»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

14.1.2019

Landschaft im Wind. Kurz nach drei Uhr war ich aufgewacht von dem Geräusch und konnte nicht mehr wieder einschlafen; lag da und lauschte dem Wind. Die App zeigte den Wind an mit einem seltenen Symbol: gewellte Linien, von denen die zuunterst dargestellte sich einrollt wie ein Bischofsstab oder der Trieb eines Farns. So tief ins uns eingeschrieben ist das Wissen um die Erscheinung des Windes, das man ein abstraktes Symbol unzweifelhaft begreift. Die App zeigte in der Vorschaufunktion der Tagstunden auch einen Slot an, in dem die Sonne durchscheinen würde, bevor es sich zuziehen würde am Himmel nach Mittag. Ein Gang in den Wald schien mir angezeigt. Lange war ich nicht mehr dort gewesen. Wußte schon nicht mehr, wie er ausschaute.

Und erkannte ihn dann auch nicht wieder. Im Eingangsbereich war ein Schild aufgestellt, auf dem mitgeteilt wurde, dass derzeit die Holzernte eingebracht wird. Vor und hinter den Geräten habe man »einen Abstand von 50 Metern« einzuhalten. Was mir aber gleich nicht möglich war, denn eins der Geräte wurde direkt hinter diesem Schild betrieben. Holzernte ist vom Prinzip her nichts anderes als Mais- oder Getreideernte, bloß sind halt die Halme vergleichsweise riesenhaft. Baumstämme werden deswegen mit riesenhaften Mähdreschern geerntet. Deren riesenhafte Profilreifen hatten den mir in seiner ursprünglichen Version vertrauten Waldweg in einen artisanal-brotkrustenhaft geprägten Hindernisparcours verwandelt. Entlang der nicht kurzen Strecke durch den deutlich gelichteten Wald meiner Erinnerung türmten sich linkerhand die Packen mit dem geernteten Holz. Es war mir in den vergangenen Zeiten nie wirklich klar gewesen, dass dieser Wald, den ich mir zur Freude aufsuchte, im Kern ein Feld war aus Bäumen, die dort zum Zwecke der Holzgewinnung wuchsen. Ganz schön naiv.

Meine Privatplantage mit dem Wellingtonienkeim hat ja leider über die Stille Zeit das Zeitliche gesegnet. Stattderen wächst nun aus dem Topf eine Eiche, die schon vier ihrer charakteristisch geformten Blätter zeigt. Da ich mit dem fünfzig-Pfennig-Stück aufgewachsen bin und von daher mit dem Bild der eine junge Eiche umsorgenden Frau, die übrigens ein Kopftuch aufhatte, etwas wie Wert verbinde, bringe ich es nicht fertig, die Eiche in spe wegzuschmeissen. Auch nicht, wo mir doch jetzt drastisch vor Augen geführt worden ist, wohin Baumwachstum im Endeffekt führen kann.

Am See schwebten die Möven kunstvoll im Wind, surften seitwärts durch die Lüfte, manche standen einfach still in der Luft bei ausgebreiteten Flügeln. Ich machte ein Foto von der Wirkung des Windes, bei dem mir der Apparat ins Flattern kam. Aber auf dem Bild war der Wind selbst natürlich nicht zu sehen.

13.1.2019

Es stimmt übrigens überhaupt gar nicht, dass es hier im deutschsprachigen Internet »überall nur so wimmelt« von Tagebüchern. Ich beschäftige mich ja jetzt schon seit ein paar Jahren mit dieser Sache und: bis dato kenne ich original* genau drei Stück, deren Fortgang ich dann auch täglich verfolge: Kemp, Klink, meines natürlich und seit neuestem: Haupt.

Warum aber ausgerechnet Klink, mag sich da jetzt der Leser fragen. Nun: Mich interessiert das Kochen. Einerseits. Zudem ist Vincent Klink nicht allein Schwabe, wie ich, sondern wahrscheinlich auch der letzte gute Koch, der sich darüberhinaus in seinem Metier auch für Literatur interessiert.

Und so kommt beides zusammen: mir ist nämlich aufgefallen, dass es unter den Menschen, die eigentlich meine Leser sein müßten, erschreckend viele gibt, die überhaupt gar nicht mehr wissen, wie das gehen soll: Kochen. Und dass es unter den vielen Köchen unter meinen potentiellen Lesern erschreckend viele geben dürfte, die überhaupt gar nicht mehr wissen, wie das gehen soll: Lesen. Daran darf ich freilich überhaupt gar nicht denken.

