Elektronische Nomaden
Mindestens 100 Auftritte im Jahr, in über 100 Städten weltweit – so lautet die ungeschriebene Regel. Wer so viel reist, kann sich als „travelling DJ“ bezeichnen. Als Exemplar einer seltenen Gattung, die in Zwischenräumen lebt, in Lounges, in Hotels, in Limousinen, in Flugzeugen. Kein Unternehmensberater reist so viel, kein Pilot, kein Außenminister – nicht einmal Tyler Brûlé. Der ständige Ortswechsel ist die Konstante, die dem Dasein dieser Nomaden Struktur verleiht.
Gleich nach der Musik kommt bei „travelling DJs“ das Essen, was nahe liegt, Gelegenheit macht Diebe, oder Gourmets in diesem Fall: Niemand, auch kein Tester des Guide Michelin, hat die Möglichkeit, über Jahrzehnte hinweg in über 100 Städten im Jahr ohne Rücksicht auf Kosten feierlich essen zu gehen. Die Nomaden akkumulieren dabei ein enzyklopädisches Kulinarik-Wissen: Wenn man das beste japanische Lokal in Medellín sucht, oder eine passable Weinkarte in Sarajevo, sollte man, wenn man seine Nummer hat, am besten bei Dubfire anrufen. Der Grammy-prämierte iranisch-amerikanische Economist-Leser hat die geheime Reservierungshotline des Noma in Kopenhagen auf Kurzwahl gespeichert. Mit ihm und drei seiner Nomadenkollegen sprach Alexander Schimmelbusch, zwischen Tür und Angel, auf Ibiza, in Berlin und in Amsterdam.
Wo essen gehen in Skandinavien, DUBFIRE?
„Ich hatte einen Gig in Kopenhagen vor kurzem, und sobald ich wusste, dass ich dort im Norden sein würde, sagte ich mir: Fuck it, ich muss nach Fäviken. Ich reservierte also einen Tisch an einem Samstag und bekam dann lauter Gig-Angebote für diesen und sagte: Tut mir leid, keine Zeit. Und meine Agenten sagten: Spinnst Du jetzt? Bist Du verrückt geworden? Die Riesengage willst Du sausen lassen, nur um irgendwo essen zu gehen? Und ich sagte: Genau richtig. Von Kopenhagen fliegt man erst nach Trondheim in Norwegen und fährt dann mit dem Taxi ein paar Stunden über Gebirgsstraßen nach Schweden. Fäviken ist ein Restaurant mit 12 Plätzen auf einer abgelegenen Jagd in der Nähe von Järpen. Der Schankraum ist in einer alten Scheune, in der große Schinken von der Decke hängen. Dort löffelten wir das Gehirn aus den gegrillten Köpfen kleiner Vögel. Wir aßen Forellenrogen auf Schweineblut und Jakobsmuscheln, im eigenen Saft gegart. Der Chefkoch Sam Miller kam mit einem riesigen Markknochen herein, sägte ihn auf und servierte uns das warme Knochenmark mit rohem Rinderherz, Blumen und grünem Salz. Das war seltsam, aber auch klar und rein. Am Tag nach meinem Auftritt in Kopenhagen waren wir dann noch im Noma Mittagessen. Das halbe Küchenpersonal war auf meinem Gig gewesen und René Redzepi kam zu mir, der Chefkoch, und sagte: Dir habe ich zu verdanken, dass meine Mitarbeiter bis 6 Uhr morgens feiern waren! Und ich fragte: Sind sie pünktlich zur Arbeit erschienen? Und er sagte: Ja, und ich sagte: Dann hast Du die richtigen Leute hier.“
Wo wohnen Sie eigentlich, CARL COX?
