»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

7.1.2019

Am frühen Himmel kreuzen sich zwei Kondensstreifen, bezeichnet wird die Stelle über einer großen Stadt im Nordosten des Landes. Wo ich hin soll.

Will ich? Temperaturen wie im Frühling, auch von der Trockenheit her. Für mich nicht zusammenzubringen mit den Bildern aus Bayern, wenige hundert Kilometer weiter südlich, wo der Schnee zu hohen Haufen aufgeschichtet liegt. Miesbach schlägt Katastrophenalarm.

Vor Abfahrt noch in einem Zug, auf ex den kleinen Aufsatz fertiggemacht, der hier wegen Krankheit, Festlichkeit, Raketen und so weiter liegengeblieben war. Und aber es fehlte irgendwas. Oder war darin erwas überzählig? Kam selbst nicht darauf, blieb einfach unbefriedigt. Ein verlässliches Signl, das mir aber leider nie anzeigt, was genau nicht stimmt im Detail (bloß, dass.) Wobei mir Friederike dann den entscheidenden Hinweis gab, gleich nach ihrer ersten Lektüre; es gibt also noch immer keine Rivalität, die zwischen uns steht. Und wenn bis jetzt noch nicht, dann wird das wohl bleiben.

5.1.2019

So langsam sitzt die neue Jahreszahl, eine 19, die mir noch nie sympathisch war (die 17 hingegen!) Wolfgang Ullrich schreibt »2019 wird für uns ein erfolgreiches Jahr.« Das wirkt, zumindest milde. Noch in meinem 48. Lebensjahr bin ich empfänglich, wie es scheint, für die Autosuggestion. Habe noch immer nicht aufgegeben. Kein Zyniker geworden. Wunder geschehen.

Wie schnell das geht, dass ein Gesamtpaket der Festlichkeit mit Bäumen, Liedern und speziellen Speisen, Kleidern auch, Dekoration allgemein bishin zu den Stimmungen und Gefühlsvorgaben und einer, gleich wie persönlich gestalteten, universalen Dramaturgie wie in einen dieses Paket umfassenden Karton geladen und weggeräumt ward. Ich denke an unseren Weihnachtsbaumverkäufer von der Firma Super Weihnachtsbäume, die im schon bayerischen Schöllkrippen ansässig ist und was er mir erzählt hatte, hinsichtlich der groben Absatzzahlen: 2000 Bäume mehr oder weniger allein im Stadtgebiet von Frankfurt—hochgerechnet auf das Bundesgebiet komme ich auf schwindelerregende Zahlen; was er jetzt gerade macht? Neue Bäume hochziehen für die kommende Saison, säät er die von Hand? Pikiert er bloß koreanische Setzlinge? Wie wehrt er die der Rehe, wie düngt er den Boden? Und: Ob man davon leben kann?

Im ersten Eintrag seines Tagebuchs 2019 schreibt Vincent Klink: »Oft ertappe ich mich beim Schimpfen auf unser Land […]«

Von Deutschland aus, über Europa hinweg sich ausbreitend gedacht wie ein vom Wassertropfen verdünnter Tintenfleck: so viele Tannenspitzen. Und eine noch immer irgendwie weihnachtliche Milde ergreift mich für Menschen, das ist wohl die Rührung, in Anbetracht dieser festlichen Tradition des Kalenderglaubens, allüberall.

4.1.2019

»Das war die von Sprißler so sehr verachtete Dummheit von Thewe, dass er sein Verhalten nicht als das nahm, wie es wirkte, sondern, wie er es meinte.« – ein ewiger Satz. Traditionell lese ich, wie es heißt: zwischen den Jahren, das Werk von Rainald Goetz. Die sogenannte eigne Sprache muss geübt werden. Das geht allein bloß mit dem Lesen von anderen. Und deshalb ist mir der mündliche Austausch mit Friederike auch wichtig, weil sie die meiner ähnliche Lust hat, die Sprache anderer zu lesen und sich das Gelesene anzuverwandeln. Wie es für leidenschaftliche Gärtner wichtig sein wird, von Grünendem umgeben zu schaffen. Kluge im Gespräch mit Michaelsen, neulich: »Ohne Sonne leuchten meine Sterne nicht.« (Ohne das sie umgebende Vantablack aber halt auch nicht, generell betrachtet, doch was wäre das für ein Standpunkt Punktpunktpunkt.)

