»2020 – Sing Blue Silver«
Blue Silver«
21.1.
Ich saß bis weit in den Nachmittag hinein am Schreibtisch und versuchte mich auf ein Telefongespräch mit Roe Ethridge vorzubereiten. Bis dahin bloß innerlich. Den Stapel der Bücher, Galeriepublikationen und Zeitschriften hatte ich noch nicht angerührt. Die selbstgemachten Mappen, die mir die Schweizer gebracht hatten, eher durchgeschaut als studiert. Wie ließe sich der Komplex des Politischen heute, aber nicht bloß heute, am liebsten komplett, umgehen? War das überhaupt möglich?
Er ist nur drei Jahre älter als ich. Am Morgen war in Texas ein weiteres Zeichen auf der Stele von Tz’unun entziffert worden: Es weist auf einen Herrscher der Maya in der Zeit zwischen dem 7. August und dem 26. Juli hin (beides 639 vor Christus). Ich habe mich vor Jahren für den Newsletter der Entzifferungsgruppe angemeldet und lese die teils mehrmals pro Woche eintreffenden Erfolgsgeschichte sehr gern. Noch nicht einmal zur Zerstreuung. Beinahe wie eine Erzählung, in der immer wieder etwas Ähnliches passiert. Ich war auch schon mal Mitglied der Deutschen Kakteengesellschaft. War auch sehr beruhigend, deren monatliche Mitgliedernachrichten ins Haus geschickt zu bekommen und dann in der ausnehmend schön gestalteten Broschur zu lesen. In der Maya-Gruppe fragte man sich nun, um welchen Herrscher es sich gehandelt haben dürfte. Da sind ja noch tonnenweise Stelen und Steinplatten übrig, auf denen Millionen kleiner Schriftzeichen ihrer Entzifferung harren. Die Maya-Tsolkin, so nennen sich die Schriftzeichen, sind den ägyptischen Hieroglyphen von ihrem Prinzip her ähnlich, dabei aber sowohl hübscher gestaltet, aber vor allem komplexer von ihrem Verschlüsselungsgrad. Auf einer quadratischen Matrix finden sich bis zu vier Elemente, die im einzelnen zwar wiederholt auftreten, aber in ihren Kombinationen auf unterschiedliche Bedeutungen hinweisen. Die Entschlüsselungsarbekt wird zusätzlich erschwert, weil die spanischen Eroberer um Cortez the Killer den Nachfahren der Maya die spanische Sprache oktroyieren wollten. Dafür musste den Ureinwohnern die alte Sprache aberzogen werden, deren Alphabet auch mit diesen Tsolkin festgehalten ward. Um einige Laute, beispielsweise das lispelnde Zischen im Spanischen, durchdrücken zu können, wurden die Alphabete der Maya verfälscht, umgedeutet und, wo nötig: zerstört. Auslöschung der Muttersprache. Zumindest in Teilen.
»Thema für Roe Ethridge?« schrieb ich nicht an den Rand. Als Erik anrief, um mir endlich von den Fortschritten seines work in progress mit den Bleigüssen zu berichten, live, war es bereits dunkel. Er war dort in dem Haus und hatte den Ofen bereits eingeheizt. Ich konnte alles genau vor mir sehen. Es war ja gerade mal eine Woche her. Die Klappe im Boden der Küche. Der Ofen. Die Stille im Garten und der zugefrorene See vor der Tür. Ich erzählte Erik nicht, dass die Bilder Roe Ethridges, gerade drei Jahre älter als Erik und ich, von Larry Gagosian verkauft werden. In der Wikipedia steht, Roe Ethridge besitze ein Haus am Rockaway Beach (wie Klaus Biesenbach).
Wie gern wäre ich jetzt in dem schönen Haus am See gesessen bei einem köstlichen Glas vom Pfirsichwein. Erik erzählte mir neulich, dass er oft daran dächte, wie schön und vor allem unproblematisch es sich in diesem Haus vermutlich leben ließe. Ihm kämen diese Gedanken immer dann, wenn das Leben in der Stadt sich wieder einmal, wie so oft, als kompliziert darstellt. Kann ich verstehen. Sehr gut sogar. Ich hatte ja auch falsche Entscheidungen getroffen und wäre als Dechiffreur glücklich geworden.