Vincent nun, wir kennen uns nicht persönlich, bloß durch das Tagebuch, hat eben dort (wie es in der Philologie so schön heißt) vorgestern ein Rezept veröffentlicht für eine winterliche Suppe. Und deren Verschriftlichung erschien mir als Anlaß zu folgender Erklärung für Millenials und Digital Nomads:

Anscheinend handelt sich es um ein einfaches Rezept. Auf der Zutatenliste stehen eine Stange Lauch, Wasser, sowie Salz (und Würzl, eine Art Suppengewürz ohne Hefesubstrat; man könnte auch das übliche namens Vegeta einstreuen, oder etwas in dieser Art. Aber ich empfehle das hochwertige Würzl, ein staubiges Granulat, das man in beinahe jedem Biosupermarkt tütenweise bekommt und daheim in ausgespülte Marmeladengläser umfüllen könnte zum Bleistift.)

Blogger aufgepasst: Diese Suppe sieht halt hinterher sogar richtig super aus (laut der Website vom Farbmischer Pantone: »Das menschliche Auge sieht mehr Grün als jede andere Farbe. Die Farbe von Blättern, Gras und wachsenden Pflanzen, vollen Bäumen, saftigen Rasen und kletternden Reben, die Farbe der Wälder und des Dschungels, der Elfen und Kobolde, die Farbe Irlands und des St. Patrick’s Day: Grüne Töne treten in unserer Welt in so vielen Facetten auf, dass sie ganz unterschiedliche Stimmungen wiedergeben können.«)

Gut. Also wie rührt man diese, offenbar synästhetisch krass reinsmashende Brühe an?

Vincent Klink gibt sich bedeckt. Aber er steht halt auch schon in seinen Siebzigern und kann sich von daher kaum vorstellen, dass es mittlerweile eine fette Generation von Deutschen gibt, die nicht einmal mehr wissen, wierum man ein Messer hält. Wenn er beispielsweise schreibt, dass er besagte Lauchstange »ganz klein« schneidet, fragen sich sehr viele: wie denn genau?

Demzufolge: Wie klein jetzt, in welcher Form einer angegebenen Kleinheit—würfelig, halbmondhaft, oder etwa in diese nicht mehr für das bloße Auge erkenntliche Partikelform?

Meine Antwort, aus Erfahrung gespeist: egal. Generationen von Nachkochern wurden schon in die sogenannte Irre geführt vermittels der Anweisung etwas »in Scheiben« zu schneiden. Wobei ja jedem gesunden Mensch bei seinem Denken an Scheiben blitzhaft etwas rundlich geformtes vor Augen steht. Köche aber—seit es Kochfernsehen gibt kennt man deren Lingo und weiß von daher unbewußt, dass die auch französische Fachbegriffe aufgrund ihrer déformation professionelle wie Japaner aussprechen, also Bèchamel statt Béchamel usw,—meinen, wenn sie von Scheiben reden, grundsätzlich: Stückchen.

Die vom Lauch geschnittenen, manche werden sie gehackt haben, werden in—so rät es Vincent, dabei auf seine Faulheit rekurierend—in Olivenöl angebraten. Sanft übrigens, auch wenn noch viel zu oft und überall »schwitzen« gefordert wird. Ist übrigens ein hochinteressantes Genre: Was Köche für sich selbst nach Feierabend kochen. Aus diesem Genre stammt ja diese Rezeptur von Vincent Klink. Was essen denn diese Hochleistungsarbeiter, wenn sie zehn bis zwölf Stunden lang für andere gekocht haben? Mir hat einst Siegfried Roggendorf, den ich kurz vor seinem Tod noch sprechen durfte, folgendes verraten: Marzipan, Leberwurst, dazu Bordeaux.

Dem Rat zu den angerösteten Brotstücken, den Vincent Klink freilässt in seinem Rezept, sollte man wirklich Folge leisten. Obwohl er zugibt, sich selbst diese Gnade nicht zuteil werden zu lassen aufgrund von Faulheit nach zwölf Stunden am Herd. Die Suppe wird dadurch nämlich echt genial.

Für Fritz Schmidt-Garré

* Zitat: Moritz von Uslar

12.1.2019.

Arbeite am Vorwort für die Buchausgabe von René Kemps Tagebüchern, die Marc Degens besorgt, und soll dabei wohl über dieses sogenannte Genre nachdenken, in dem ich selbst Punktpunktpunkt

Rahel Varnhagen schrieb tausende Briefe. Es war ihre Form. Geht das?