Eine ganz kurze Zeit lang sollte ich jungen Schreibern beibringen, oder vermitteln als Dozent, wie man schreiben könnte (2008.) Da musste ich aber bald schon aufgeben, weil die partout nicht lesen wollten, auch nie richtig gelesen hatten, aber gleich schreiben wollten. Ließ ich sie machen, kamen dabei für mich unlesbare, wie auf Stelzen daherkommende Sätze heraus. Die waren, so dachten es meine Schüler auf Nachfragen hin, in der von ihnen phantasierten »Drucksprache« gemacht. Da sie so gut wie nie Zeitungen lasen oder ähnliches, hatten sie natürlich kaum Gespür für die deutsche Sprache, die derzeit geschrieben und gelesen ward. Berufswünsche hingegen wurden dieser Ausstattung zum Trotz und klar formuliert vorgebracht: Kolumnistin / Kolumnist (damals war Sex And The City noch populär.) Der einzige aus einer Klasse von zwanzig, der es wider meiner Erwartung zu etwas gebracht hat, war David Kurt Karl Roth, der zwar nicht berühmt schreiben konnte, aber mir damals, und da hatte ich keinen Schimmer, was für die Branche kommen würde, schon erklären konnte, dass er bald schon als ein Kolumnist der ganz anderen, einer neuartigen Art in Erscheinung treten wollte. Das iPhone war damals gerade in Verbreitung gekommen. Kurz darauf gründete David Roth auf extrem erfolgreiche Weise mit Carl-Jakob Haupt den Visual-Blog Dandy Diary.

Der eingangs zitierte Satz entstammt Johann Holtrop und beileibe nicht allein seinetwegen frage ich mich – irrerweise –, warum dieser Text derart ungelesen geblieben ist. Die Selbstfrage freilich ist eine Schutzfunktion, die mich bewahren soll vor der Fürchterlichkeit jener Antworten, die den mir entgegenplärrenden Brünnlein entspringen: zusammengefasst, dass »man« »das« besser, anders, im Zweifel aber doch pointierter, warum nicht gleich knackiger hätte abfassen müssen. Da frage ich mich doch: wer?

Im Text schreibend, werden einem Verhältnismäßigkeiten klar zwischen Menschen, denen man im alltäglichen Miteinander, auch unter Freunden, ansonsten nicht derart invasiv nahe kommen kann. Die Niederschrift, das Aufschreiben, Figuren zu machen aus dem, was man mitbekommen hat im Erleben – bis sie dann wie aus Glas geblasen sind, sich aus dem Text erheben können und über das Blatt hinweg: anfangen zu gehen.

Im Birkenbaum, der momentan als knochenfarbiges Gerippe steht mit braun gefrorenem Laub, landete eine Blaumeise und schaute sich um, wie immer. Nichtwissend, wie sie jetzt auf mich wirkt.

3.1.2019

Halb Charlie Brown, zur anderen Hälfte Linus van Pelt geworden, frage ich mich, ob die bloggerischen Aktivitäten (die würde ich ausgesprochen ungern von einer Sprecherin des Kölner Dialektes so bezeichnet ausgesprochen hören) Friederikes zu einem zunehmenden Zurückhalten des von ihr Erlebten im mir mündlich Erzählten münden könnten; zumindest wähne ich uns in der Gefahr, weil sie sich jetzt zu allen möglichen Gelegenheiten mit ihrer ominösen Formel beschäftigen will. Komme mir beinahe vor wie diese Männer, deren Frauen an einem todsicheren Roulettesystem feilen.