Jan Philipp Reemtsma schreibt in seiner Erinnerung an den Keller, dass er auch noch Jahre nach seiner Freilassung aus dem Keller sich manchmal dabei ertappt fand, dass er sich nach dem Keller zurückgesehnt hatte.
20.1.
Gestern war der Techniker vom Kundendienst zweimal da, um den Kopierer zu reparieren. Die Schweizer schneiden den ganzen Tag über Fotos aus. Die Fotos finden sie in Büchern und Zeitschriften, sie bekommen aber auch Fotos zugeschickt von Fotografen, die mit einer Produktion beauftragt wurden. Sie kennen die Prozentzahlen auswendig, also um wieviel Prozent man eine Vorlage, etwas kleiner noch als eine Postkarte, vergrößern muss, um ein Vollformat DIN A4 mit umlaufend weißem Rand zu erhalten. Der Rand dabei immer gleich stark. Der wird dann in einem weiteren Arbeitsgang abgeschnitten. Die ausgeschnittenenen Motive werden in Mappen sortiert, die die Schweizer sich aus weißem Karton selbst anfertigen. Auf die Mappendeckel wird handschriftlich der Name des Fotografen gemalt. In einem weiteren Arbeitsschritt werden aus den Motiven dann Layouts zusammengestellt. Zunächst auf Tischen, bei längeren Strecken auf dem Fußboden. Diese Layouts werden dann im Computer nachgebaut. Ein verkleinerter Ausdruck der im Computer nachgebauten Layouts wird dann an einer der Styroporwände festgesteckt.
Ja, vor dreißig Jahren war das langweilig. Aber jetzt! Vor allem sieht es dann im Druck tatsächlich anders aus. Auf irgendeine Weise schlägt sich dieser Prozess im Effekt nieder. Man weiß nicht, wo, aber man sieht es. Ein Ichweißnichtwas. Wie der Klecks Ketchup in der Bloody Mary. Lässt man den weg, wird der Drink leider bloß halb so gut. Das Ketchup macht etwas, aber wir wissen nicht, was. Die Schweizer verwenden auch einen eigenen Blindtext. Nicht lorem ipsum, es handelt sich um das Protokoll eines Telefongesprächs mit einem Mann namens Brad.
19.1.
Schreiben: Ich liebe es. Und eigentlich sogar beinahe egal, was. Wie ich gestern erst feststellen durfte. Gestern verfasste ich drei kurze Texte, einen über den Kaktus, einen über die Bratwurst, einen über die Socke. Alle drei Mal war es schön gewesen, zu schreiben. Es öffnet sich vom Prinzip her dabei der immerselbe Raum, in dem ich mich aufhalte, während um mich herum dann die Zeit vergeht. Vom Geschriebenen aufschauen und es ist hell. Rainald Goetz hat mal gesagt: »Wenn es geht, ist es gut, wenn es mal nicht geht, ist es nicht gut«. Natürlich ohne das »nicht gut«. Das ließ er weg, und schaute, anstatt etwas zu sagen, vor sich hin. Aber wenn er es irgendwann vorher oder hinterher aufgeschrieben hätte, dann. Vermutlich. Etwas in der Art.
18.1.
Derzeit komme ich täglich an einem Antiquitätengeschäft vorbei, dort steht im Fenster eine afrikanische Skulptur. Sie ist in etwa einen Meter hoch und ähnelt von der äußeren Form her einem Kaktus ohne Verzweigungen (und ohne Topf). Im oberen Drittel der Form befinden sich auf der dem Fenster zugewandten Seite zwei Löcher, die, weil sie parallel und nebeneinander auf einer Waagerechten eingebracht wurden, mich an Augen denken lassen, und daraufhin erscheint mir das Ganze natürlich als Bild eines beseelten Wesens. Das Material könnte Ton sein oder eine andere Erde, jedenfalls ist es von rötlichem Hellbraun. Weder glasiert noch bemalt.
