Die Sünde lockt

Reportage
zuerst erschienen im August 1962 in TWEN
Klaus Bresser schwamm mit dem deutschen Touristenstrom nach Paris und ergoss sich den Massen auf dem Place Pigalle und Montmartre.

Paris bei Tag kannte ich. Paris bei Nacht noch nicht. Um so mehr aber hatte ich davon gehört: von Lust, Laster, von Spezialitäten und Ausschweifungen. Ich hatte gehört, daß die Mädchen dort nicht einmal tragen, was sie in unseren Schwimmbädern noch an haben, ich hatte Erstaunliches vernommen von nächtlichen Vergnügungen auf Montmartre und Pigalle.

Also ging ich hin. „Vier Tage Paris“, stand im Schaufenster des Reisebüros. Und drinnen sagten sie: „Sehr gern, Ihr Platz ist Nr. 36, kommen Sie am Donnerstagmorgen um 7.30 Uhr.“

Ich komme um 7.15 Uhr. Der Omnibus steht vor dem Reisebüro, und meine Reisegefährten sitzen schon auf ihren Plätzen. „Nummer 36?“ fragt mich ein Herr. Ich nicke, und er ist einverstanden. Ritz heißt er. Er ist der Reiseleiter, und ich die Nr. 36, schöpfe Vertrauen zu ihm: Der Mann sieht nach Erfahrungen aus.

Wir sind insgesamt 42. Ebenso viele Frauen wie Männer. „Ein ungewöhnliches Verhältnis“, sagt Herr Ritz, „sonst fahren meistens mehr Frauen mit. Die haben wohl mehr Zeit für so etwas.“

Herr Ritz kennt sich aus. Es ist, erzählt er, seine 241. Omnibusreise nach Paris. Alle 14 Tage bringt er im Frühjahr und Sommer rheinische Touristen an die Seine, zeigt ihnen Notre-Dame und Pigalle.

Auf Nummer 36 sitze ich hinter sieben breitschultrigen Männern. Ein Kegelklub aus Leverkusen am Rhein. Der Vorsitzende, ein städtischer Beamter, ein Friseur, ein Landwirt, ein Meister, ein Kraftfahrer und ein Vertreter (prominentes CDU-Mitglied seines Kreises). In Paris soll die Kegelkasse verjubelt werden. Die Herren sind finster entschlossen. Schon jetzt reichen sie eine Flasche herum.

Herr Ritz nimmt das Mikrophon und begrüsst die Fahrgäste. „Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Reise“, sagt er, „und bleiben sie anständig in Paris.“

Die Herren des Kegelklubs lassen für einen Moment von der Flasche ab und brüllen vor Lachen. Zwei Damen vorne im Bus – zusammen etwa 120 Jahre alt – drehen sich pikiert um.

Herr Ritz gibt sich alle Mühe: Er erklärt die französische Küche und die Schlachtfelder des 1. und 2. Weltkriegs. „Entschuldigen Sie“, sagt er, „daß ich immer wieder vom Krieg rede, aber manchen Männern unter Ihnen hat das hier viel bedeutet.“ Herr Ritz erläutert auch Frankreichs letzten Krieg: „Algerien hat allerhand gekostet nicht nur an Menschen, vor allem auch an Material.“ Und er warnt schließlich davor, zu denken, alle Franzosen hätten schwarze Haare: „Es gibt auch blonde Franzosen, wobei die deutsche Besatzungszeit keinen Einfluß darauf gehabt haben muß.“ Der Kegelklub hat längst die dritte Flasche angebrochen. Wieder lacht er aus vollem Hals.

„Köln ist aber sauberer“, sagt die kleine Dame mit Brille und Hut, als unser Omnibus abends nach Paris hineinrollt. Herr Ritz verteilt seine Schützlinge auf zwei kleine Hotels. Der Kegelklub will zusammen wohnen. Ein Ehepaar erklärt sich außerstande, die Nacht gemeinsam in einem „dieser französischen Betten“ zu verbringen. Herr Ritz bekommt Arbeit. Eine ältere Dame stürzt aus dem Bus ins Hotel. „Wo ist hier die Toilette?“ alarmiert sie das Personal. Das Personal versteht.

