist seines hypertrophen Brandings zum Trotz eine krasse Fehlentwicklung wie das Festnetztelefon Gigaset, trotzdem finden beide Geräte noch immer treue Anhänger. Warum noch niemand etwas besseres als die batteriebetriebene Flüstertüte erfunden hat? Vermutlich ist die Nachfrage auf dem Sektor Protestbedarf eher gering. Deshalb werden die Plakate ja auch noch immer handbemalt und nicht etwa bedruckt verkauft.

Na ja, dann wurde ein über und über mit den Karikaturen des US-amerikanischen Gesellschaftslebens tapezierter VW-Bus auf den Pariser Platz gefahren. Der hatte Lautsprecher, aus denen spielte zunächst Rammstein vom Band »Coca Cola wunderbar«, dann kam ein Lied mit Flöten von, ich glaube, Zupfgeigenhansel, dessen Refrain alle Demonstranten mitsangen. Der ging einfach so: »Go Home Ami, Ami Go Home«.

Währenddessen hatte es angefangen zu regnen. Viele deutsche Polizeibeamte ohne riot gear hatten sich vor dem Gebäude der amerikanischen Botschaft postiert. Und gegenüber vor derjenigen Frankreichs. Es fing dann noch eine Rede an ohne Megafon. Die Stimmung blieb friedlich, schulstreiksmäßig und angesichts des Scheißwetters gut.

Angekommen, wie es heißt, und dem heimischen Bahnhof entstiegen, zeigte sich der See mit stürmischen Wogen und von einer einzigen steingrauen Wolke in Form eines Bügeleisens gekrönt. Der aus dem zweiunddreißigsten Stockwerk in den Innenhof geworfene Einkaufswagen setzte sich von selbst wieder zusammen und flog unter der Zeitlupe wieder dorthin zurück, von wo er einst gekommen war. Auch ein Buzz, es gibt deren unterschiedliche, wie es mir scheint.

8.10.

Nach Müllabfuhr und Tanklastwagen war an Ereignissen für den Rest der Woche nichts weiter zu erwarten. Angeblich. Im Sommer, so malte ich mir aus, träfen jetzt zu heute Mittag, an heißen Abenden schon gestern, gleich nach dem Feierabend und dem Stau, die Wochenendbewohner ein. Dann, so unwahrscheinlich das gerade schien, würde die Kolonie belebt. Gestern aber, bei nächtlicher Vorbeifahrt am hiesigen Gasthof, der sage und schreibe Zum Gemütlichen Waldhasen genannt’: nicht ein Kopf zu sehen gewesen im erleuchteten Gastraum hinter den Scheiben. Die neben dem Haupthaus aufgebaute Pyramide aus imprägniertem Zeltstoff mit Folienfenstern: dunkel und wahrscheinlich leer. Unwirtlich das Ganze, wie vermutlich selbst Frau Monika König, die Wirtin des Gemütlichen Waldhasens mit Sicherheit und das nicht nur insgeheim fand. Der Geschichte des Hauses haftet ein Ruch der Dissidenz an, wie es heißt. In den letzten Jahrzehnten des DDR-Regimes war den Betreibern die Konzession entzogen und dauerhaft vorenthalten worden. Aus welchem Grund und wie genau, dazu hätte ich unter anderen, wirtlichen halt, Umständen gerne Frau König befragt.