Ich habe das Geschäft noch nie betreten, bleibe aber jeden Tag zweimal vor dem Schaufenster stehen. Wenn es dunkel ist, wird die Skulptur von der Nachtbeleuchtung gelblich angeleuchtet (nicht -gestrahlt). Man würde das Lämpchen mitkaufen wollen, falls. Ich kam da gestern aus dem Lokal Zwiebelfisch, wo ich die Neue Zürcher Zeitung gelesen hatte. In den kommenden Tagen habe ich viel mit zwei Schweizern zu tun, da kommt es leicht zu Missverständnissen, also bade ich allabendlich ein bisschen in deren Sprache, um mich vom Gefühl her auf ihre Ausdrucksweisen einzustellen. Die beiden sind, sprachlich gesehen, wie Goldfische in ihrem Plastikbeutel von ihrer Schweizer Sprache umgeben und mit meinem Deutsch dringe ich nicht vollständig zu ihnen durch. Gestern fragte Beda, dabei eine der eigens für ihn aufgestellten Styroporwände abschreitend, an der schon zig ausgeschnittene Schriftproben und Zeitschriftenseiten beispielhaft hingen, nach einer Nadel, dabei erzählte ich ihm, dass ich neulich vor dem Haus eines Mannes gestanden hatte, einem Uhrmacher, der als Erfinder der Reißzwecke gilt.
»Was ist Reißzwecke?«, fragte der Schweizer. Und lächelte nach meiner Erläuterung in sich hinein. Enea, der andere Schweizer, schaute mich ausdruckslos an.
Bei der Zeitungslektüre genügt beinahe schon ein einziger Satz. Gestern beispielsweise auf der Titelseite im Vorspann zu einer Randspalte: »Trump spricht im Interview mit europäischen Zeitungen«. Nicht »Bild« und »Times«, sondern europäische Zeitungen. Das rückt alles zurecht. Der Satz würde vermutlich noch stärker wirken, wenn ich ihn in einem Lokal in Freiburg gelesen hätte, wo die Schweiz schon ganz nahe scheint, vor allem räumlich. Er funktioniert aber auch noch am Savignyplatz in Berlin. Es gibt Menschen, die halten die Schweizer Sprache für eine Art Dialekt des Deutschen. Dann könnte ich mir das abendliche Sprachbad sparen. Auf einer Folgeseite, noch immer im Politikteil, fand sich eine ganzseitige Erzählung von den Straßenrestaurants in Singapur: »Tische und Hocker sind profan und am Boden festgeschraubt; für Kinder sind das ideale Turngeräte. Eine Zuordnung der Plätze zu einer bestimmten Küche gibt es nicht. Es herrscht Selbstbedienung. Ventilatoren blasen, Plasticgeschirr klappert. Angestellte räumen die verschmierten Teller ab und schieben sie auf Servierwagen in die Küche. Kinder schreien, und sporadisch heulen Mixer auf. Die Luft ist voller Dämpfe und scharfer Gerüche, es ist überall feucht und nass. Im Neonlicht glänzen die braun-grillierten Gänse fettig, daneben liegen blasse, rohe Hähnchen. Grosse Schweinsstücke versperren wie ein fleischiger Vorhang die Sicht auf Töpfe und Bratpfannen.« Ein Meisterwerk. Ganz klar. Als Objekt abgesandt aus einer Galaxie im außereuropäischen Weltraum.
Der große See friert jetzt zu. Die Verkehrsschiffe hinterlassen gurgelnde Geräusche.
17.1.
Am Abend traf ich mich mit Moritz in der Mozarellabar, die wirklich so heißt. Dann gingen wir die kurze Strecke zu Fuß in die Schönhauser Allee. Die Diskothek dort heißt Last Cathedral. Es gibt sie schon eine verblüffend lange Zeit, viele Jahre. Dabei ist diese Gegend auf der Talseite der Schönhauser Allee längst gentrifiziert, im Nachbargebäude befindet sich beispielsweise das für seine restriktive policy berühmte Café The Barn von Ralf Rüller. Auf der anderen Seite wird das Last Cathedral von einem Drogeriemarkt (Rossmann) flankiert. Es handelt sich um eine sogenannte Klienteldiskothek. Die Klienten sind, der Name lässt es vermuten, klarerweise Grufties, aber gestern ging es um Mode, denn im Last Cathedral fand die Auftaktveranstaltung der Berliner Modewoche statt. David Roth und Carl Jakob Haupt veranstalteten dort ihre Mottoparty. Motto: Tod.
