»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

FRANKENFURT

Die westliche Trasse bleibt den Juni über gesperrt wegen Bauarbeiten. Die einzige Verbindung nach Frankfurt führt jetzt über Erfurt, eigentlich die privilegierte Sprinterstrecke, doch muß man dort umsteigen. Schade, dass es dort, am Hauptbahnhof von Erfurt, nach 20 Uhr keinen mehr gibt, der mir Bratwürste verkaufen will. Ausgerechnet die Bratwürste, das einzige, was ich an Thüringen typisch fände und pop, gibt es dort nicht. Lange Schlange vor Mc Donalds.

Der Bahnhof wird von der Abendsonne durchflutet. Die Menschen hier haben Piercings und ausladendende Tättowierungen im Steißbereich, wie man es sich vorstellt. Es ist jetzt schon eine Epoche lang her, seit dem Mauerjahr 1989, und ich kann es noch immer nicht glauben. Es rührt, rüttelnderweise an meinem Heimatbegriff. Was übrigens, abseits der Würste, auch die Brunnenkresse betrifft: Die wurde hier, im Erfurt des 19. Jahrhunderts, für die Franzosen angebaut und gezüchtet, weil die in ganz Frankreich verfügbare Ernte nicht ausreichte für den Appetit auf Brunnenkresse in der Grande Nation—was ich sogar noch vom heutigen Standpunkt her verstehen kann, denn auch mein Appetit auf dies delikate Sumpfgemüse ist groß. Wie ich also lese, gibt es nur noch einen landwirtschaftlichen Betrieb in der Schweiz, der heute noch Brunnenkresse anbaut. Jedenfalls berichtete das Jakob Strobel Y Serra, dessen Restaurantkritiken ich eigentlich vom Fachlichen her ablehne; doch findet sich manchmal unter all seinen Perlen halt doch etwas brauchbares.

Es hat 38° Celsius, das meldet die altmodische Digitalanzeige über dem Schuhladen auf der Münchner Straße. Vor dem Café Mozart läßt es sich aushalten. Ein Paar, beide ganz in Orange gekleidet, beide mit arschlangem Haar—seltsam, dass Du dann gleich an »Sekte« denkst. Wärst Du in den Vereinigten Staaten zuhause, wäre die Assoziation »Todestrakt«.

Bei Samen Andreas gibts Mädchenaugen. Ich hätte schon gerne eine Mitschrift des Blumenhändlers, bei dem Farid Bang und Kollegah ihr Gesteck für Auschwitz in Auftrag gegeben haben.

Morgen geht’s los.

Clareana

Eine EMail von Julia Kristeva, eingetroffen kurz nach Mitternacht, kann ich gar nicht anders lesen als zeichenhaft. Vorbei sind die Tage des Dämmerns in der Talstation. Nun geht die Reise endlich los.

Ich bin gespannt auf die hoffentlich so ganz anderen Vogelstimmen beim ersten Morgengrauen in Sofia. Einmal, da erwachte ich nach einem zwar sehr komfortablen, aber doch halt auch langen Flug mit der Nachtmaschine von Barcelona nach Lima in einem Hotelzimmer dort in San Isidro. Hinter den gelben Vorhängen standen die Balkontüren offen und draußen herrschte ein unheimliches Geschrei. Ich nahm meine Tablette ein, Diamox, und schaute durch einen Spalt: Das Haus war am Rande einer wunderschönen Grünanlage, dem Park El Olivar erbaut. Auf dem Rasen gingen in dunklem Grün gekleidete Gärtner umher. Die Rasenmäher stießen mopedhaft bläuliche Wolken aus. Und die dunklen Kronen der Bäume waren all überall mit grasgrünen Vögeln wie von Früchten besetzt. Es gab nur diese grünen Vögel. Und diese Vögel hatten nur diesen einen Schrei, den sie in einem ihnen gemeinsamen Rhythmus ausstossen konnten. So wurde mir ihr Atmen sichtbar gemacht.