„Ich lebe in Spanien und Australien, bin aber auf Barbados gemeldet. Da kommt meine Familie her, was mich sehr freut, nicht nur im Hinblick auf meine Steuern. Obwohl steuerliche Überlegungen für uns „travelling DJs“ natürlich von entscheidender Bedeutung sind. Ich verbringe die Sommer auf Ibiza, wo ich einen wöchentlichen Gig habe, und die Winter in Australien. Ich fand Australien einfach auf Anhieb sehr angenehm. Es hätte auch Afrika sein können, oder Los Angeles, es hätte überall sein können, im Grunde. Aber Australien wirkt auf mich entspannend. Daher plane ich auch, mich dort zur Ruhe zu setzen. Nicht, dass ich mich nach der Rente sehnte. Aber ich will auch nicht der greise DJ sein. Ich würde lieber auf einem Höhepunkt abtreten und mich danach auf meine Plattenfirma konzentrieren, auf meine Musik im Studio, auf meine Shows im Radio und auf meine Bikes. Ich baue mir in Australien gerade eine Garage für meine 200 Motorräder. Es gibt keine Vorschriften in unserem Beruf. Ich könnte sicher weitermachen, bis ich 70 bin, aber dann wäre mein Körper völlig ausgebrannt, wegen der Reiserei. Die wird uns alle irgendwann zugrunde richten. Wenn man in eine andere Zeitzone reist, braucht der Körper Zeit, um nachzukommen, aber bevor er das schafft, ist man schon in der nächsten Zeitzone. Die Frauen zuhause denken immer, dass man Party macht, dass man es sich an all diesen exotischen Orten gutgehen lässt, aber sie vergessen die Reiserei. Nach einem Auftritt will man im Grunde immer nur schlafen.“
Wie kommt man gut nach Asien, CHRISTIAN SMITH?
„Von Europa nach entweder Tokio oder Bangkok in der Businessklasse heißt der Geheimtipp Egypt Air, mit 3 Stunden Aufenthalt in Kairo. Natürlich kann man auch nonstop mit All Nippon Airways fliegen, vollen Tarif bezahlen, sich den seidenen Kimono überziehen und sich ein Buchweizen-Soba-Süppchen kommen lassen. Oder man ist eben vernünftig und fliegt Business wie ein Ägypter. Die Asienrouten werden bei Egypt Air von jungen Maschinen vom Typ 777 bedient und ein Ticket hin und zurück in Business kostet etwa 1500 Euro, weniger als ein Drittel des Preises bei einer normalen Fluglinie. Das Design der Kabine ist erstaunlich gelungen, die Sitze sind bequem, auch der Service ist angenehm. Das einzige, was fehlt, ist ein guter Name, wie Pharaoh Class, oder Royal Sphinx Service oder etwas in dieser Art. Okay, es wird kein Alkohol ausgeschenkt, aber 10 Stunden ohne Saufen wird man ja wohl noch überstehen. Okay, es gab einen Absturz vor ein paar Jahren, als Gameel Al-Batouti, der erste Offizier auf Egypt Air Flug 990 von JFK nach Kairo Selbstmord beging, indem er seine fast voll besetzte Boeing 767 vor der Insel Nantucket in den Atlantik steuerte. Aber dass sich der Vorfall wiederholen könnte, ist eher unwahrscheinlich.“
Was ist ein seltsamer Ort zum Arbeiten, DUBFIRE?
„Ich habe wieder in Kazantip gespielt, das ist ein Festival auf einem Strand in der Ukraine. Das geht 6 Wochen lang und Zehntausende fallen aus überall in Osteuropa ein, um dort Party zu machen. Kazantip liegt in der Nähe eines Dorfes namens Popowka, natürlich ohne jede 5-Sterne-Infrastruktur. Ich hatte ein bisschen recherchiert vor meiner Anreise und ein Hotel ausfindig gemacht, das Hotel Gavan, das erste Haus am Platze. Das Hotel hat eine irreführende Website ohne Fotos der Zimmer und akzeptiert keine Kreditkarten, sodass man, um ein Zimmer zu reservieren, tatsächlich jemanden vor Ort haben muss, der in Bar eine Anzahlung leisten kann. Zum Festival starten die Raten bei 565 Euro pro Nacht, und das nicht etwa für eine Suite, sondern für ein Standardzimmer. Wir kamen da also an und natürlich war der Laden ein Loch. Das Hotel sagte: Wir haben kein Zimmer für euch, und wir sagten: Moment mal, wir haben diese Bestätigung hier, wir haben schon angezahlt, was habt ihr eigentlich für Probleme? Es gab dann schließlich doch ein Zimmer, das nicht gereinigt war, was uns schon egal war, bis das Hotel uns mitteilte, dass der Preis pro Nacht gerade auf 850 Euro gestiegen war. Unser Betreuer vom Festival rastete daraufhin aus, der Besitzer des Gavan kam in seinem Mercedes angefahren, wie auch immer, es dauerte allein 2 Stunden, um einzuchecken. Aber der Gig? Der Gig war total geil. Ich weiß, trotz allem, dass ich da immer wieder hinfliegen werde, da der Gig so geil war. Wobei man an einen Ort wie Kazantip natürlich nicht mit Linie fliegen kann. Generell ist im August immer viel los, manche der Gigs sind an schwierigen Orten, auf irgendwelchen abgelegenen Inseln, oft ist man doppelt gebucht und muss innerhalb weniger Stunden von einem Gig zum anderen kommen. Manchmal geht es einfach nicht ohne eigenes Flugzeug.“
Was soll das eigentlich immer mit den Privatjets, NIC FANCIULLI?