Was Jan Wiele in der Zeitung über den Roman des Bundespräsidenten schreibt, klingt auch fürchterlich. In etwa so wie der Roman von David Szalay, den James Wood im New Yorker bespricht. Allerdings hat Szalay nicht vor, Bundespräsident zu werden. James Wood hat von keinerlei politischen Ambitionen des Schriftstellers zu berichten, außer halt literarischen, und die sind ihm, Wood, zu ambitioniert. Andauernd vergleicht er ihn mit dem Norweger Knausgård, mit Michel Houellebecq und mit Christian Kracht, wohl um die europäisch avantgardistische Erzählhaltung des Briten David Szalays, der halber Ungar zu sein scheint, herauszustellen. Was allerdings Avantgarde ist an seinem Text, dazu führt James Wood nur Stellen mit nicht befriedigendender Aussagekraft an, sodass ich leider, vor allem seitdem ich Woodsens eigenes Werk über die Kunst des Erzählens gelesen habe, das mir mal von Henning in bester Absicht ausgeliehen wurde, davon ausgehen muss oder sollte, dass es sich mit der einen Stelle auch schon hat, in der zwei Jungs in ein Konzert gehen, das Eintreten und Platznehmen im Konzertsaal wird wohl noch beschrieben, aber dann blättert der Leser, also James Wood in dem Fall, um, und dann steht da auf der Mitte einer leeren Seite bloß der eine Satz »The Music.«. Genaugenommen also nicht einmal ein Satz, weil ja das Verbum Punkt. Möglicherweise steht dieser aus avantgardistischen Gründen unvollständige Satz sogar aus Gründen des verbesserten grafischen Schockmoments auf einer leeren Doppelseite.

Egal. Als ich träumte, der neue Roman von Christian Kracht bestünde aus lauter unbedruckten Seiten, war das ja auch nur ein Traum. Wobei nur: Claudius Seidl schrieb in der Sonntagszeitung anlässlich eines Bildbandes zur Geschichte des Studios von Walt Disney: »Mir hat geträumt, sagt man im Süden, wo man noch weiß, dass sich der Träumer nicht als Autor seines Traums empfindet«. Und damit hat der Kritiker mit vergifteter Herzensgüte über einen angeblich noch existenten Süden sprechend, klar gemacht, dass es den so flauschigen wie verlogenen Dualismus nicht mehr gibt. Flauschig und in dem Sinne rettend war die dazugehörige Abbildung einer Herrenrunde an Zeichenpulten, rings um einen Teppich gruppiert, auf dem ein Haufen Heu lag und zum Zipfel vorne links unterwegs: ein Reh. Genau vor dem Pult desjenigen Zeichners für Walt Disney in spe innehaltend also, dem vom Zeichenlehrer gerade etwas beigebracht wurde. Es lässt sich leider nicht einmal unter der Lupe erkennen, was. Der Druck der Fotografie ist zu grob aufgerastert.

Hier könnte ich jetzt überleiten von der Herrenrunde bei Walt Disney, die ein weibliches Reh in eine Ikone des Zeichentricks namens Bambi zu transformieren lernen, über Navid Kermani und Ursula von der Leyen hin zur Sedisvakanz beim Amt des deutschen Bundespräsidenten und einer avantgardistischen Änderung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Artikel 54 ff. hinsichtlich, warum das unbedingt ein Mann sein muss, der sich wählen lassen kann, beziehungsweise, weshalb Frauen per Grundgesetz davon ausgeschlossen werden, Bundespräsidenten zu werden, tue das aber nicht.

7.10.

Das Leben auf dem Land, Landlust in der HC-Variante, also hier, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in einer Datschenkolonie, hat wenig bis nichts mit dem von Sue Hubbell beschriebenen gemeinsam (oder gar mit dem von Peter Mayle beschriebenen oder dem von Thoreau; Wolf Rüdiger Marunde war noch gar nie hier, Dörte Hansen dito (nehme ich einfach, aber nicht leichtfertigerweise, an)), wenn überhaupt mit irgendwas von irgendwem beschriebenen, dann allenfalls mit Frühem von Arno Schmidt, Caliban über Setebos. Aber hier gibt’s ja noch nicht einmal Scheunen, geschweige denn Menschen.