Diamox, ein Mittel gegen die Höhenkrankheit, hat die Nebenwirkung, das sich der Geschmackssinn verwirrt. Selbst ungemischte Informationen wie die Süße des Zuckers kommen als etwas vollkommen verzerrtes im Bewußtsein an. Ich bestellte mir einen Käsetoast mit Coca Cola zum Frühstück. Nichts schmeckte wie etwas, das ich zuvor schon einmal probiert hatte. Auch Milch nicht. Zusammen mit dem Bild der grünen Vögel vor Augen war ich in Peru in einer anderen Welt.

Água

Terra

Fogo

Ar

Serbelnde Palmen

In der kleinen Bar hinter dem Zunfthaus Zum Rüden erzählte Sébastian von der Lage in Nizza. An der Côte d’Azur hat sich eine fremde Art von Käfern verbreitet, die tief in die Stämme der Palmen eindringt und dort im Kern durch Fraß derartig Schaden bringt, dass bloß noch Fällen bleibt.  So ist wohl, so Sébastian, von der Allee am Boulevard des Anglais entlang bis schließlich in sein privates Zentrum, dem Garten seiner Urgroßmutter, der rings um eine ebenso uralte Palme angelegt ist, binnen weniger Monate eine Kindheitserinnerungslandschaft durch Rodung stark beschädigt worden. Der Käfer, so vermuten die Franzosen, wurde aus Asien eingeschleppt. Wie wohl auch eine nun in den Alpes Maritimes ansässig gewordene Hornissenart, die aus Japan stammt, braun ist, und stark pelzig, vor allem aber ungefähr doppelt so lang und stark wie die europäische. Von der wiederum weiß man—woher genau, die Quelle, war Sébastian nicht en détail bekannt—dass die Japonica Nr. 1 zusammen mit einer Lieferung von Keramikgeschirr aus Tokyo nach Marseille eingeschifft worden war. Versehentlich. Gut möglich, dass es mit dem Palmenbeisser ähnlich gelaufen ist.

Het Melkmeisje

Kaum war ich ein paar Tage verreist, verändert sich die Wohnung bis zur Unkenntlichkeit. Aber klar, die Fensterputzer waren da. Es ist ja dem Kalender nach Frühling. Zeit für den sogenannten Frühjahrsputz. Sämtliches von den Fensterbänken steht nun auf dem Fußboden in Stapeln. Es sieht so nicht unbedingt besser aus, so wie ein Mensch, der sich einer Schönheitsoperation unterzogen hat auch nicht jünger wirkt, aber anders. Ich zweifle, ob ich die Bücher denn jemals wieder auf die Bänke zurück räumen sollte. Andernfalls brauchte ich wohl ein Bücherregal. Und einiges kann, von diesem Zustand der Lagerung aus betrachtet, mit endgültiger Wirkung der Wohnung verwiesen werden. War mir, an den angestammten Plätzen aufbewahrt, nicht aufgefallen. Wie denn auch—von Peter Sloterdijk erhielt ich einst den Haushaltstip, dass man sich die meisten Möbel bloß anschafft, um sie zum Verschwinden zu bringen (durch Abnutzung deren Reize im alltäglichen Gebrauch.) Gilt demnach auch für Steine und Federn, getrocknete Blüten, Münzen, Baumrindenstücke, ausländische Kronkorken, Herbstlaub, vollgeschriebene Notizbücher, Bruchstück vom Schwanz eines aus Elfenbein geschnitzten Krokodils, getrocknete Babyquallen, Schneckenhäuser, Taschenfahrplan der Heidekrautbahn, Wachswürfel geknetet aus Babybelhüllen, eine elektrische Kakerlake, zwei sehr trockene Zweige, Seifenschachtel, Amseleierschalen, Blässhuhneierschalen, Schwaneneierschalen, Kormoraneierschalen, versteinerte Kamelkotperlen, Murmeln, Schrotkugeln, Schnur.

»Wie der Hirsch nach frischem Wasser, dürstet es mich nach Reglement«, schrie(b) Alfred Krupp in sein Tagebuch. Bei James Joyce war es noch eine Seife, die morgens am Himmel empor steigt. Wegen Sunlight, so hieß die Seife (Sunlicht bei uns.) Und heute—eine Tiefkühlpizza?