Die Männer des Kegelklubs schaffen ihre Koffer nach oben. Zehn Minuten später stehen sie wieder auf der Straße.

Die organisierte Besichtigungsfahrt des Pariser Nachtlebens ist erst für den nächsten Tag angesetzt. Die Männer aber wollen schon vorher Bescheid wissen. Noch an diesem Abend soll Paris erobert werden: „Jetzt wollen wir doch mal sehen, was hier so läuft“, sagt der Vorsitzende.

Sieben Kegelbrüder besteigen die Metro. Endlich einmal unter Männern zu sein, darauf waren sie am Anfang noch stolz. Jetzt aber haben sich ihnen ebenso still wie energisch zwei Mädchen aus dem Bus angeschlossen, etwas vereinsamte Wesen im Faltenrock und rosa Pullover, stark Ende zwanzig.

An der Metrostation „Rue Montmartre“ steigen sie wie auf ein geheimes Kommando aus. Da aber erklärt ihnen einer, daß „Rue Montmartre“ vom Montmartre selbst noch sehr weit entfernt ist. Sie steigen wieder ein, steigen um und steigen endlich aus: Place Pigalle, Paris bei Nacht. Jetzt naht Leverkusen.

„Wann geht denn hier der Rummel so los?“ fragt der Klubvorsitzende. Der Rummel hat schon begonnen. Der Vorsitzende hat sich aber mehr darunter vorgestellt. In geschlossener Formation marschieren die sieben Herren, dicht gefolgt von den zwei Damen, an den Lichtreklamen und Schaukästen vorbei. Gelassen betrachten die Männer die auf rotem Samt aufgespickten Fotos, kommentieren hier einmal kritisch und dort einmal beifällig. Und selbst die beiden schüchternen Mädchen tun jetzt so, als sei das, was sie dort auf den Fotos sehen, auch für sie alltäglich.

Ratlos steht der deutsche Kegelklub inmitten der Lustbarkeit, und einer fragt: „Was jetzt?“ Sie sind Touristen. Paris-Touristen. Zu Hause sollen sie etwas von ihrer Reise erzählen. Ein paar der Pariser Spezialitäten, die man daheim von ihnen beschrieben haben möchte, müßten sie schon in Augenschein nehmen…

Schon sammeln sich jene hilfreichen Gestalten vor den Etablissements um die rheinischen Kegelbrüder. „Ganz besondere Erotik“, flüstert einer. „Sexy, sexy“, ruft ein anderer. Und ein dritter reimt kühn in deutscher Sprache: „Paris bei Nakt, hier wird alles gemakt“.

Gerade davon aber ist der Kegelklub nicht überzeugt. Deutsche Männer reisen voller Skepsis ins Ausland, entschlossen, sich nichts vormachen zu lassen. „Wat kost dat?“ fragt der CDU-Vertreter, und als er den Preis hört, tippt er sich an die Stirn.

Keiner von ihnen spricht französisch. Das macht sie vorsichtig. Sie schlagen einen Bogen um die Eingänge der Vergnügungslokale, als fürchteten sie, einer von ihnen könnte entführt werden. Zusammenbleiben müssen sie und der Vorsitzende hat das Geld.

Seine letzte Reise, so höre ich, hat der Kegelklub im vergangenen Jahr nach Hamburg gemacht. Also vergleichen die Herren jetzt Place Pigalle mit der Reeperbahn. „Die haben kein Eisbein hier,“ sagt der Friseur. In Hamburg gab’s Eisbein. Satt muß man doch schließlich werden.

Ruhelos wandern sie über den Montmartre. Mit der Reeperbahn, so stellen sie fest, hat er mindestens das gemeinsam: Es gibt fast ebenso viele Deutsche hier. In Rudeln ziehen deutsche Reisegruppen dahin, und wenn die eine an der anderen vorbei ist, heißt es mißbilligend: „Auch wieder Deutsche“.