Der Ausblick ist derart öde leider, dass ich auch und gerade weil die Wände des Hauses größtenteils aus Fenstern bestehen, bald nach dem Aufstehen bereits wandmüde werde, wie Hermann Lenzens Vater das auszudrücken pflegte. Aber gestern dann, ich saß gerade halb weggenickt am Tisch und ließ mir über den Lautsprecher meines Telefons von einem Mitarbeiter von Phonetastisch in Mitte die Prozedur für einen Displaytausch am iPad Pro erklären – derartiges Heimweh nach den Menschen hatte ich bereits; dermaßen viehisch litt ich schon an meiner selbstverschuldeten Eremitage –, fiel meinem, vom vielen Aus-den-noch-mehr Fenstern-Schauen, müd‘ gewordenen Blick auf:

Ein Mensch, muss ich gerufen haben. So jedenfalls kommt es mir im Nachhinein jetzt vor. Ich blieb sitzen und brüllte hinter meiner Scheibe. Mein Wunsch, diesem Menschen zu begegnen, ihn ansprechen zu dürfen, seine Hand berühren, insofern er sie ausgestreckt’, schütteln sogar: All diese, sich nach Machart einer Partytröte dicht hintereinander entrollenden Wünsche eilten mir schneller noch als der Schall meiner Rufe voraus, bis ich dann endlich selbst aufstand und sozusagen mir hinterherkam, um ihm, der einem altertümlichen Tanklastwagen entstiegen war, bis an das Gartentor heran entgegenzueilen.

Nach der in Brandenburg üblichen Begrüßung erklärte er mir in sachlichen Worten, zu wessen Behufe er gekommen war. 

»Hier«, sagte August Sanders Posterboy 2016 und nahm die Kappe ab von einem kruckenhaft aus dem kargen Erdreich ragenden Rohr, an dessen bloßgelegte Öffnung er einen aus seinem marineblau lackierten Tankwagen über den nassen Mittelstreifen sich wälzenden Schlauch flanschte. 

So unmysteriös also war es in Wirklichkeit: Das zusätzlich auch noch sagenumwobene Geheimnis der DDR-Kanalisation. Es gab sie nämlich gar nicht. Also jedenfalls nicht in einem dem 21. Jahrhundert verwandten Sinn. Die Abwässer der Häuser hier wurden in individuell im Vorgarten vergrabene, im Zweifelsfall  umgewidmete Atombunker aus den Fifties, geleitet und dort so lange unterirdisch zwischengelagert, bis dann am Tag nach der Mülltonnenabholung, gesetzt freilich dem Fall, sie wurde auf der dem Grundstück gegenüberliegenden Seite des Feldweges mit den Griffschalen jedoch auf das besitzangebende Grundstückstor gerichtet, abgestellt, der Tanklastzug vorrollte, um vermittels des sich über den nassen Mittelstreifen wälzenden C-Rohrs, den unterirdisch zwischengelagerten Content (um mich abzulenken, arbeitete ich in einem Subchannel meines Bewusstseins bereits »mit Hochdruck – Hihi!!!« an einer Kampagne für die Brandenburgische Abwasserwirtschaft, BAWW, die es in punkto Humor mit derjenigen der Berliner Verkehrsbetriebe, BVG, aufnehmen können würde und täte), in das mobile Tanklager einzuschlürfen. Tja, tatsächlich. So hörte sich das an. Ich verabschiedete mich und verzog mich hinter das Haus, da ich nicht zugegen zu sein vorhatte, wenn er erst den dicken Schlauch wieder abflanschte. »Die Minute zwischen Flansch und geschlossener Kappe« (Hihihihihi!!!), Untertitel: »Notizen für eine brandenburgische Posse aus dem Ventunesimo, Fäkaler Roman«.

