Dislike
Die Millennials, oder die Generation Y, also alle Menschen, die ungefähr zwischen 1985 und 2000 in Wohlstandsgesellschaften geboren wurden, findet Bret Easton Ellis, seien ängstliche, sentimentale, emotional bedürftige, rechthaberische, weinerliche „Schneeflöckchen“, die nicht gelernt hätten, mit Kritik umzugehen. „Bitte, bitte, bitte“, flehten diese, kritisiert Ellis, „nur positives Feedback geben, bitte.“ Kein Wunder bei Helikopter-Eltern, die von den narzisstischen eigenen Eltern nie genug Liebe bekommen und ihre Kinder daher in einem Kokon aus Lob herangezogen hätten, sodass die Millennials auf das Leben nicht vorbereitet seien: „Niemand wird dich mögen, die Person, die du liebst, wird dich vielleicht nicht lieben, du hast kein Talent, das Leben besteht aus Scheitern und Enttäuschung, Menschen leiden, Menschen altern“, gibt Ellis zu bedenken. „Die Menschen sterben.“
Der sympathische Nihilist aus Los Angeles, dessen Twitter-Seite man als das Feuilleton der Zukunft begreifen könnte, scheint dazu prädestiniert, die Facebook-Eingeborenen von ihrem passiv-aggressiven Positivismus zu heilen. Man kann sich Ellis als ein von medical marijuana befeuertes Gegen-Hirn zur von Wagniskapital befeuerten Wir- und Like-Maschine ein paar hundert Meilen weiter nördlich vorstellen. Oder als das Gespenst in dieser Maschine, das wie sie selbst „innerlich tot“ (Ellis) ist und sich in ihren Strahlen-Adern daher wie ein Fisch im Wasser bewegen kann.
Ellis begann als der Film- und Rockmusikkritiker seiner High School-Zeitung und blieb auch später immer ein journalistischer Schriftsteller. Schon seinen Debüt-Bestseller „Unter Null“ sah er „nicht nur als Anklage eines Lebensstils, der mir vertraut war, sondern ebenso – wie ich großspurig dachte – der Reagan-Ära und des damaligen Zustandes der westlichen Zivilisation im Allgemeinen.“ Sein Hauptwerk „American Psycho“, das er mit 26 veröffentlichte, auf ersten Blick ein monotoner Gewaltporno, ist tatsächlich eine fiktionale Dokumentation, in der die innere Landschaft der amerikanischen 80er wie in einem versiegelten Flagshipstore-Schaufenster konserviert ist.
Mittlerweile scheint Ellis die ideale publizistische Struktur für sein Bewusstsein gefunden zu haben. Er agiert als Ein-Mann-Medien-Mischkonzern, der Drehbücher schreibt – für einen Hai-Horrorfilm, eine Serie über die Manson-Morde, einen „Yeezus“-Film mit Kanye West –, um seine journalistischen Aktivitäten quer zu finanzieren, einen konstanten Tweet-Strom aus Kommentaren, Listen, Tagebucheinträgen, L.A.-Momentaufnahmen und Kritiken in Blurb-Form zu Musik, Film und Literatur, der strukturell an seine Romane erinnert, die sich im Wesentlichen aus kompakten, lose miteinander verwobenen Abschnitten zusammensetzen. Man könnte Ellis, dem auf Twitter 500.000 Menschen folgen, als „platform-agnostic“ bezeichnen, mit einem Lieblingsterminus des „New York Times“-Herausgebers Arthur Ochs Sulzberger, der besagt, dass Journalisten jeder Weg recht sein sollte, auf dem ihr Content die User erreicht.
In seinen Blurbs halten sich Like und Dislike in etwa die Waage, wobei Ellis in beiden Richtungen völlig daneben liegen kann. Adam Driver zum Beispiel, der Mime mit dem ratlosen Fledermausgesicht, der in Lena Dunhams Serie „Girls“ ihren primären Sexualpartner verkörpert – impulsiv, ungeduscht – soll der „sexiest man on television“ sein? Andererseits ist die Ironie-freie Verbindlichkeit seines großen literarischen Gegenspielers bei weitem nicht so quälend, wie sie Ellis offenbar wahrnimmt: „Die faux-ernsthafte ‚Aufrichtigkeit‘ von David Foster Wallace“, schrieb er im September 2012 in einem Tweet, „die einer Generation von Säuglingen so viel bedeutet, hasse ich als Schriftsteller.“ Er sei „schockiert“, schickte er hinterher, dass man Wallace überhaupt ernst nehme. Nach dessen Tod fasse man diesen zu allem Überfluss auch nur noch „mit Samthandschuhen“ an.
