Arno Schmidt

Essay
2005

Vor kurzem führte ich ein Gespräch mit dem Modeschöpfer Dirk Schönberger, der soeben von Belgien zurück nach Deutschland gezogen war. Nach dem Interview saßen wir gemütlicher, irgendwann wollte er plötzlich darauf zu sprechen kommen, daß er vor einiger Zeit alles von Arno Schmidt gelesen habe – für ihn war das die stärkste Erfahrung seit langem gewesen. Wir schauten uns an: and the feeling was mutual! Das war schon etwas. Das gibt es nämlich nicht oft. 

Denn: Lange Zeit habe ich zu Arno Schmidts Büchern nur mit schlechtem Gewissen gegriffen. Eigentlich kenne ich keinen anderen Autor, der noch so wie Schmidt ist: verpönt. Im Grunde ist es nicht einmal das. Nicht: „Was! Du liest Schmidt?“, sondern „Was? Du liest Schmidt!“

In das Entsetzen webt auch Abschiedsleid: Ein Freund wird uns verloren gehen, wir ahnen es - schon liest er Schmidt! Bald, klagt diese Melodie, wird auch er nun seinen Spitzbauch kriegen, in den hinein er die großformatigen Schmidt-Bücher stemmen kann, die er - dann schmunzelnd - „Folianten“ nennt. Brandygläschen werden ihm, wie von dieser Lektüre gedüngt, aus seiner ehemals noch schönen jungen Rechten sprießen, Zähne umklammern eine Tabakspfeife, die Lupe beschlägt. Aus Kistenbrettchen  - wo gibt’s die eigentlich noch? - wird er sich Karteikästen bauen, in denen er seine „Funde“ sortiert. Mittlerweile schreibt er mit Bleistiftstumpen Marke „Scrabble“ auf Altpapierschnipseln (Din A 9). Seine Handschrift ist steiler geworden, sie wird engmaschiger und immer kleiner, bis sie bald keiner von uns mehr entziffern können wird.- 

Macht Arno Schmidt etwa einsam; noch einsamer etwa, als „normales Lesen“? Oder woher sonst rührt diese abergläubische Furcht? Gewiß: Nicht-Arno-Schmidt-Lesen ist weniger gefährlich. Beinahe alles, sogar Heroin, ist ungefährlich, wenn man es bleiben läßt. Und das Nicht-Lesen bedeutet ebenfalls nicht, daß man vondeswegen auf das Gesprächsthema „Arno Schmidt“ verzichten müsste. Man trifft nämlich stets auf andere Nicht-Leser, die trotzdem – wozu eigentlich? - ihre Meinung zu Schmidt parat halten. Vor allem über seine Bücher, die sie häufig nicht gelesen haben. Und ihre Mutmaßungen über den Autor Schmidt, den sie nie getroffen haben, scheinen dabei direkt den Vorurteilen über seine Bücher zu entspringen. Eine solche unlogische Verkettung finde ich interessant.

Immanuel Kant ist ein Autor, der in diesem Sinne Schmidt ganz ähnlich durchgesetzt ist: Man trifft viele, die Bescheid wissen wollen – oder müssen? -, wie „langweilig und trocken“ Kant geschrieben hat; vergleichbar mit Schmidt, der ja „unheimlich anstrengend“ schreiben soll – das Zeug von beiden aber wird als „unlesbar“ befunden. Und unter Nicht-Lesern ist auch schon ziemlich allgemein bekannt, weshalb: „Kleinwüchsig, Provinzler (79 Jahre Königsberg), kein Schlag bei Frauen“ - Kant; „Halbgebildet, Provinzler (20 Jahre Bargfeld), Frauenverächter“ - Schmidt.

Es läßt sich davon mit eigenen Worten kaum etwas entkräften. Als Schmidt-Gelesen-Habender riskiert man lediglich, daß während solcher Überzeugungsarbeit verstohlene Blicke getauscht werden. Dabei müßten sie doch nur zu lesen beginnen, um zu begreifen, wovon die Rede ist. Doch ist es schwer, jemanden zum Lesen von Büchern zu überreden, die er doch bereits zu kennen glaubt. Und mit Empathie - „Schmidt, Mensch - toller Autor!“ et cetera – kommt man nicht weiter. Im Gegenteil: Ich glaube, daß ein zuviel an Empathie seitens der Leser und eine Pilzesammlerhaft gestimmte Haltung der Literaturkritik bezüglich Arno Schmidt dazu geführt hat, daß dieser große und einzigartige und nicht direkt lebensverändernde, dafür aber die Sicht auf das Leben bereichernde Autor, zu einem Rühr-mich-nicht-an werden sollte.