Ruhe und Frieden, mich selbst letzten Endes, fand ich dann schließlich in der Natur. An dem Apfelbaum hingen noch wenige Früchte, doch bei näherem Hinschauen entdeckte ich daran, vor allem auch darin, die Hornissen, die jene am Baum hängenden roten Äpfel bereits ausgehölt hatten wie Kürbisse. Eigentlich ja Fleisch-, auch Aasfresser sind ihnen in dieser Jahreszeit sogar sterbende Früchte recht, deren vergärende Säfte ihnen die für die Winterzehrung notwendigen Kohlenhydrate liefern. Nicht nur Bier ist flüssiges Brot, ein faulender Apfel tut es halt auch. Den Stich der Hornisse braucht übrigens niemand zu fürchten. Entgegen der Horrorgeschichten ist hier im Vergleich zur DDR-Kanalisation genau das Umgekehrte der Fall: Der Hornissenstich tut weniger weh als der einer Biene. Als Grund wird vermutet, dass die Hornisse wie die Wespe mehrfach zustechen kann in ihrem Leben. Im Gegensatz zur Biene, die kamikazemäßig stirbt (ihr Tod ist verschlungen mit dem Sieg).

Auf dem von mir bereits mehrfach erwähnten Schmidt Sting Pain Index, SSPI, des Insektenstichschmerzforschers Justin Schmidt belegt der Hornissenstich eine submediokre Zwei. Mister Schmidts Tasting-Note: »Wie ein abgebrochener Streichholzkopf, der auf deiner Haut abbrennt«.

6.10.

Kaum war ich hier eingetroffen, fing es leider pausenlos zu regnen an. Es kann sein, dass es nachts aufhört, aber da schlafe ich (ohne leider). Aus meinem ursprünglichen Plan (gibts denn andere?), das nicht allzu weit entfernt vom Bogensee gelegene Schulungszentrum der FDJ zu besichtigen, wird wohl nichts werden. Wenn es eins gibt, was ich noch schlimmer finde als nass werden beim Spazierengehen, ist es, nass werden auf dem Fahrrad (das vermeintliche Mittelding: nass schieben ist in Wahrheit noch schlimmer als beides zusammen).

Meine Vermieter hatten mir eine Nachricht hinterlassen: Gestern sollte ich den Mülleimer auf den Feldweg rollern und ihn dort abstellen, allerdings nicht direkt vor dem Gartentor, sondern vor dem des gegenüberliegenden Grundstückes, dabei, so die Mitteilung: »mit den Griffen in Blickrichtung unseres Küchenfensters weisend«. Na ja, dachte ich, kleiner Scherz auf Kosten des unwissenden DDR-Touristen. Aber nicht mit mir!, und ließ den Mülleimer d i r e k t und sinnfälligerweise vor dem Gartentor des Grundstück stehen, auf dessen Gemarkung der in der Tonne enthaltene Abfall produziert worden war. Dann begab ich mich in die dahinter gelegene Küche, um durch besagtes, dem Feldweg zugewandtes Küchenfenster das anstehende Geschehen zu beobachten. Dann kam ein Müllauto und leerte die Tonne des Nachbarn auf der gegenüberliegenden Seite des Feldweges. Die andere auf der anderen Seite ließen die Müllfahrer unangetastet stehen. Ich schritt nicht ein, protestierte auch nicht.

Im Lichte dieses Ereignisses sah ich die Bibliothek meiner Gastgeber in einem anderen Licht. Da ich nun wusste und sozusagen schwarz auf weiß bekommen hatte, dass es sich bei ihrer abstrusen Mülltonnenplazierungsbitte keineswegs um einen Scherz auf meine Kosten gehandelt hatte, sah ich nolens volens ein, dass sie auch mit der Zusammenstellung ihrer wenigen Bücher keine tiefere Absicht verfolgten. Beziehungsweise: dass die nicht allein zu dem Zweck dort aufgestellt waren, mich zu irritieren. Die lasen wohl tatsächlich so:

Bekannte Speisen richtig zubereitet, ein Ratgeber für Gastronomen von Paul Maus und Lutz Kallenbach. Das Buch war 1986 erschienen, dementsprechend fallen die Anleitungen für die Zubereitung von Klassikern wie Nasi Goreng und Pückler-Eis extrem pragmatisch aus. Vor allem hinsichtlich all jener, in den letzten Tagen des Regimes noch schwerer zu beschaffenden Zutaten. Für die Zubereitung der Eiscreme à la Pückler ohne Eismaschine beispielsweise rät das Autorenkollektiv, das Vanillearoma durch »Ananaskonserve« zu substituieren. Die Scheiben selbstverständlich »gewolft«, also durch den Wolf gedreht. Es wird recht viel gewolft in diesem Buch. Auch und insbesondere bei der Zubereitung von Spezialitäten, die mittlerweile, im Jahre 27 nach dem Fall der Mauer, vielleicht zu Recht, vielleicht auch nicht, in Vergessenheit geraten sind. Wie beispielsweise das »Kotelett Pojarski«: Hierfür werden Hühnerbrüste mit »in Trinkvollmilch« (gibts denn andere?) eingeweichten Weißbrotresten und rohen Eiern (essbaren unbedingt!) gewolft und zunächst in Kotelettform geknetet, dann gemehlt und in rohen Eiern gewälzt, bis ein lückenloser Überzug entstanden ist. Dann, schwimmend, in heißem Fett frittieren, nicht ohne zuvor jeweils einen, und zwar speziell den »unteren Flügelknochen« eines Huhnes (idealerweise desjenigen Huhnes, dem die Brust entnommen ward) in die gewolfte und in Ei panierte Masse einzustecken. Denn darin, so das Autorenkollektiv, besteht das Qualitätsmerkmal der bekannten Speise Kotelett Pojarski: im aus dem falschen Kotelett herausragenden echten Knochen. Er macht die heutzutage (ohne leider) in Vergessenheit geratene Speise identitär. Dieses buzz word kommt in dem Kochbuch freilich nicht vor. Wie auch, es wurde ja erst viel später erfunden. Aber hinsichtlich des todsicher unmöglich zu beschaffenden Porterhouse-Steaks – im Berliner Grill Royal wird es derzeit dekadenterweise für 239 Euro zzgl. Beilagen in Form eines »Wagyu on the Bone« verkauft – argumentiert das Autorenkollektiv scharf gegen die nicht identitäre Fleischspezialität trotz oder gerade aufgrund deren geschichtlicher Herleitung als Leibspeise der englischen Hafenarbeiter (das wird ja in der waschechten Dialektik bewusst unklar gehalten): »Das Roastbeef mit Filet und Hochrippe gehört heute zum Bestandteil des Industriegrobsortiments und wird nur nach Absprache in die Gaststätten geliefert, so daß das Porterhouse Steak nicht mehr zum täglichen Angebot gehört. Aus ernährungsphysiologischen und ökonomischen Gründen sollte dieses außergewöhnlich große Steak abgelehnt und nur zu ausgewählten Anlässen auf die Speisekarte gesetzt werden.«

Sehr richtig. Na ja, nun hat sich’s ja erledigt, aber sonst könnte man im Sinne der Autoren dem Regime noch zugerufen haben wollen, dabei den berühmten Einbildwitz von Rattelschneck paraphrasierend: »Hey Staat, deine Wirtschaftsordnung ist zu kurz! Die Bedürfnisse des Volkes hängen heraus!«

5.10.