Andererseits erfahre ich aus einem derartigen Brief Friederikes an eine konzeptuell reduzierte Öffentlichkeit, dass ich selbst mich in Bälde als Olivenbauer im aramäischen Teil Israels (kann gut sein, dass ich bezüglich des exakten Wordings  dieser Gegend in den nächsten Tagen noch so einige Verbesserungen oder gar Verschlimmbesserungen werde einbringen müssen zu haben, weil ich halt vom sogenannten Konflikt in Nahost usw usf) zur Ruhe werde setzen können (gärtnenderweise.) Selbst für die dortzulande wesentliche Bewässerungsfrage wird angeblich gesorgt sein. Mir soll das alles recht sein. Meine Mutter fragte mich gestern am Telephon »Wie schaut es bei Euch aus mit den Vögeln?« Ich kenne außer Friederike niemanden, der sich dafür interessiert.

11.1.2019

Tag des Apfels. Welch‘ ein Tag—so würde ich gerne empfinden, mit diesem Gefühl ging ich gestern zu Bett, aber leider hat sich das Hochgefühl nicht in den nächsten Tag hinüberrettenlassen: Gestockt, regelrecht abgeschreckt fand ich mich heute früh im Angesicht des gestern noch angeblich Erreichten. Nichts davon gut genug, alles von vorn aber auch nicht, es steht an die quälende Arbeit am hier und am da, die doch leider, das lehrt die Erfahrung, kein Ende nimmt.

Woher überhaupt diese Lust auf ein Ende? Weil Arbeiten »grässlich ist«, wie Jan mir einst sagte? Nein, nicht für mich. Wenn es läuft, soll die Arbeit doch gerade kein Ende nehmen. So aber, in der Unsicherheit herumstochernd, besser ohne mich.

Ausflüchte: stimmt schon, ich hatte die Zeitungen vernachlässigt, und in der Zeit—übrigens eine schöne Entsprechung des Buches von Bulwer-Lytton, wenn jemand in den Zwiebelfisch kommt und dann sitzt dort jemand hinter einem monströs hohen Blätterwerk und liest nicht etwa nur über seine, »meine Zeit«, nein gleich die Zeit an sich und die Zeit aller an sich. Maxim Biller erzählte dort vom Finden eines Albumtitels für Malakoff Kowalski. Fühlte mich direkt eingeladen, die Zeit war von gestern, noch einen Vorschlag zu machen (per SMS), den Malakoff aber »Horrible« fand (mit drei Ausrufezeichen.)

Daheim dann im Wechsel das dritte Programm des Hessischen Fernsehens und das des Südwestfernsehprogramms. Wenn ich Heimweh habe, oder mich bloß wegträumen möchte aus dieser Welt, oszilliere ich zwischen den Dritten. Von der Tagesschau abgesehen (sic) wird es früher oder später sowieso dazu kommen, dass bloß noch für die Dritten bezahlt werden muß. Und das meiner Meinung nach auch zurecht, dort ist Fernsehen für mich. Im Vorabendprogramm werden Tierheimsdirektoren befragt, es werden saisonale Torten gebacken, man erfährt Weisheiten wie »alte Apfelsorten wie Berlepsch sind für Allergiker ungefährlich«, es geht also im Grunde so zu wie daheim, in der Herkunftsheimat: bißchen einschläfernd, auch langweilig, bißchen anstrengend manchmal, aber mir bereitet es an unfreundlichen Tagen das heimelige Gefühl. Für Gottfried Benn waren es Kriminalromane, mir sind die Dritten »Radiergummi fürs Gehirn.«

Auf ihrem Blog der Sezession schreibt Ellen Kositza, dass in Schnellroda seit kurzem die Tagesschau verfolgt wird. Sie nennt das »den Tiger reiten« und erwähnt natürlich auch das Unverständnis von Götz Kubitschek, der im Vorbeigehen auf dem Bildschirm die notorische Werbung für das Reizdarm-Mittel mitbekommt und daraufhin eine neuartige Kulturdeformation feststellen muß. Na ja. Wahrscheinlich schauen die sich dann heimlich die »beißende Mediensatire« über die Verlegerfamilie Labaule an, die »nach einer Idee von Harald Schmidt« in sechs Folgen produziert wurde. Und finden die gar net übel.

Ich ja leider schon. Um 20 Uhr 15 kommt eine neue Folge der Inselärztin im Ersten. Also nur verschwindend viel besser als die. Und in Württemberg breitet sich die Blauzungen-Krankheit aus.

10.1.2019

Freunde erkennt man jetzt daran, dass sie einem nicht »Frohes Neues Jahr« wünschen. Oder in der Grauzone halt so, wie Marcel gestern im Souterrain, der dann auf die ihm eigene und mir liebgewordene Art den Sermon sotto voce und im Grunde vor allem pantomimisch, gestisch eher, aber dies im Gesicht, zitierte, als Zitat eines den anderen, uns nicht näher bekannten, abgeschaut.