Interessant wird Ellis‘ Attacke, wenn man die Vorgeschichte kennt, wenn man das schlechte Karma spürt, das Wallace freisetzte, als er 1989 mit der Erzählung „Kleines Mädchen mit komischen Haaren“ die vollendete Verarschung eines Ellis-Textes vorlegte – und ein paar Jahre später in einem Interview kein gutes Haar an seinem Kollegen ließ: „ ‚American Psycho‘ biedert sich schamlos dem Sadismus des Lesers an“, analysierte da Wallace, der nach seinem Selbstmord 2008 zum literarischen Säulenheiligen der Millennials wurde, „bis klar wird, dass Ellis‘ Sadismus dem Leser selbst gilt.“
Es sei eine Art schwarzer Zynismus, auf den sich Ellis verlasse, um Leser zu finden. „Wenn der Zustand der Welt hoffnungslos, beschissen, materialistisch, abgeschmackt, emotional behindert, sadomasochistisch und blöde ist, kann ich oder irgendein anderer Schriftsteller mit irgendwelchen Geschichten über Figuren Erfolg haben, die geistlos, schal und nichtssagend sind, was einfach ist, da diese Art von Figur keiner Entwicklung bedarf“, analysierte Wallace. „Wenn das, was man als schlechte Prosa versteht – flache Figuren, eine erzählte Welt, die klischeehaft und leblos ist et cetera – eine Beschreibung der heutigen Welt ist, dann wird schlechte Prosa plötzlich zu einer raffinierten Mimesis einer schlechten Gegenwart.“ Seine Tweets gegen Wallace möchte Ellis hingegen nicht als wütend, sondern als Lamento verstanden wissen, dass „was auch immer Wallace und Dave Eggers machten gegen das, was ich machte, gegen meinen Blick auf die Welt – kalt, stechend – siegreich war. Dass heute scheinbar nicht mehr beide Stile existieren.“
Neben den Tweets veröffentlicht Ellis gelegentlich Essays und sendet regelmäßig eine Talkshow als Podcast – der Begriff geht auf den originalen iPod zurück, dessen Produktion Apple vor kurzem einstellte, sodass es sich dabei quasi schon um ein klassisches Format handelt. Ellis unterhält sich da, nach einem Schnellfeuer-Monolog zur Einleitung, der abgedruckt eine ganze Tageszeitung füllen würde, etwa mit Marilyn Manson über dessen abgebrochenes Journalismus-Studium oder mit seinem Lieblings-Pornodarsteller James Deen über das Zelten, oder über das eine Mal, als sie zusammen in Venedig essen waren und Silvio Berlusconi am Nebentisch Calamaretti aß. Was seine Essays angeht, ist mittlerweile egal, in welchem Blatt sie erscheinen – seine Auseinandersetzung mit den Millennials zum Beispiel erschien vor einigen Monaten auf Englisch auf der Website der französischen „Vanity Fair“ – solange sie online vorhanden sind und Ellis den jeweiligen Link an seine halbe Million Follower twittern kann.