Zu erkennen sind sie leicht, die deutschen Touristen auf dem Pigalle. Der Bauer und der Friseur unseres Kegelklubs gehen nicht ohne Hut. Und so werden sie auch von den Gewerbedamen des Montmartre sogleich deutsch angesprochen. Aber die aufrechten Männer aus Leverkusen scharen sich enger zusammen. Einigkeit macht auch gegen die Versuchung stark.

Und dann machen sich die Herren etwas enttäuscht auf den Weg zurück ins Hotel. „Was sollen wir uns auf irgendetwas einlassen“, sagt ihr Vorsitzender, „warten wir lieber bis morgen, da geht der Ritz mit“.

Reiseleiter Ritz hat denn auch für den nächsten Abend gut vorgesorgt. Er ist auf den Montmartre gefahren, um die rheinische Reisegruppe anzukündigen. „Ich sage nur Bescheid, daß wir kommen.“ Er hat Stadtpläne verteilt, an die Ehepaare jedoch nur jeweils einen: „Damit Sie zusammen bleiben in Paris.“

Herr Ritz warnt jetzt vor dem, was da kommen soll. Die Kabaretts, die man besuchen wolle, seien zwar ausgewählt, aber immerhin… Herr Ritz lächelt: „Also es ist sehr frei, müssen sie wissen. Unter 18 Jahren ist das wenig geeignet. Da wird weder Wagner noch Mozart gespielt.“

Wer noch unentschlossen war, entscheidet sich nun dafür – selbst auf die Gefahr hin, daß es sich dabei, verglichen mit Mozart und Wagner, um relativ niedere Kunst handeln könnte. Einige aber möchten auf den Besuch von Pigalle glatt verzichten. Sie sind aus Grundsatz dagegen. Das ältere Ehepaar nimmt entschieden Abstand. Es verabschiedet sich mit der Geste moralischer Überlegenheit.

Reiseleiter Ritz glaubt nicht, daß finanzielle Gründe dabei eine Rolle spielen. Zwar kostet die organisierte Besichtigung der Pariser Nacht 42 DM. Ritz hat jedoch nachdrücklich erklärt, welch günstiges Angebot das sei: „Sonst kostet die Flasche Champagner 80 DM. Wir besuchen zwei Kabaretts. Wir machen das zusammen mit einer französischen Agentur, nur deshalb geht das so billig.“ Am Geld könne es also nicht liegen, meint Ritz, er vermutet etwas anderes: „Er möchte sicher, aber sie ist dagegen.“

40 Damen und Herren sind zu allem , bereit. Ältere, alleinreisende Damen haben sich fein herausgeputzt, sie wollen das Laster an der Seite des Herrn Ritz genießen. Einer fühlt sich an diesem Abend allem gewachsen. Es ist jener Herr, der noch am Morgen, als der Omnibus bei der Stadtrundfahrt vor Notre-Dame hielt, fragte: „Sollen wir da reingehen? Lohnt sich dat?“ Jetzt weiß er, es lohnt sich.

„Man muß das alles ja mal gesehen haben, wenn man schon mal in Paris ist“, sagt der Herr von der CDU vorsichtig. Sein Kegelklub hat wieder eine Flasche geöffnet und läßt sie kreisen.

Es ist zehn Uhr abends als der Omnibus auf dem Place Pigalle hält. 40 rheinische Touristen steigen aus und ziehen ins „Folies Pigane“. Herr Ritz geht vor, bleibt dann aber in der Tür stehen: Kein Unbefugter soll sich innerhalb unserer Gruppe den Zutritt erschleichen. Herr Ritz zwinkert dem Oberkellner zu, und von dem geführt, tauchen 40 Rheinländer in das rote Dämmerlicht. In langer Reihe sitzen sie vor kleinen Tischen. Der Ober kommt mit einer Flasche Champagner und schüttet die Gläser halb voll.

Das Programm beginnt. „Twist des Sauvages“. Niemand hat es den rheinischen Touristen übersetzt. Aber das ist ia der Vorteil solcher Darstellungen: ein jeder versteht sie.