Mein Nachbar schickt eine Einladung meiner Eltern zu ihrer Goldenen Hochzeit per Post an mich. Weil die irrtümlich, obzwar von meiner Mutter Hand korrekt adressiert, bei ihm eingeworfen ward. Wir wohnen, wie gesagt, in direkter Nachbarschaft, parallel nebeneinander, Tür an Tür. Irritierenderweise hat die Person, die im Literarischen Colloquium die Briefumschläge beschriftet, eine der meiner Mutter sehr ähnlich sehende Handschrift. Der Effekt, in dem ersten Umschlag einen, wenn auch kleineren, aber mit identischer Adresse in sehr ähnlicher Handschrift beschrifteten Umschlag zu finden ist zumindest quasiliterarisch.

Dann saß in der Bahn direkt neben mir ein Mann mit drahtlosen Ohrhörern, die mit seinem Telephon verbunden waren, sodass ich gut beobachten konnte, was er damit hörte. Er durchsuchte das Angebot an Podcasts und sein Suchwort war »Zeitungen«. Da gab es aber nur Angebote der taz. Daraufhin versuchte er es mit »Zeitschriften«. Auch da sah es mau aus. Innerlich seufzend gab er dann »Sales« ein und begann dann wohl einem Motivationskurs zu lauschen. Dieser Mann war als Leser noch nicht verloren. Allerdings halt nicht im klassischen Sinn. Ihn dürstete, sich Zeitungen anzuhören.

Mußte mir gleich eine Zeitung kaufen und ganz durchlesen. Als Gegengewicht zu dieser Welt.

Die aufgehobene Fesselung ans Irdische

Mit der Schwarzwaldbahn von Baden-Baden bis nach Konstanz: in den Tälern hingen die Kirschbäume voll mit den gelb-roten Kirschen zwischen dem dunkelgrünen Blattwerk, auf den Wiesen lag zum Trocknen wie ausgebreitet das gemähte Gras—auch Heu wird gemacht.

Um den Bodensee herum durch Kreuzlingen bis nach Frauenfeld. Was wohl die Einwohner von Kreuzlingen gefürchtet haben im zweiten Weltkrieg und davor? Dass die Deutschen über die Grenze brechen werden; dass sie, wie die Laoten im Vietnahmkrieg, angeblich versehentlich bombardiert würden? Im Thurgau dann ein Sommerwetter bester Qualität.

Wir saßen im Zelt des Turf-Clubs an einem Tisch mit dem Präsidenten des Thurgaus, der sich als Turi Schallenberg vorstellte. Der am Nachbartisch postierte General des Schweizer Militärs hatte ein Namensschild an seiner dezent dekorierten Brust, von dem hatte ich geglaubt, denselben Namen abgelesen zu haben—ob sie beide Brüder seien?

Nein. Der General heiße Schellenberg, sagte Schallenberg »Me I am Soundmountain. He is Bellmountain.«

Zum Mittagessen gab es Tafelspitz und Kalbshackplätzli mit Schupfnudeln. Dazu Pilzsauce. Später Fruchtstängeli, Kaffee. Ich hielt dem Pferd vom vergangenen Jahr die Treue (Nimrod). Sentimentalitäten zahlen sich nicht aus. Verlust: 20 Franken. Nimrod jagt als dritter durchs Ziel (von vieren.)