Als Redaktion dient Ellis seine Wohnung in West Hollywood, in der er mit einem eigenen Schneeflöckchen zusammenlebt, das Todd Michael Schultz heißt, den Ellis auf Twitter aber nur „the 27-year-old“ nennt. Ein erfolgloser Musiker und Tee-Blogger mit erfolgreichem Vater – Bill Schultz produzierte sechs Staffeln der „Simpsons“ –, fasst der 27-Jährige seine Lage folgendermaßen zusammen: „Ich bin nicht sicher, ob ich faul bin oder verhaltensgestört, aber einen Job zu suchen erscheint mir als unmöglich. Ich fühle mich so, als sei ich gegen meinen Willen anonym geblieben, obwohl ich viel Zeit mit Berühmtheiten verbringe.“ Wenn er bekifft ist, kann man seinem Blog entnehmen, tunkt er seine Bio-Müsliriegel gern in einen Nutella-Tiegel. Seinen 1.753 Twitter-Followern mutet er, untypisch für einen Millennial, durchaus auch kritische Beiträge zu, etwa den folgenden, vom 8. Januar 2015: „Was geht denn mit Cranberries ab? Warum sind die so bitter? Was sind das bitte für Beeren?“
Die Redaktion im zehnten Stockwerk ist „minimalistisch eingerichtet in sanften Beige- und Grautönen, auf nur 110 Quadratmetern – ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, ein großes Wohnzimmer mit offener Küche und Fensterwänden, die sich zum Balkon hin ganz öffnen lassen.“ So beschreibt der Protagonist Clay in Ellis‘ letztem Roman „Imperial Bedrooms“ seine Wohnung, die wie beschrieben zudem in einer Homestory des Schwulenmagazins „Fantastic Man“ aus dem Jahr 2009 zu sehen ist, auf dessen Titel Ellis als real existierende Romanfigur auf dem Balkon dieser Wohnung steht, in einem sehr weich aussehenden Pullover, über dem urbanen Flimmerteppich, eine Dose Diet Coke im Anschlag. Dass Bret Ellis, wie er sich im Alltag nennt, hier oben nicht nur mit Schultz und Clay haust, sondern auch mit „Bret Easton Ellis“, seiner Autorenfigur, die in seinem fünften Roman „Lunar Park“ zudem als Protagonist zum Einsatz kommt, lässt die Titelseite des Magazins allerdings eher wie jene von Brets Daumenkino der Wirklichkeitsebenen erscheinen.
Die Wohnung war ursprünglich die Musterwohnung des Apartment-Hochhauses, Ellis erwarb sie möbliert und hat seither kaum etwas verändert. Die Räume wirken auffallend unpersönlich, insbesondere, wenn man sie als das Set seiner digitalen Live-Autobiographie begreift. Ihr generischer Nullerjahre-0815-Designhotel-Style macht deutlich, dass Ellis, dem seit „American Psycho“ ein Markenfetisch nachgesagt wird, obwohl er dieses Merkmal im Roman einem kulturell einfältigen Geschäftsmann zuordnet, die im Grunde ja kleinbürgerliche Distinktion durch guten Design- und Konsum-Geschmack nicht nötig hat. Dass er von hier oben keinen Stil-Teil, sondern einen absolut originellen Kultur-Teil publiziert.
Die Ausstattung in Ellis‘ Wohnzimmer-Newsroom besteht im Wesentlichen aus Wifi, ein paar MacBooks, einem riesigen Flatscreen, teurem Tequila und medical marijuana. In den letzten Jahren hat Ellis immer wieder sein Konzept von „Empire“ und „Post-Empire“ propagiert, mit dem er die Verfasstheit seiner Heimat nach der Abwicklung der Ära amerikanischer Hegemonie zu erfassen versucht. Es geht hier um jenes Empire, das zum Beispiel am Ende von Christian Krachts „Imperium“ anbricht, als „sympathische schwarze GIs, deren Zähne mit einer unwirklichen Leuchtkraft strahlten“, dem mürrischen deutschen Eso-Greis August Engelhardt aufmunternd eine Cola und ein Hot Dog überreichen. Empire ist Michael Jackson. Post-Empire ist Eminem. Empire ist „Pretty Woman“. Post-Empire ist Ellis‘ über Kickstarter Crowd-finanzierter B-Thriller „The Canyons“, dessen Vorspann und Abspann Bilder Pleite gegangener Vorstadt-Großkinos zeigen. Empire ist Fiktion. Post-Empire ist Reality. Empire ist „Bret Easton Ellis“ in einem Dreiteiler von Zegna auf PR-Welttournee für seinen internationalen Skandal-Bestseller „American Psycho“. Post-Empire ist Bret Ellis im Pyjama in seinem Wohnzimmer, mit dem Laptop auf dem Schoß und einer Teetasse Tequila auf seinem halb-stylischen Ecksofa.