Auf der Bühne erscheint ein Mädchen. Lächelnd entblößt es die Zähne und dann nicht nur sie. Es friert ein bißchen. Die Gäste frieren nicht. Sie haben ia alle etwas an.

Der Friseur in der ersten Reihe setzt seine Brille auf. Der Herr neben mir bringt seinen Feldstecher in Stellung. Doch als das Mädchen unten kühner wird, nimmt seine Frau ihm das Glas aus der Hand und bietet es mir freundlich an. Erst bei der nächsten Nummer bei einem braven Tänzchen der gesamten Truppe, nimmt sie das Glas zurück und reicht es ihrem Mann. Das Leihsystem spielt sich an diesem Abend ein: Immer, wenn es auf der Bühne gesittet zugeht, bekommt Herr Gemahl das Fernglas, aber wenn die Damen nach dem letzten Schleier ausholen, bekomme ich es wieder. Nach der sechsten Nummer beginnt sich auch einer der Kegelbrüder auszuziehen. Nur die Jacke. Weil es ihm zu heiß geworden ist. „Ist doch einfallsreicher als in Hamburg“, meint er.

Die zwei vollreifen Damen aus Köln hinter ihm aber geben sich kennerisch: „Naja“ .

Nach zwei Stunden ist das Program zu Ende. Die Gruppe bricht auf und nimmt gegenüber im „Eve“ den zweiten Anlauf auf die Lustbarkeit. Aber das Lokal ist noch durch eine Reisegesellschaft aus Bottrop in Westfalen blockiert. Die mittelrheinischen Touristen müssen ein paar Minuten warten, dann ist auch für sie der Weg frei. Auf Zehenspitzen schleichen sie an der Wand entlang. Das erste Programm des Abends läuft noch, und sie sind erst für das zweite eingeplant.

Diesmal sitze ich neben einer Dame aus Toronto in Kanada. „Erst dachte ich“, vertraut sie mir an, „ich müsste es shocking finden“. Aber nach der zehnten Vorführung ist alle Empörung friedlicher Beschaulichkeit gewichen. Daß die Mädchen auf der Bühne brav und nett aussehen, das allerdings versteht sie nicht. Erregend für sie ist jetzt nur noch eine Vorstellung. „Wenn ich daran denke, daß meine Tochter einmal so etwas tun könnte…“

Unsere Gruppe sitzt in der zweiten Reihe. In der ersten liegen einige Amerikaner zurückgelehnt in den Sesseln. Sie haben schon das erste Programm miterlebt, sie sind jetzt müde. In den Pausen kommen Girls an ihre Tische und tanzen mit ihnen. Das macht sie noch müder.

Nach zwei Stunden, es ist fast zwei Uhr, kommt Reiseleiter Ritz und geht an der langen Reihe seiner Schutzbefohlenen entlang. „Wollen wir gehen?“, fragt er. Dösend hat e rim Hintergrund des „Eve“ gesessen. Er sieht das nun zum 241. Male.

„Na, 80 DM für jede Flasche Sekt ware das nicht wert gewesen“, meint der Vorsitzende des Kegelklubs, als alle wieder draußen auf der Staße stehen. „Aber wo wir alles so billig bekommen haben…“ Die anderen schweigen. Ihre Gesichter verraten Gleichmut. Sie haben Paris bei Nacht erlebt. Nun gut, sie werden erstaunliche Dinge zu Hause berichten.

Für den Vertreter aus Leverkusen am Rhein aber gibt es in diesem Augenblick nur einen Gedanken. Vier Stunden lang hat er erotische Spezialitäten betrachtet, hat der Ausschweifung zwischen Place Blanche und und Place Pigalle wachen Sinnes beigewohnt. Und als er jetzt wieder in den Omnibus steigt, der ihn von Leverkusen auf den Montmarte gebracht hat, da spricht er den Gedanken aus. „Sagen Se“, fragt er den Ritz  „sagen Se, wo kriege ich denn hier ein anständiges Bier?“