»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

5.8.2019

Meine Mutter berichtet mir am Telefon, dass mein Heimatdorf Heimerdingen jetzt tatsächlich vor allen anderen im Umkreis zum Testgebiet für «schnelles Internet» ausgewählt wurde. Schon Ende 2019 soll es soweit sein. Zusammen mit der Anbindung an das Verkehrsnetz von Stuttgart durch das sogenannte Bähnele, von dessen behaglicher Reisegeschwindigkeit durch Wiesen und Wälder ich mich neulich erst selbst überzeugen lassen durfte, und der Aussicht auf Internetverbindung gibt es eigentlich keinen Grund mehr, nicht in Heimerdingen zu wohnen. Ob das die Lesegewohnheiten meiner Eltern verändern wird, kann ich momentan nicht abschätzen. Auch nicht, ob eher meine Mutter oder doch mein Vater zum Internetjunkie werden wird. Einstweilen haben sie zwei Tageszeitungen abonniert. In der Süddeutschen steht heute im Feuilleton eine sehr erfreuliche, auch analytische Rezension des Bonn-Büchles. Die Freude schäumt und reist von Hörer zu Hörer, von Heimerdingen bis hierher nach Berlin. Ausserdem brauchen meine Eltern die abgelegten Zeitungen auch für die Heizperiode, um den Kamin anzufeuern.

4.8.2019

Ich nehme an, der Tick ist weit verbreitet, aber bei der Erwähnung historischer Persönlichkeiten muss ich geradezu nachrechnen, wie lange sie gelebt haben. Schon seit ich lesen kann geht das so und mittlerweile hat mein Ausrechenzwang sich von den Persönlichkeiten auf sämtliche Personen ausgedehnt: sobald ich auf einen Satz von Geburts- und Sterbedaten stosse, rechne ich anhand des willkürlichen Beispiels aus «wie lange mir noch bleibt». Im Mittel (Ernst Jünger als extreme Obergrenze angenommen) bleiben mir derzeit noch 25 Jahre Lebenszeit, die ich aus Darstellungsgründen auf 24 Jahre reduziere, dann steht mir ein schon zu zwei Dritteln gelebtes Leben sauber vor Augen. Daran schliesst sich für mich die Frage an nach der Erlebnisqualität im künftigen Drittel—mir geht es ja nicht um Länge, ich bin kein Statist, sondern um Tiefe. Im Sommer vor zwölf Jahren wurde das iPhone zum ersten Mal verkauft. Scheint unendlich viel länger her.

Die beiden Setzlinge, die ich aus den israelischen Samen gezogen habe, wachsen beunruhigend langsam, sie fordern mir Langmut ab und ich kann mir nicht vorstellen, wie daraus in bloss 50 Jahren diese blühenden Bäume am Rothschild Boulevard entstanden sein sollten.

Der Luftdruck liegt seit Tagen konstant bei 1005 Hektopascal.

2.8.2019

«Wohin ich sehe, Wechsel und Verfall.»

In der Zeit unterhalten sich der kulturpolitische Korrespondent der Redaktion Ijoma Mangold und der Redakteur im Feuilleton Lars Weisbrod über den neuen Werbespot für Porsche. Mich interessiert vor allem, wer von beiden das Band abgetippt hat.

Der Stern titelt «Atlantis der Nordsee».

Lese «Scoop». Spielt im England, das der Premier Johnson vorgeblich will.

1.8.2019

Die Japaner erlauben sich nicht allein das Züchten von Mischwesen aus Schweinen mit menschlichen Organen, sie haben auch (einige von ihnen) eine Prothese entwickelt, mit der es dem Menschen leichter fällt, sein Gleichgewicht zu halten. Es handelt sich um einen pneumatischen Schwanz. Er wird an der Rückseite des Trägers angeschnallt, ungefähr an der Stelle, wo die Menschen einmal tatsächlich ein Schwänzle hatten. Bei Männern wie Frauen zeugt bis heute ein kleines Fell an diesem Fleck von der Lücke, die von der Fortentwicklung gelassen wurde. Jetzt geht es in Japan dorthin zurück, zumindest partiell. Das Demonstrationsvideo für den künstlichen Schwanz, der unter dem Namen «The Arque» vermarktet wird, zeigt, dass man mit dem Schwanz besser die Treppen hochsteigen kann, wenn man sehr viele Amazon-Pakete zu tragen hat. Es geht halt voran. Ob scheinbar nach vorne oder anscheinend rückwärts ist eigentlich egal.
Getränke Hoffmann, immer der Inbegriff des Berliner Proletentums hat sich jetzt umbenannt und heisst anbiedernderweise «Mein Hoffi». Soll vermutlich an Späti erinnern.

Um die Ecke kommt eine Dame mit grosser Sonnenbrille und einer Frisur wie die bezaubernde Jeanny in Rot. Sie führt einen Afghanen an der Leine. Wegen solcher Stadtbilder bist Du einst hierher gezogen. Sie sind selten geworden.

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