Ja: sollte! Von Hause aus und selbst dort den Verschwörungstheorien unzugänglich, ließ mich ein Ausflug nach Marbach am Neckar doch ins Grübeln kommen. Dort, im Schiller Nationalmuseum wurde am Donnerstagabend vor zwei Wochen die beeindruckende Ausstellung über, wie man so sagt, Leben und Werk Arno Schmidts eröffnet. Beeindruckend, weil sie eben das nicht ist: Vitrinen auf gesaugtem Nadelfilz, in denen Briefe liegen und anderes Papier. Was, ich komme sofort noch darauf, vor allem damit zu tun haben wird, daß diese Ausstellung nicht vom öffentlich-rechtlichen Literaturarchiv besorgt wurde, sondern von der privaten Arno-Schmidt-Stiftung. In Marbach ist der tadellos gelungene Versuch zu bestaunen, wie man es denn schaffen könnte, die sogenannte Poetologie eines Schriftstellers einsichtig zu machen; wie also auch ein Nicht-Leser, ein Noch-Nicht-Leser eventuell, einer „in spe“ einen Wind davon bekommen könnte, daß es sich bei Arno Schmidt um einen Großen handelt. Und was der überhaupt wollte, machte, tat! Daß es keine Zeitverschwendung, keinen Gang in die Alleinsamkeit, keine Pose bedeuten muß, dessen Bücher zu lesen. Daß Arno Schmidt kein Hexer war, auch kein Scharlatan, sondern deutscher Schriftsteller. Und wie es aussieht: der beste aus der Moderne, den wir gehabt haben werden.

Aber ich schweife: Man saß dort in einer sogenannten Eröffnungsveranstaltung und hinter dem Rednerpult stand Professor Doktor Ulrich Raulff, der Direktor des Schiller Nationalmuseums und hielt eine belanglose Rede. Das ist ein Leichtes, wenn einem der Gegenstand so offensichtlich wurscht ist, wie Schmidt Professor Doktor Raulff – beziehungsweise: möglicherweise war es auch umgekehrt. In Kürze jedenfalls ließe sich festhalten: Löblich, daß es unseren höchstbezahlten Akademikern noch immer gelingen wird, ihren Redeströme die Hülsen der Gelehrtheit(„sui generis“) aufzusetzen; bedenklich ist es andererseits, ob der lesende Steuerzahler es ihnen durchgehen lassen sollte, daß sie sich für ihre Flußfahrten derart geizig nur betanken dürfen. Professor Doktor Raulff jedenfalls vermutete den letzten Wohnort des Dichters in Bargteheide, Schleswig-Holstein – zugegeben, die Namensähnlichkeit mit dem niedersächsischen Bargfeld ist, zumal in einer Heidelandschaft gelegen, irritierend – das schwäbische Marbach wird ja ebenfalls ständig mit dem ostdeutschen Marburg verwechselt (nebenbei: Raulff hat vor Jahren ein Buch über Aby Warburg geschrieben) aber bezahlen wir solche Männer nicht eben drum, daß Sie uns Wissen schaffen mögen?

Falls Sie nun zu dem Schluß kommen möchten, ich argumentierte „wortklauberisch“, so muß ich insistieren: Nämlich darin sollte die Methode der Literaturwissenschaft bestehen. Arno Schmidt war sogar ein Autor, der demnach gearbeitet hat: mit wissenschaftlicher Genauigkeit war er um jedes Detail, jedes Faktum, jede Zahl, jedes Wort und dessen Lautpartikel besorgt. Wie jedem ernstzunehmenden Wissenschaftler ging es ihm um Präzision. Um die Stichhaltigkeit erfundener Wahrheit. Er hat Landkarten gezeichnet von den Orten, in denen seine Geschichten spielen sollten. Einiges hat er dazuerfunden, aber die Konstruktion des Rahmens mußte stabil sein wie ein Käfig, damit die Fantasie des Lesers frei in jeden Winkel flattern kann – ähnlich dem Gehirn eines Surfers, der umherschweifen will im World Wide Web.