Nach dem ersten großen Regen zeigten sich an Ahorn und Linde die ersten gelb gefärbten Blätter. Die, die rings um deren Stämme auf dem Rasen verteilt waren betrachtend (und eigentlich zählend), fiel mir auf, wie schwierig es ist, nein: wie leicht es doch fällt in Anbetracht herbstlicher Phänomene an ein Zusammenwirken von Naturvorgängen zu glauben. Um Sinn zu konstituieren. Durch einen auf gedankliche Weise hineinpraktizierten Zusammenhang. Beispielsweise denke ich beim Anblick erster Blätter auf dem Rasen vor mich hin: Aha, bevor die Blätter fallen, gibt es in diesen Wochen zunächst eine Nacht mit Regen und viel Wind. Regen deshalb, um die Verbindung zwischen Blattstiel und dem Ast, dem Zweig, an dem das Blatt nun den ganzen Mai und dann den Sommer über gut gehalten hat, aufzuweichen, diese Verbindung, die ja wohl auch ein Ventil enthielt, durch das osmotisch die von dem das Blatt ernährenden Baum vermittels seiner Wurzeln aus dem Erdboden angesaugte Feuchtigkeit in die Adernstruktur jedes dieser vielen einzelnen Blätter geleitet worden war seit der Entrollung, hatte nun bei schwindender Zahl von Sonnenstunden, schwindender Intensität des Sonnenlichtes auch, ihre sogenannte Schuldigkeit getan, und wurde, da weder Baum noch Blatt über die entsprechenden Vorrichtungen verfügten, unter Zuhilfenahme erster Regengüsse und dem ergänzend wie zur Hilfe herbeiwehenden Windes von für diese Jahreszeit der Blattscheide charakteristischer Temperatur aufgeweicht, perforiert, ausgekugelt wie ein Schultergelenk, sodass ein von diesem Zusammenwirken herbstlicher Elemente angegriffenes Blatt schon bald seiner Anhänglichkeit müde ward und zu Boden fiel. ​Dabei denke ich natürlich auch zeitgleich an das schöne Lied Wild Is The Wind, besonders schön ist es gesungen von Nina Simone, eine Liveaufnahme, aber auch die im Studio aufgenommene von David Bowie ist schön, beide sind schön, unterschiedlich schön, eine jede für sich, aber im Effekt, also in Sachen des Gefühles, das diese beiden Versionen des Liedes heraufbeschwören oder auslösen beim Betrachten erster Blätter auf dem Rasen nach dem ersten großen Regen, sind sich beide Interpretationen ebenbürtig. Und in beiden heißt es Like a leaf clings to a tree / Darling cling to me/ For my love is like the wind —

Schwer aufzulösen, dieses Bild. Das lyrische Ich ist der Baum, an dem das Blatt hängt. Das Blatt soll sich festklammern, auf jeden Fall nicht loslassen, denn jetzt ist der Baum zum Wind geworden, der an dem Blatt reißt, der es mit sich fortnehmen will. Der danach trachtet. Das Blatt soll sich an den Wind klammern. Es soll sich gut festhalten, der Wind will nicht, dass es verloren geht. Wenn es erst auf dem Boden liegt, ist es dem Wind verloren gegangen.

Na ja. Jedenfalls gibt es mittlerweile viel zu wenige Essigbäume in der Stadt. Früher gehörte diese »Palme unter den Ruderalpflanzen« (Tita Giese) noch fest zur Stadtlandschaft, insbesondere zwischen den Gleisen und hinter den Bahndämmen. Noch früher, also im durch schwadenweise E605 insektenfrei gehaltenen Vorgarten meines Großvaters Rudolf, gehörte ein sauber beschnittener Essigbaum zum guten Ton, wie es heißt. Von daher packte ich gestern Mittag kurzentschlossen und musste dann noch ziemlich weit fahren, mit der sogenannten Heidekrautbahn, bis ich kurz vor Wandlitz am Rahmer See noch auf eine Siedlung stieß, wo zwischen bauhaushaften Behelfsbauten aus der DDR-Zeit noch Essigbäume stehen. Und wie ich es mir ausgemalt hatte, zeigt sich an ihnen gerade jetzt und nur noch für wenige Tage eine Laubfärbung wie auf einem Malen-nach-Zahlen-Gemälde: Pfirsichtöne, von lohfarbenen Fäden durchwirktes Rot. Dazu eine Stille — geradezu beunruhigend. Kaum Vögel. Hier werde ich einen Tag bleiben. Vielleicht sogar zwei.

4.10.

