Gute Nacht!

Reportage
zuerst erschienen im Januar 1999 im Magazin der Süddeutschen Zeitung
Wieder geht ein Tag zu Ende, die Bergsteiger kehren ins Tal zurück. Der Gipfel ist nur 28 Meter hoch, und trotzdem ruft der Berg. Was treibt die Menschen bei Wind und Wetter auf den Besucherhügel am Münchner Flughafen?

Warst du oben, weißt du, wie die Menschen weiter unten sind: nicht so schlecht. Echte Menschen jedenfalls. Dazu mußt du allerdings erst mal die Strapazen eines Aufstiegs auf dich nehmen. Festhalten! Erstens kommt es. Zweitens – ja, so sagen alte Bergsteiger, von denen wir jüngeren noch lernen – anders, als du denkst. Es war kein steiler Aufstieg, doch war er nur festen Schrittes zu nehmen. Am Ende standen wir exakt 28 Meter hoch, hatten Blicke nach Osten, Süden, Westen und nach Norden. Und wir konnten etwas sehen.

Jetzt kann es sein, daß Bergsteiger, die echten, sich nicht angesprochen fühlen, wenn hier von einem Hügel die Rede ist – dem Hügel, der sich landauf, landab, weit über die Grenzen Bayerns hinaus, als „Besucherhügel“ des Münchner Flughafens „Franz Josef Strauß“ einen Namen machte. Ich muß Sie trotzdem – Sie alle! – bitten, mir zuzuhören. Der Engländer Edward Whymper bestieg 1865 als erster Mensch das Matterhorn und schrieb das schöne Buch Berg- und Gletscherfahrten, wenn auch in einer merkwürdigen, mit Begriffen aus dem Kriegshandwerk gespickten Sprache: „Der Berg war ein hartnäckiger Feind, wehrte sich lange, teilte manchen schweren Schlag aus, und als er endlich, mit einer Leichtigkeit, die niemand für möglich gehalten hatte, besiegt wurde, nahm er fürchterlich Rache.“ Reinhold Messner brachte es fertig, 14 Achttausender in einem Jahr zu besteigen: lieber Himmel! Rilke, Hermann Hesse, sogar einer wie Max Frisch waren Leute, die beim Anblick hoher Berge auch hinaufwollten und darüber schrieben, treffend, sicher, leider mit bißchen wenig Pathos. Und natürlich war Goethe, der Mann, den bekanntlich alles interessierte, auch ein großer Bergsteiger, als er, glücklich und erschöpft, beim Anblick des höchsten Alpenbergs diese Worte fand: „Man hatte Mühe, in Gedanken seine Wurzeln wieder an die Erde zu befestigen.“

Seitdem sind Höhenrekorde fliegend vielleicht, auf Gipfeln aber nicht mehr zu brechen. Der Mensch will raus - muß rauf und ran an die Berge und sich dagegenlehnen, will frisch atmen, winken und durch Ferngläser blicken, und wenn’s dabei auch nicht höher geht, so braucht er doch den Ausblick. Der Ausblick also: aha. Exakt für diesen Zweck steht am Münchner Flughafen der Besucherhügel – sonst wäre er nicht so stattlich hoch gebaut, höher jedenfalls, als alles erscheint, was der Rundblick von seinem Gipfel aus erreichen kann. Es berauscht den Menschen, wenn er, höher als unten stehend, in die Ferne blickt, und das hat nicht nur mit der Frischluft zu tun. Es pikst ja auch ein bißchen: Sehnsucht, echt? Gibt’s so was: große Gefühle auf dem Hügelgipfel?

Drei Weisheiten, die mir meine Erstbesteigung mit auf den Heimweg gab: Menschen sind bereit, erstaunliche Strapazen auszuhalten, Glätte, Winterstürme, auch Schneeregen – wenn sie dafür etwas sehen. Manche sehen da was, wo andere nichts sehen. Menschen fahren am liebsten mit dem Auto zu ihrem Hügel, lieber noch würden sie oben parken, andere mit der S-Bahn, und alle haben sie nichts dagegen, eine Mark Eintritt für ihren Hügel zu bezahlen. Flugzeuge sind nicht so spannend, aber das sehen andere natürlich anders. Jahrelang hatte ich den Hügel aus der Ferne im Blick gehabt, wie täglich Tausende auf ihrem Weg zum Flughafen, und es hatte mich gerührt, ja, gerührt, dort oben bei jedem Wind und Wetter Menschen – mindestens einen, groß wie die berühmte Ameise – in die Ferne blicken zu sehen. Verstanden hatte ich es deshalb trotzdem nicht. Offen gestanden, es waren ameisengroße Menschen für mich. Ach, was für ein Fehlschluß! Manchmal wollen Menschen einfach mit sich allein sein. Keine Sorge. Dann ist es bei ihnen, das schöne, das große Drumherum.