Der Fotograph, den ich dort zum ersten Mal seit der von ihm so genannten Silly season wiedersah, fühlte sich vom Wetter niedergeschlagen: »Tief Benjamin.« Under the weather ist ja wohl nautischer Begrifflichkeit entwachsen; man trug die der Krankheit verdächtigen Matrosen in das Logbuch ein, und weil es bei den Ansteckungsmöglichkeiten rasend schnell viele wurden, brauchte es den Übertrag der Namen in eine Spalte des Buches, die dort eigentlich für die Notizen zum Wetter vorgesehen war. Seiner erschien also under the weather.

Trotzdem blieb es dabei, dies wurde bekräftigt: Es wird ein Jahr der Kunst. Und wir halten es mit John Baldessari.

Friedrich Merz rief ja erst kürzlich in den Saal als Aussprecher eines von ihm so vernommenen Volkswillens »Lasst uns doch einfach in Ruhe arbeiten!« Wobei er vermutlich »Geld verdienen« meinte. Ich aber bleibe bis auf weiteres bei seinem Wort, wie ursprünglich gegeben.

9.1.2019

Restauration »Wendel« am Richard-Wagner-Platz: Hier kommt man normalerweise nie hin, hier will man—normalerweise—sofort um die Ecke wohnen; leben. Hier will man: sein. Der Koch, August-Sander-Gesicht, steht in seiner Uniform untätig vor einer silbrigen Wand. Über ihm die Esse aus punziertem Blech. Das Zeitmagazin kommt nächste Woche vorbei für ein Shooting.

Das ganze geht zurück auf eine Raststätte für Kutscher namens »Dellner’s Am Knie.« Der Turm des Rathauses, aus den allergröbsten, den ansonsten weggeworfenen oder einfach gleich dort, wo sie gewachsen waren, im Erdreich, gelassenen Gesteinsbrocken gefügt, er steht noch immer (so wie die Poster, sie hängen auch lange nach Cindys Auszug in ihrem Zimmer.) Er wird sogar angestrahlt, gelblich, im EG leuchten die Reklamen für »Augenoptik«, für »Tchibo« und für »Fascinating Family.« Und es glänzt die Otto-Suhr-Allee. Die Butzenfenster haben Männer mit Lutherkappen in Rot, die anscheinend von frühen Tablets ablesen.

Im Schaufenster stehen Flaschen im Vogelsand, die, noch aus Mauerzeiten stammend, beschriftet sind mit dem Slogan »Trinkt Berliner Bier.«
Kennt ja heute kaum jemand mehr, diese Zeiten, als die Eier hier im Westteil noch vorwiegend aus dem Ostteil der Stadt her geliefert worden waren.

Ein bunter Drachen hängt im Baume fest. Seine Fransen wirbeln müd herum. Ich staune. Unter anderem darüber, dass, wie ich dem Bildschirm entnehme, nur wenige Kilometer von diesem beinahe versunkenen Ort entlegen, an der neuesten Küchenphilosophie der low intervention gearbeitet wird. »Für Boris Lauser, Raw-Food-Chef, Culinary Artist und Buchautor war Leitungswasser schon immer ein wichtiges Thema.« Und im Wendel gibt‘s, allerdings braucht es der Nachfrage, Stampf mit Sauce und Kloß.

8.1.2019

Schreien im Nieselregen: wohl das unerträglichste in dieser Stadt, Berlin, dass keiner schreit, obwohl die meisten in der Ringbahn danach aussehen; als ob einer gleich schreit. An nächster Stelle: das Wetter selbst. Seidig grau, wie aufgebläht dieser Himmel weit oberhalb der Sonnenburg. Die Leute stehen für Kettwürste an.

Hier, wo man den Kiez noch mit tz zu schreiben pflegt, irrt eine Frau am Steuer ihres Porsches, malvenfarbend, durch die nieseltrübe Welt. Hier also befindet sich ihr Frauenarzt, eine Notapotheke, ein Fachgeschäft für exotische Lebensmittel? Im Feuilleton schreibt Jürgen Kaube furios, kühl über den Religionsunterricht. Und inmitten des Ganzen, auf meinem Tisch ein schmales Paket. Darin der Stempel eines goldenen Hasen. Vor Jahren für mich gekauft in London. Irgendwie in Vergessenheit geraten. Nun aus nicht näher beschriebenen Gründen wiedergefunden und in lilafarbenes Seidenpapier gewickelt an mich verschickt.

Dieses Irgendwie interessiert mich natürlich. Doch auch der Stempel ist schön.

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