Zudem noch negativer Bescheid am Tintentresen bei Fleischhauer, dem Schreibwarengeschäft auf der Münchner Straße: Die von mir verlangten Patronen im Farbton Midnight Blue sind noch immer nicht eingetroffen. »Die sind im Rückstand« – gut, das hieß es dort genau so schon vor den Festtagen, aber mir bleibt in dieser Sache nichts, als mich weiterhin zu gedulden.

Vor dem Plank hatte sich da schon ein Ring aus Schaulustigen um die Hunde des bemützten Mannes gebildet; man fotografierte sie auch, handelte es sich doch um den Designer der regionalen Sportswear-Kollektion Hauptwache 2.0, der an genau diesem Platz in den warmen Monaten zu sitzen pflegt, momentan stand er, und irritierenderweise war ihm über die Winterzeit zusätzlich ein Bart am Kinn gewachsen. Dazu hatte er folgende Zusatzinformation (zu seinen Hunden als Instagram-Motiv): »Ja, die sind krass. Sind halt Brüder, gell.« Wobei ja der eine Hund zweifelsfrei einen getigerten Mops mit Fledermausohren darstellen soll, der andere etwas latent Wuscheliges mit zwei schlappen Lätzchen (eventuell einen Terrier?). Doch lauschte ich beinahe ehrfürchtig, denn mir war dieser Mann, dessen Namen ich bislang noch nicht in Erfahrung habe bringen können, schon einige Male als ein Quell von mir geradezu stoisch anmutenden Wahrheitsverkündungen aufgefallen. So sagte er beispielsweise einmal, es war ein heißer Samstagmittag, zu zwei ihm wohl bekannten Frauen, die laut und lange überlegten, ob sie sich denn noch zwei von den im Plank extrem sorgfältig und von daher gut zubereiteten griechischen Eiskaffees gönnen sollen dürften: »Tja, chillen ist teuer.«

Am Nebentisch gestern unterhielt man sich derweil über Katerrezepte: Er habe »da auf einer griechischen Insel« etwas neuartiges von schlagender Wirksamkeit gereicht bekommen: »Man trinkt zuerst einen Shot guten Whiskey, danach von dem Gurkenwasser. Der Mund wird durch den Whisky irgendwie vorbereitet. Man nimmt das Gurkenwasser dann ganz anders wahr.«

Wobei ja, wie ich klandestin (innerlich) notierte, der Frankfurter Dialekt selbst bei der Wiedergabe von Exotika noch dem Kölschen als überlegen sich erweist, weil ja der Kölner speziell beim Aussprechen von »griechischen Inseln« arge Unschönheit produziert dergestalt, dass dann »griechiche«, im Stadtteil Köln-Sülz gar »grieschiche Inseln« heraufbeschworen werden; teilweise wird das auch von Dialektsprechern aus Köln-Porz und Köln-Bilderstöckchen so zu hören sein (wobei die letztgenannten einen selbst dort in der Region raren Spezialfall bilden, da die in Bilderstöckchen beheimateten Sprecher aufgrund des Dialekts noch nicht einmal ihren eigenen Stadtteilnamen korrekt aussprechen können. (Korrekt im Sinne der deutschen Schreibung.)) Der Frankfurter hingegen hat es lässig: »grieschisch« waren die Inseln halt.

2.12.2019

Auf dem Neujahrsspaziergang zum Café Laumer eröffnete mir Friederike, vermutlich dabei allein mich überraschend, ihren Entschluss, ab sofort selbst ein Tagebuch im Internet veröffentlichen zu wollen. Nadelfein, geradezu zeichenhaft umwehte uns beide dabei ein von den Wettergourmets sogenannter Sprühregen von Myriaden Tränchen, die, derart fein und leicht wie die Luft selbst, in der sie umherwirbelten, bloß mir durch die, wie gesagt: in Japan geschliffenen Gläser meiner neuen Brille, sichtbar gemacht wurden.