Im Traum befinde ich mich inmitten dieser unendlich roten, am vorderen Bildrand ins Weiße überstrahlten Landschaft aus Bergen von Sand und einer Straße, die von Sainshand bis Urgun führt, im Traum und in Wirklichkeit ist die Wüste Gobi natürlich noch viel größer und dehnt sich weiter aus als auf jenem winzigen Abbild davon, das in meiner Küche hängt. In der letzten Nacht hat sie sich sozusagen ausgedehnt bis in meinen Traum hinein. Ich ging darin durch eine Ortschaft, die durchgängig im Tegernseer Stil errichtet worden war, sogar mit geteerten Straßen und mit Blumenkästen auf den Rändern der Balkons im von der Straße aus niedrig gelegenen ersten Stockwerk. Überhaupt gab es zwischen den Häusern, deren Putz blendete, wuchs zwischen den Balkons und den Dachfirsten aus dunklem Holz wüstenunübliches Grün in Form von aus ihren Waschbetonquadern überquellenden Bodendeckern, und dazu Fichten und Eiben zwischen den Dachrinnen zweier eng beieinander stehender Häuser, wobei dem nächsten schon wieder eine gelbe und bunt gestreifte Kodakfahne aus der Fassade ragte. Sogar an einen roten Verkaufskasten der Abendzeitung hatte ich gedacht.

Nun stand ich unter dem Baldachin im Schatten und durfte den Vorarbeiter so lange beobachten, wie ich wollte. Ich blieb ganz still, stellte keine Frage, da ich umso besser sehen konnte, je stiller es um uns herum blieb (so, als ob jede Lautäußerung mit ihrer mikroskopisch wahrnehmbaren Luftausströmung die linsenhafte Atmosphäre in meinem Traum verwirbeln könnte). Er, der eine violette Uniform anhatte, bediente einen Stempel an einem langen Handgriff. Das ganze Gestell war aus poliertem Messing gemacht. Der Stempel wurde in ein mit Sand gefülltes Becken gedrückt, das am Boden stand. Vielleicht diente es als ein Aschenbecher, vielleicht war es aber auch bloß zur Zierde gedacht. Das Einprägen des Stempelmotivs in die glatte Sandoberfläche hatte sanft zu geschehen und mit gleichmäßig über die Auflagefläche verteiltem Druck. Durch das Nichtatmen konnte ich noch genauer hinsehen, ich konnte dann exakt verfolgen, was unter der Einwirkung des Prägestocks mit den einzelnen Sandkörnern geschah. Sie waren eben nicht rund geformt, Sandkörner waren noch nicht einmal rundlich, es waren Polyeder!

Auf eine, tja: traumhafte Weise empfand ich mich selbst und meinen Traum nun als ekelhaft, und diese Empfindung hielt sich auch noch nach dem Erwachen. Ich wachte auf aus Empörung über meine mir zwanghaft erscheinende Originalität im Traum, es war noch dunkel um mich herum, egal, es wurde nur noch intensiver, dieses Gefühl, mein Wunsch, dass ich anders träumen wollte; gar nicht von anderen Dingen, aber in einer anderen Machart. Einfacher, weniger gewitzt oder witzig, am liebsten sogar langweilig, wie es mir früher manchmal gelungen war (oder zugefallen): vom Einsortieren der Belege stundenlang oder Einkaufen allein in einem Supermarkt mit ein paar anderen Menschen (die aber nichts von mir gewollt hatten und ich auch nichts von ihnen).

»When human brains decided to create prodigiously large files of recorded images but lacked space to store them, they borrowed the disposition strategy to solve this engineering problem. They had their cake and ate it«, schreibt Antonio Damasio: »They were able to fit numerous memories in a limited space but retained the ability to retrieve them rapidly and with considerable fidelity. We humans and our fellow mammals never had to microfilm various and sundry images and store them in hard-copy files; we simply stored a nimble formula for their reconstruction and used the existing perceptual machinery to reassemble them as best as we could. We were always postmodern

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