„Es ist ja jetzt Mode, dass sich manche DJs für die Sommersaison Flugzeuge mieten, genauso wie Champagner der bevorzugte Drink für elektronische Musiker geworden ist. Keine Ahnung, wie das passiert ist. Keine Ahnung, warum sie nicht weiter Bier trinken, oder Wodka und Soda oder was auch immer. Sieht nicht wirklich nach Techno aus, oder? Wenn man so dasteht, vor dem Jet, ganz in schwarz gekleidet, und Champagner trinkt?“
Wo wohnen Sie eigentlich, CHRISTIAN SMITH?
„Der größte Vorteil des globalen DJ-Daseins ist, dass man sich mehr oder weniger frei aussuchen kann, wo man wohnen möchte. Vor ein paar Jahren zum Beispiel bin ich nach Sao Paolo gezogen. Ich mag Brasilien, dann hatte ich auf einmal eine brasilianischen Freundin und dachte mir also: Warum nicht mal Brasilien? In meinen 4 Jahren dort hat sich dann aber alles im Preis verdreifacht, es wurde teurer als in Europa, was ich irgendwie albern fand. Gleichzeitig konzentrierte sich meine Arbeit immer mehr auf Europa, sodass ich 20 Mal im Jahr hin und her fliegen musste – so konnte es also nicht weitergehen. Mallorca war die logische Alternative. Außerhalb der Sommersaison ist Palma eine sehr zivilisierte kleine Metropole. Das Wetter ist angenehm, das Essen ist gut und um ehrlich zu sein: Ich hätte nichts dagegen, dort zu bleiben. Mein Sohn Hendrik geht in Palma auf die englische Privatschule, in einer niedlichen Uniform. Sobald er fließend Englisch spricht, werde ich ihn auf eine andere Schule schicken, vielleicht auf eine öffentliche spanische Schule, oder auf eine deutsche, wir werden sehen. Idealerweise wird Hendrik erst Englisch und Portugiesisch, dann Spanisch und Deutsch und dann Mandarin lernen. Ich selber bevorzuge Japanisch, aber Mandarin ist wohl sinnvoller im Hinblick auf das zukünftige Berufsleben. In Palma gibt es allerdings keine chinesische Schule. Möglicherweise werden wir doch wieder umziehen müssen.“
Eine gute Gig-Stadt, NIC FANCIULLI?
„Die Antwort ist natürlich ein Klischee, aber ich muss sagen: Tokio. Die Japaner sind sehr angenehm, sie reagieren gut als Publikum, sie sind einerseits enthusiastisch und andererseits geduldig, sie wollen nicht gleich am Anfang die ganz großen Platten hören, sie bleiben einfach bei einem, während man in sein Set einsteigt. Das findet man nicht mehr oft. In England zum Beispiel ist das Publikum verwöhnt, es gibt dort schon dermaßen lange gute elektronische Musik, dass man sich als DJ oft mit abgebrühten Snobs konfrontiert sieht. Japan ist anders, in Tokio habe ich an Silvester einmal 11 Stunden durchgespielt, alles von Ambient über House über Techno über Drum ’n Bass und sogar Disco und das Publikum blieb einfach die ganze Zeit dran, da kam so eine intensive Reaktion, das war unglaublich.“
Business oder First, CARL COX?