Die Warteschlange hatte sich bereits um das Drogeriegebäude und beinahe um das um die Ecke gelegene Soho House herumgewickelt. Das ist das Gute an den Partys von David und Carl Jakob: Seit es diese Veranstaltungen gibt, ist die Modewoche danach auch gleich wieder vorbei. Das war vorher nicht so. Man musste dann teilweise noch quälend viele Modenschauen besuchen und sich dann am Mittwoch auf dem grauenhaft langwierigen Cocktailempfang der Zeitschrift Vogue mit Filialleitern einer Mercedesniederlassung auf Sylt unterhalten. Die Modewoche in ihrer alten Form erstreckte sich tatsächlich noch über mehrere Tage und nahm vom Gefühl her tatsächlich eine gesamte Woche in Anspruch. Die von David und Carl Jakob relaunchte Modewoche dauert nur ein paar Stunden einer einzigen Nacht. Aber mittlerweile, seit dem Anschlag auf ein Konzert der Eagles of Death Metal in Paris sind noch nicht viele Monate vergangen, in der Sprache der Mode: nur ein Wimpernschlag, habe ich scheinbar ein für mich neuartiges Gefühl entwickelt: Ich stehe nicht mehr gern in Warteschlangen vor Diskotheken namens Last Cathedral an, in der eine Mottoparty mit dem Motto »Tod« gefeiert wird. Ein Gefühl, das ich teilen kann mit beispielsweise Thom Heise, der damit sogar etwas geschäftlich zu tun gehabt haben wird, und den ich dann an der Bar traf, und der, im Gegensatz zu mir, sich verkleidet hatte mit einem imposant wirkenden Offiziershut. Auch ihm war nicht wohl mit solchen Menschenmassen, die über die Wendeltreppe hinunter in den Raum drängelten. Meldung aus dem oberen Stockwerk: Die Schlange war inzwischen doppelt so lang. Anscheinend gab es im Untergeschoß keine Notausgänge. Allein, das man nach so etwas schaut!
An einem Kreis aus Stahl hingen gehäutete Schafsköpfe über dem Tresen, die, das erzählte Carl Jakob und es schien für das Verständnis wichtig, in einem Koffer aus Aluminium aus Kassel hertransportiert worden waren im ICE. Was mir sehr gefiel, Moritz gab sich anfangs abwartend, dann aber doch hingerissen: zwei Zwerge. Sie hießen Elke und Ulf. Also auch von den Namen her angenehm kurz. Übrigens selbst auch Eltern. Carl Jakob hatte sie über eine Webseite gebucht, die sinnigerweise unter »Kleindarsteller.de« firmierte. Der Job der beiden bestand nun darin, vom Tresen aus, also stehend, eine Flasche Wodka nach der anderen in die geöffneten Münder all jener zu füllen, die sich so etwas schon immer, oder bloß heute, spontan, gewünscht hatten. Das wollten viele. Unschönes Detail: Wie Carl Jakob erst am Abend beim Eintreffen der Zwerge herausgefunden hatte, handelte es sich bei ihnen von der Gesinnung her um Nazis. Also nicht bloß Wutzwerge, schon noch ein bißchen mehr. Aber wie beim Wutzwerg war wohl der Grund bei Ulf und Elke in deren Lebensgefühl des Ausgeschlossenseins zu suchen. An diesem Abend waren sie jedenfalls mittendrin im Geschehen. Aber ob das politisch was brachte, gesinnungsmäßig, muss leider bezweifelt werden. Als wir gingen, schraubte Elke gerade eine neue Flasche auf. Im Eingangsbereich traf ich dann noch auf Larissa, eine Tätowiererin, die auf malerische Übergänge spezialisiert ist (in ihrer Kunst), und die sich dort einen kleinen Arbeitsplatz eingerichtet hatte. Die Gäste durften sich von ihr kostenlos tätowieren lassen. Aber bloß eins von zwei Motiven: entweder Pentagramm oder Totenkopf. Bei unserem Abschied hatte sie gerade Ulf in der Mache, der sich einen Schädel in den Unterarm stechen ließ. Die Warteschlange reichte bis zum gelblich flimmernden Horizont.
In der U-Bahnstation Rosa-Luxemburg-Platz werden historische Fotos als Wandschmuck ausgestellt und auf einem dort erfährt man, dass es vor hundert Jahren hier noch eine Zigarettenmarke gab, die hieß »Problem«.