Man könnte demnach argumentieren, dass auch Ellis‘ Hochphase schon hinter ihm liegt, dass seine Zwanziger seine beste Dekade waren, in der er sich globalen Ruhm erschrieb, „den es nie mehr geben wird für einen literarischen Roman“, wie er 2010 dem „Oregonian“ diktierte, „das ist vorbei. Das gibt es nicht mehr. Die Welt, in der das passieren konnte, ist so weit weg wie die Welt der Kopierer und Schreibmaschinen.“ Man könnte aber auch argumentieren, dass niemand den Übergang besser hinbekommen hat, „man könnte“, so Ellis im Mai 2013 auf Reddit.com, „auch meine Twitter-Seite als den neuen Roman betrachten. Man wäre nicht der Einzige.“ Für diese Sichtweise spricht tatsächlich Einiges, nicht zuletzt folgende Passage aus Ellis‘ Generation-Y-Essay: „Ein Freund von mir – auch Schneeflöckchen – merkte vor kurzem an, dass Millennials eher Kuratoren als Künstler seien, dass sie nicht mehr Kunst machen wollten, sondern entweder Kunst stehlen oder Kunst sind.“
Der popkulturelle Wandteppich, den Ellis auf Twitter webt, ist zudem derart welthaltig, dass er unentwegt zum assoziativen Davonsurfen einlädt, und somit in gewisser Weise das Versprechen des Romans einlöst, zum Großteil im Gehirn des Lesers zu entstehen, oder in diesem Fall: im kollektiven, Menschen-gemachten Maschinen-Hirn, das wir Internet nennen. Und aufgrund seiner autofiktionalen Prägung erfüllt der Twitter-Strom auch Ellis‘ eigenes Kriterium für seine Romane, dass sie nämlich seine „Journale“ seien, „eine Erkundung“, wie er es im Frühjahr 2012 dem „Paris Review“ gegenüber formulierte, „durch eine männliche Erzählerfigur, die immer so alt wie ich ist zu der jeweiligen Zeit, des Schmerzes, mit dem ich mich in meinem Leben konfrontiert sehe.“
Andererseits scheint Ellis‘ Tweet-Strom geradewegs einer Fiktion zu entspringen, einerseits der Redaktion in Clays Wohnung in West Hollywood, andererseits dem modernistischen Wüsten-Bungalow in Palm Springs, der auf Ellis‘ Twitter-Seite den atmosphärischen Hintergrund bildet – und in dem Clay am Ende von „Imperial Bedrooms“ ein Millennial-Mädchen aus dem Bible Belt von dessen positivistischem Enthusiasmus befreit: Er serviert ihm einen Teller Cupcakes, die mit Abführmitteln getränkt sind, um es im Anschluss zu fisten, bis es, wie es sagt, „mit dem Teufel sprechen“ möchte. Der fragwürdige Vorgang findet in einem Haus statt, das wirklich existiert, so unwirklich das scheint, in einem 1947 für Frank Sinatra gebauten Midcentury-Tempel mit Swimmingpool in Form eines Konzertflügels, den man sich heute für 2.600 Dollar pro Nacht über Airbnb.com mieten kann. Sich ein solches Haus tatsächlich bauen lassen: Empire. Sich ein solches Haus für einen Tag mieten, um dort etwa einen ironischen digitalen Retro-Amateurporno zu drehen: Post-Empire.
Man könnte allerdings auch argumentieren, dass alle Spekulationen über den Twitter-Strom als Roman hinfällig sind, da sich offenbar wieder ein leibhaftiger Bret Easton Ellis-Roman in Arbeit befindet: Schon im Januar 2013, in Palm Springs, „während die Wüste, die das Haus umgibt, sich am Nachmittag rasch verdunkelte“, schreibt Ellis auf Medium.com, begann er damit, die ersten Sätze eines Romans mit dem Titel „Tranquil Reflections“ niederzuschreiben. „Friedvolle Reflexionen“ – sind damit Ellis‘ Twitter-Betrachtungen gemeint? Kann es sein, dass Ellis einen Roman über einen Twitter-Terroristen schreibt, der aus der Wohnung des Protagonisten seines letzten Romans einen asymmetrischen Guerillakrieg gegen den unreflektierten Like-Reflex vorantreibt? Es können mit den friedvollen Reflexionen natürlich auch nur die Spiegelungen der versinkenden Wüstensonne auf der Oberfläche von Frank Sinatras Konzertflügel-Swimmingpool gemeint sein.