“Am Anfang bin ich mit meiner alten Rostlaube 5 Jahre lang durch ganz England und Schottland gefahren. Ich hatte 3 Gigs pro Nacht manchmal: Der erste Gig, dann eine Stunde fahren, der zweite Gig, dann noch eine Stunde fahren, der dritte Gig und dann im Auto schlafen. Ich habe also wirklich die Ochsentour hinter mir. Als ich dann anfing, um die Welt zu fliegen, saß ich die ersten 5 Jahre in der Economyklasse. Was per se nicht schlimm ist, aber wenn man praktisch im Flugzeug lebt, kann die Holzklasse zum Härtetest werden. Man kommt dann an und konnte auf dem Flug nicht schlafen und muss irgendwo auf der Welt mitten in der Nacht arbeiten und im Grunde schnarcht man dabei. Beim Fliegen geht es mir immer nur um einen bequemen Sitz. Erste Klasse zu fliegen, ist nicht unbedingt notwendig. Der Unterschied zur Businessklasse ist nicht der Rede wert. Das Essen ist ein bisschen besser, man hat ein bisschen mehr Platz, man wird ein bisschen besser behandelt. Aber dafür zahle ich doch nicht 4000 Pfund zusätzlich. Korean Air zum Beispiel hat eine nahezu perfekte Businessklasse – das Essen, der Sitz, der Service – und ist gar nicht mal so teuer, verglichen mit Emirates zum Beispiel, wo das Ticket überteuert, der Service schlecht, der Sitz unbequem und das Essen schauerlich ist. Ich muss aber gestehen, dass ich am Ende doch meist in der ersten Klasse lande. Wenn man so viel fliegt wie ich, müssen sie nett zu einem sein. Sie sagen: Hier ist Ihr Upgrade, Mr. Cox. Und ich sage: Vielen Dank.“
Ihr Lieblingsjapaner, CHRISTIAN SMITH?
„Ich kann das Sushi Katsu in Yokohama empfehlen. Ohashi-San, der Inhaber, hat viele Jahre lang als Sushi-Meister auf dem Tsukiji-Fischmarkt in Tokio gearbeitet. Der Laden ist winzig, mit nur 7 Plätzen an der Bar und keinen Tischen. Es gibt auch keine Karte, nur Omakase, was bedeutet: Ohashi-San entscheidet, was gegessen wird. Das Sushi-Katsu hat mir Ko Kimura empfehlen, einer der bekanntesten japanischen DJs und von Dubfire abgesehen wohl der krasseste Foodie, den ich kenne. Jedesmal, wenn ich in Japan bin, muss ich mindestens einmal dort essen gehen. Das ist wichtiger als der Gig, beinahe. Neben Ohashi-San arbeitet dort noch seine Mutter, die über 70 ist. Sie schenkt den Sake aus. Wenn man ein geschätzter, langjähriger Gast ist, kümmern sich die beiden rührend um einen. Das letzte Mal, als ich in Tokio war, wollte ich mit meinem japanischen Agenten ins Sushi-Katsu, und da wir keinen Fahrer hatten, nahmen wir den Zug nach Yokohama. Ohashi-Sans Mutter holte uns nicht nur am Bahnhof ab, in ihrem alten Toyota, sondern fuhr uns nach dem Essen auch wieder dorthin zurück. Das, meine Freunde, ist Service. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Ohashi-San entwirft Omakase-Sequenzen aus etwa 15 kleinen Tellern, die von vorn bis hinten perfekten Sinn ergeben. Sehr beeindruckend war beim letzten Mal ein Teller mit 3 kleinen Tomaten, vom Berg Fuji und roh, ohne jede Zubereitung. Nur 3 kleine Tomaten. Und ich dachte mir: Okay, das ist jetzt einen Tick zu minimalistisch, sogar für mich. Und Ohashi-San wies uns an, in welcher Reihenfolge wir sie zu essen hatten, jede davon mit einem Fingerhut eines passenden Sakes gepaart, und danach saß man einfach da, wie in Schock. Der Effekt war so intensiv, als wäre man eine Tomate.“
Rente mit 67, NIC FANCIULLI?
„Wer weiß, es könnte ewig weitergehen. Es gibt keine Altersbegrenzung für DJs. Ich glaube, der Ausstieg wird das härteste an diesem Job sein. Es wird da draußen viele depressive alte DJs geben. Sie werden die Auftritte vermissen, aber auch das Reisen, die schönen Abendessen, die HON-Karten. Stell Dir nur vor, Du fährst zum Flughafen und darfst nicht mehr in die Lounge!“