Ja, ich bin davon überzeugt, daß es einzig Arno Schmidt ist, dessen sogenanntes Werk sowohl inhaltlich als auch formal es mit dem digitalen Monsterbuch unserer Zeit aufnehmen kann! Ich bin sogar halbwegs davon überzeugt, daß die Amerikanischen Dateningenieure in den 50ern ihre Konstruktionsidee für das Internet aus Bargfeld bezogen haben – es gibt darauf einen turmhohen Fingerzeig in der Erzählung „Großer Kain“ (dies nebenbei). Und ernsthaft: Gerade das Spätwerk möchte ich allen Emphatikern und Gnostikern der Vernetzung an Herz und Hirn empfehlen. Gängig ist ja: Schmidt – beachtlich, aber nur bis „Zettel’s Traum“. Gerade danach wurde es für mich erst interessant. Ich kann gut verstehen, weshalb diese großformatigen, dialoglastigen und teilweise mehrspaltig gefassten und mit Illustrationen angereicherten Romane zur Zeit ihrer Veröffentlichung als skuril empfunden wurden. Zusammen mit einem, wie zumindest ich es empfinde, ärgerlichen Personenkult um den Autor Schmidt führte das beinahe schon natürlich zu dem bis heute manifesten  Vorurteil, „Die Schule der Atheisten“, „Abend mit Goldrand“ und „Julia“ seien unlesbar.

Aber heute? Wo Sie doch mit Leichtigkeit links surfen, rechts SMS-Tippen und mit dem Ohr noch zu telefonieren gelernt haben; wo es eine Kanalvielfalt im Fernsehen gibt, rund um die sogenannte Uhr, durch die Sie, ganz Autor auch mittlerweile selbst Sie,kraft ihrer Fernbedienung navigieren, um sich aus den Sendungsfetzen einen bunten Abend zu nähen; wo Sie – eigentlich nur auf der Suche nach einem Namen von der Party gestern Abend, sich bei Google kurzweilig verzetteln können: Von, sagen wir: „Raulff“ bis „Warburg“ ist es für Sie nur noch ein Klick. Ergibt dann eine vielleicht ja unlogische Verkettung – dennoch nehmen Sie es als gegeben und wahr. Und daß auf ihrem Browser links Text stehen, rechts Bilder – das zusammenzubringen ist doch längst kein Problem mehr für Sie!

In seiner Zeit war Arno Schmidt unzweifelhaft vorausreitend. Nun ist selbst sein „unlesbares“ Spätwerk komplett ein Ausdruck der Gegenwart – vielleicht ist ja alles „unlesbar“ geworden, vielleicht auch im Geigentiel. Entscheiden dürfen Sie!

Ja, aber die Sprache…

Stimmt. Das ist ein Einwand, der dann immer kommt. Dabei: Wie lautete er gleich noch genau? Ach ja, es ging um Die Sprache. Schmidt hat eine eigene. Wobei das gute an der ist, daß es zugleich die unsere ist. Was Sie meinten ist Schreibung. Das phonetische, das lautnachschöpfende, was Schmidt so einmalig beherrscht hat; ein Teil seiner Wissenschaft, nachmachen läßt es sich leider nicht. Das ist eben – Din A9 hin und her – keine Normsprache. Und wenn ich in der Zeitung soeben eine Protestnote von ein paar Holzbrinck-Autoren lesen mußte, in denen die trotzig bekanntgeben lassen, daß sie sich von den Dudens nicht ihre Sprache diktieren lassen wollen: so what! Die Sprache ist frei und da, sie wird noch gesprochen, so sei ihre Schreibung! Auch Schutzpatron für bange Autoren: Arno Schmidt.

Nun ist es doch ein Plädoyer geworden. Doch wer bin ich denn, um mich als Anwalt Schmidts berufen zu fühlen? Das können andere besser, haben es regelrecht zu ihrem Beruf gemacht und von daher weise ich auffordernd hin auf Jan Philipp Reemtsmas soeben erschienenes Buch „Arno Schmidt - Vermessungen eines poetischen Terrains“, sowie – letztmals aber mit Nachdruck auf die Ausstellung in Marbach. Lustigerweise heißt diese auch genau so: „Arno Schmidt? - Allerdings!“