Im Café selbst dann versuchte ich mich abzulenken durch erneutes Umherblicken, doch ward dort, wie leider halt immer, eine Reihe von abscheulichen Gemälden an die dafür frei geglaubten Stellen der ansonsten ja zweifelsfrei sehr schönen Inneneinrichtung des Traditionscafés gehängt; es handelte sich um die kleinformatigen Leinwände einer Malerin namens Laura Arc, die dazu etliche Bilder von einer Pusteblume beigesteuert hatte, aber auch ein durch Bewegungsunschärfen eher unnötig dramatisiertes Porträt des »Disko Derwisch« ward angeboten (jeweils 80 Euro.)

Am Nebentisch des Belauschhimmels saß eine Frau, die halt so ausschaute, wie Frauen ihrer Ära auszuschauen haben, und hörte einem Mann zu, dessen Stimme ihr wie ein gemütlich knarrender Schaukelstuhl geworden war, den man geerbt hat, und von dem man bis dato nicht weiß, wohin damit. Er sagte: »Was hältst Du von Miller – als Vornamen?«

Da meine Gefährtin die ganze Zeit über schrieb dergestalt, dass sie vor allem mit einem magischen Papiere hantierte, auf dem, wie sie mir knapp beschieden hatte, sich »Die Formel« für ihr Online-Tagebuch in aufgeschriebener Form fände, versuchte ich mich von den mich vage bedrängenden Rivalitätsimpulsen abzulenken durch eine konzentrierte Lektüre der NZZ, wo im abseitig gehandhabten Buche Kunst und Literatur ein extrem langer Aufsatz von Peter Sloterdijk abgedruckt ward, den die Derwische aus Zürich mit Bildern gähnender Katzen illustriert hatten. Seiner Themenstellung »Zur Aktualität des Zynismus im 21. Jahrhundert« war der Karlsruher allerdings nur auf eine mich wenig befriedigende Weise, eine den Illustrationen hingegen perfide entsprechenden gefolgt: erst nach in etwa achthundert Zeilen verfing bei mir ein erster Satz: »Der Expansionismus der Kommunikationen bewirkt die Konvergenz von Medienpräsenz und Sein.«

Wie albern, sich abwenden zu wollen, bloß weil neben mir jemand schreibt! Zumal ich dann gleich wieder mit liebendem Auge registrieren konnte, dass sich meine alte Theorie, nämlich, dass Schreiben, bei minimal externer Aktivität, demnach maximal interner, extrem hungrig macht, im Augenblicke bewiesen sah, weil meine Gefährtin sich nach einer Platte mit Lachsbrötchen, mehreren Eierspeisen und immer wieder tassenweise Kaffee, gerade ein breites Stück der dort sogenannten Glückstorte hatte bringen lassen, aufs Kräftigste bestätigt sehen konnte. Auf ihrem Stücke war ein aus grün gefärbtem Marzipan gestanztes Kleeblatt aufgesetzt. Das meine hatte ein zwinkerndes Schwein.

In New York kommt, kaum hat man seine Tasse geleert schon die Kaffeehauskellnerin und fragt, ob sie die Rechnung bringen soll. Im bis auf weiteres konservativ Frankfurterischen Laumer kann der Schreibende vor seiner leeren Tasse schreibend (Roman!) noch so lange sitzen, wie es ihm beliebt. Ein Super-Size-My-Verweildauer, wie es sich in Berlin bereits durch die beständig größer werdenden Gefäße (Marrokkanischer Minztee, Ingwersud, Latte Macchiato) schon konstantieren lässt, findet hier bis dato nicht statt.

1.1.2019

Im Fenster des Antiquariats Tresor am Römer wird ein rotes Buch ausgestellt. Auf dem Rücken steht »Unsere Ganze Geschichte«. Das Buch ist großformatig, dabei vergleichsweise dünn. Ich will es unbedingt in meinen Besitz bringen, aber das Antiquariat hat seit Tagen geschlossen.

Arno Schmidt war beinahe neidisch auf Edward Bulwer-Lytton. Dessen Romantitel My Novel hielt er für den besten überhaupt. Er stellte sich vor, jemand sitzt beispielsweise im Café und liest dieses Buch, und jeder andere im Raum denkt, der liest seinen eigenen Roman, während er, ganz woanders natürlich, fortgeschrieben wird.

In diesem Sinne: Du kommst auch drin vor.

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