16.1.
Um kurz nach zwei Uhr aufgewacht; ungewöhnlich, weil wenn schon, dann wache ich mitten in der Nacht für gewöhnlich kurz nach drei Uhr auf. In meinem Traum war ich in der Umkleidekabine der Rolling Stones gelandet. Wer genau von den Musikern mit mir in dieser Kabine war, konnte ich nicht erkennen – was auch daran gelegen haben wird, dass ich von denen nur drei auswendig präsent hätte, aber ich wusste, wie ich es vom Gefühl der Gewissheit her nur als Träumender wissen konnte, dass es sich bei den mit mir in der Enge einer Kabine zusammengepferchten Männern um die Rolling Stones handelte. Die Stimmung war heiter, aber die Heiterkeit wirkte nicht ansteckend auf mich. Dies allerdings nur im Traum selbst, und dies auch lediglich im Nachhinein festgestellt, denn als ich dann wach lag, fand ich mich guter Laune. Auch amüsiert von der absurd weit hergeholten Geschichte meines Traums. Ich interessiere mich für ziemlich viel, aber so gar nicht für die Rolling Stones.
Vermutlich war es die waranhafte Mimik von Edmund Stoiber gewesen, die diese Traumbilder erzeugt hatten. Vor dem Einschlafen hatte ich ihn noch in der Gesprächsrunde von Anne Will gesehen. Die Kamera hatte ihn, wenn er sich abgeregt hatte, immer wieder mit einer Nahaufnahme gezeigt: die Augen geschlossen, als genieße er den Sonnenschein. Wie ein sehr großes Reptil, oder ein sehr kleines in Großaufnahme, auf einem Stein.
15.1.
»Am nächsten Tag setzten wir die Graupen auf, kochten sie mit Salz und gossen sie ab. Meri verrührte in einem zweiten Topf drei Becher Matsun und drei Becher Schmand«, las ich in einem Manuskript über sein Jahr in Armenien, das Marc Degens mir mitgegeben hatte. Fügte sich wärmend in unsere Situation in dem Haus am zugefrorenen See, das, je länger wir dort blieben, desto wahrscheinlicher war zumindest mir das erschienen, um die Klappe im Küchenfußboden, beziehungsweise den darunter verborgenen Vorratskeller, herum gedacht worden war.
Zehn Stunden geschlafen, ohne sich am Morgen danach auch noch krank zu fühlen – entweder lag das in der Landluft begründet, vielleicht auch waren dem Ofen die Nacht über einschläfernde Gase entwichen. Jedenfalls fühlten wir uns stark. Ein Spaziergang über den knirschend gefrorenen Schnee führte am Ufer entlang und später dort eine Treppe empor auf den Wall, hinter dem ein Supermarkt wartete. Die freundliche Verkäuferin packte uns von ihren Kümmelknackern in eine Tüte, die mit nackten Schweinchen bedruckt war. Die veranstalteten übermütig Purzelbäume und, wie auf wundersame Weise, verletzten sie sich dabei nicht mit den Messern und Gabeln, die sie in ihren Fäusten hielten. Kein Tropfen Comic-Blut war auf die ihnen umgebundenen Servietten gespritzt. Am Tresen stand auch ein Freak an, größer noch als Erik, dazu mit Schultern in etwa doppelt so breit. Dem ringelte sich ein dünner Pferdeschwanz aus ergrautem Menschenhaar unter seiner Mütze aus vanillefarbenem Pelz in den Nacken. Seinen Körper hatte er in das Twin-Set eines weißen Daunenanzuges verpackt, das kreuz und quer mit stilisierten Birkenstämmen bedruckt war, hinter denen sich schematisch dargestellt, die Schatten von Tieren zu verbergen suchten. In den Wäldern ringsum gab es nirgendwo Birken.
Nach Einbruch der Dunkelheit fuhren wir zurück in die Stadt. Erik verschwand zwischen den staksenden Menschen im Eingangsbereich des Hauptbahnhofs, mich entließ Heiko am Haus der Berliner Festspiele aus dem Baustellenfahrzeug. Es gab, das war seit Tagen so abgemacht, ein Tanztheater von Alain Platel. Es war noch über eine halbe Stunde hin bis zum Einlass und trotzdem scharten sie sich und strömten. Hier gibt es ein Publikum zu sehen, wie sonst nirgendwo in der Stadt. Auch modisch. Insbesondere modisch. Und das an beiderlei Geschlecht. Hier wird noch Issey Miyake getragen. Und Broschen. Lange Mäntel aus, wie es heißt: fließenden Materialien. Das Stück war ausverkauft.