Abschluß wie im vergangenen Jahr: Das gemeinsam gesungene Thurgaulied um 16 Uhr. Eine Abgeordnete der SVP steckt uns den Liedtext zu. Die am unteren Ende des Leporellos aufgedruckte Parteiwerbung (ein von Strahlen umkränztes Schweizerkreuz geht hinter den saftigen Hügeln des Thurgaus auf) trennen wir freilich ab. Mir überreicht Präsident Soundmountain noch kassiberhaft ein auf Mikrofiche ausgedrucktes, unparteiisch-neutrales Exemplar. Auf Nachfrage behauptet er, die Hymne seines Kantons selbstverständlich auswendig singend zu beherrschen; den Mikrofiche-Spickzettel trage er überdies rein vorsorglich für Fälle wie diesen, wie mich, in der Innentasche seines Jacketts bei sich. Allerdings muß hierzu festgehalten werden, dass er dann bei tatsächlichem Absingen des Liedes den Text vom Display seines ebenfalls in der Innentasche seines Jacketts mitgeführten Smarties ablas. Zumindest die Strophen. Denn der Refrain des Thurgau-Liedes, das, wie es uns unter anderem vom Präsidenten des Turf-Clubs Heinz Belz, aber halt auch von General Bellmountain und vom Landespräsidenten Soundmountain glaubhaft versichert worden war, wichtiger sei als die Schweizer Hymne, lautet auf »La La La, La, Làlà-là, La La«—heiter, aber auch andachtsvoll. Allerdings gibt es halt 21 Strophen.

Bei Sonnenuntergang dann noch am Uthoquai im Zürisee gebadet. Und am nächsten Tag, der noch viel heißer wurde, in der Limmat. Gleich hinter dem Stauwerk, wo wir uns im smaragdklaren Wasser des Flusses bis in den sogenannten Rechen hinein treiben lassen konnten, wieder und wieder. Ein Kletterer stieg dort vom Ufer aus in Badehosen an der Fassade eines Fabrikgebäudes hinauf, stellte sich auf den schmalen Sims eines zugemauerten Fensters und sprang dann in einem Back flip in die Flut. Applaus, als er nach ein paar Augenblicken seinen Kopf durch die Wasseroberfläche steckte. 

Diese Freiheitsgefühle entstehen nur während des Sommers in der Stadt.

Ye-Me-Lê

Die Sonne geht kurz nach vier auf. Manchmal ziehe ich die Vorhänge nicht vor die Fenster, wache dann, wie heute, zu dieser Stunde auf. Wie damals in Afrika.

Kein einziges von Menschen gemachtes Geräusch, kein Auto. Von links her das von mir als majestätisch empfundene Krähen der Krähen. Das klingt für mich so, als könnten die damit den Erdball überziehen. Weil es wie ein Echo klingt. Dazwischen, sozusagen, vernehme ich für mich sogenannte dumme Lautäußerungen: Meisen und Stare, die einfach bloß melden, wo sie sitzen; dass ihnen der Platz dort gehört.

Der Nachtigallenhahn, er hat wohl noch immer nicht einen Geschlechtspartner gefunden, grölt ohnehin die gesamte Dunkelheitsphase hindurch bis in diese Stunden— allerdings in seiner musikalischen Sprache, die mir alles andere als belästigend klingt. Es wird ja nie langweilig. Seine Melodie kann er endlos und anscheinend fantasievoll variieren.

Dann erscheint bald in der Mitte des allgemeinen Konzerts ein Amselhahn mit seinem Lied, das ich mir nicht merken können werde, weil er es endlos, aber für mich niemals nachvollziehbar interpretieren kann. Und dennoch erkenne ich es, erkenne ich ihn daran, sogleich.

Sie alle werden bald tot sein. Und es werden andere Sänger und Schreiproduzenten und Vogelmelodieninterpreten kommen, die ihren Platz einnehmen werden in den Baumkronen vor meinen Fenstern. Für mich als User wird das keinen Unterschied machen. Sie werden singen den universal song of the birds.

Blackbird sings in the dead of night
Take this broken wings and
Learn to fly

Dazu braucht er eine vergleichsweise riesige Gitarre.

Lino hat sich im Innenhof einen kleinen Platz eingerichtet, da stehen zwei Liegestühle im Schatten. Vor zwei Jahren hat seine Frau die Lunge eines anderen Menschen (ob von einer Frau, oder von einem männlichen Wesen, weiß ich nicht) eingenäht bekommen. Seitdem können sie nicht mehr in die Heimat verreisen zum Urlaub. Ich fragte ihn gestern, ob er meine Geranien gießen könnte, weil ich heute ins Thurgau verreise (Pferderennen). Lino sagte: Gerne. Ich mag Blumen.

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