Das Bühnenbild lässt einiges ahnen. Berlinde de Bruyckere zeigt einen zerschlissenen Fries aus Rupfen. Davor liegen zwei ausgestopfte Pferde aufeinandergestapelt. Ein Flaschenzug, der bis in den Schnürboden reicht, kündigt ein drittes an. Die Tänzer, es sind neun, fangen nach dem kurzen Solo damit an, sich gegenseitig die Nafri-Looks vom Leib zu reißen. Damit sind die acht Männer eine ganze Weile in wechselnden Konstellationen beschäftigt. Vorgeführt werden Beweglichkeit und Stück für Stück nun auch die blanken Instrumente selbst, in Gestalt der sehnigen Körper. Die einzige Tänzerin ist von ihrem Typ »herb« her leider nicht so ausgesucht, das man sich auf das Kommende freut. »Uraufführung 1. September 2016, Jahrhunderthalle, Ruhrtriennale, Dauer 1 Stunde 40 min ohne Pause«. Der Regisseur hat eine hohe Wette laufen mit seinem Publikum, das Stück heißt Nicht Schlafen. Die Musik von Gustav Mahler ist freilich schön.
Der Applaus nimmt kein Ende. Die Frau neben mir macht einen schallenden Indianderruf, den sie mit ihrer vor den Lippen vor und zurück oszillierenden flachen Hand erzeugt. Jan weist mich völlig zu recht darauf hin, dass der Berliner Applaus gemeinhin mit »herzlich, aber kurz« charakterisiert wird. Das dritte Pferd war tatsächlich aus der Versenkung gehievt worden (mit dem Flaschenzug).
Auf dem Weg zur Bahn machten wir bei Herrn Arzou Station. Er betreibt sein Restaurant schon mindestens seit den Siebzigerjahren. Als ich ihn kennenlernte, war er schon ein älterer Herr. Damals noch einer zum Fürchten. Man konnte nicht einfach in sein Restaurant kommen, man musste vorher reservieren. Wer reserviert hatte, hatte unbedingt pünktlich zu kommen. Ansonsten passierte es, dass man von Herrn Arzou wieder nach Hause geschickt wurde. Oder anderswohin. Jedenfalls weg. Mittlerweile ist er milde geworden. Aber in den Details unerbittlich. Die Speisekarte wurde seit den Siebzigerjahren nicht mehr verändert. Wozu auch? Es gibt dazu tatsächlich keinen einzigen Grund. In dem Manuskript beschreibt Marc Degens einen Aufenthalt in den verschneiten Bergen Armeniens, wo ihm ein Bergbewohner seinen ausgedienten Kleiderschrank vorführt, in dem sich stapelweise die armenischen Fladenbrote mit Namen Lawasch türmen. Ein menschliches Eichhörnchen. Dieses Dauerbrot schmeckt frisch vom Grill ausgezeichnet. Vor allem, wenn man darin den Hackspieß Lule einwickelt, gemeinsam (nicht zusammen) mit Streifen roter Zwiebeln und ein paar Blättern Minzbasilikum. Dann kam das Kalbfleisch, das bei Herrn Arzou ein unvergleichliches Aroma hat – von seiner Zartheit nie zu schweigen. Ich glaube ja, dass er beides, Textur und Aroma, unerreicht dadurch erzeugt, in dem er die Kalbsfilets in Milch mariniert, tagelang. Da ist eine fadenhaft zarte Spur eines Aromas von gegrillter Milch an und hinter den Stücken. Gefragt habe ich Herrn Arzou aber noch nie.
In der Bahn sind nach ein Uhr nachts noch hundert Menschen stadtauswärts unterwegs. Telefongespräche, Paare, einzelne Männer. Ich bin einer von ihnen. In Blässhuhnhausen ist alles beim Alten. Hier muss ich nie weg, um bei der Heimkehr die Schönheit von neuem zu finden.
Wind weht, Mensch geht. Bett steht.