Die Zeit: sonntags, sehr früh, viel früher kann’s nicht sein. Man könnte noch im Bett liegen, es nähme einem niemand übel. Der Ort: die S-Bahn. Das Wetter: noch unklar. Es würde wohl wieder Schnee geben. So saß ich denn in der planmäßig schwarz-gelb gestreiften S 8, die vom Marienplatz zum Flughafen exakt 35 Minuten braucht. Meine Station, den Besucherpark, erreicht sie drei Minuten früher. Es war eine langweilige Fahrt, wie jede S-Bahn-Fahrt, und wer nicht Zeitung liest, kann einschlafen oder aus dem Fenster starren auf seinem Weg in den Münchner Nordosten, bis jede Kleinigkeit eine kleine Geschichte erzählt.

Die Station Englschalking – schon deshalb spannend, weil dem Engel das zweite e fehlt. Waste lands. Die Sozialbauten der fünfziger, sechziger und achtziger Jahre und die Frage: In welchem dieser Häuser hielte man es am ehesten aus? Felder, auf denen Schnee wie gerecht aussieht. Schrebergärten, Komposthaufen, riesige, wie kunstvoll ausgesägte Stücke Metallmüll. Hinter Unterföhring die tolle Müllverbrennungsanlage. Die unterirdische Station Ismaning, wo nie ein Mensch einen anderen aussteigen sah – gekachelt, leergefegt, finster wie die legendären Geisterbahnhöfe im alten Ost-Berlin. Schnell, vielleicht schon bißchen panisch, fragt man sich, wer von den Anorak-Mützen-Handschuh-Typen auf den S-Bahn-Sitzen warm genug angezogen wäre für den Besucherhügel. Aha. Fast keiner. Die mit den Taschen wollen zum Flughafen, soviel ist klar. Da sitzt einer – Daunenweste, Hütchen, Schal, riesiges Senioren-Brillengestell: So stellt man sich doch eigentlich einen Besucherhügel-Besucher vor. Den jetzt ansprechen? Den besser nicht. Der möchte jetzt in Frieden an seine Frau denken, den Krieg, das beste Bier auf Erden oder so.

Wieder im Freien: Licht. Fast zu hell, zu schön, zu glitzernd wunderbar sieht das hier plötzlich alles aus. Strahlend, das platte Land in der Morgensonne. Bauernhöfe, Holz auf Holzstelzen, Alleen, Gräben, Caspar-David-Friedrich-Bäume, Eichenartiges also, das frei, einsam, windschief im Feld steht. Ein bayerischer Mythos: Flughafenland. Am besten sehen hier draußen komischerweise die Brückengeländer aus, Eleganz pur, Ströme von hellblauem Aluminium. Es ist eben keine Erfindung, das von Stoiber propagierte Land von Laptop und Lederhose, sondern Wirklichkeit. Natur gibt’s nicht – solange der Mensch sich nicht an ihr vergreift, sie nachempfindet, neu erfindet, Natur stilisiert. Das haben die hier im Erdinger Moos besonders schön hingekriegt. Der Münchner Flughafen im Winter: Weiß in Weiß. Man spricht, zu Recht, von einer „hellen und freundlichen Zivilisationslandschaft“, simpler noch, vom „schönsten Flughafen der Welt“. Wenn Zivilisation so glitzern kann: ja, schön.

Jetzt rast die Bahn. Die Autobahnen kommen zur S-Bahn, es wird schnell silbern, weiß, grau, dann silbern-weiß-grau - wir landen. Es tauchen auf: künstlich gesetzte Baumreihen, gepflasterte Wege und Pfade, Parkplätze, rechts die Wartungshallen und Frachtterminals, das endlose Silbergrau der Fassaden, die Diskothek „Nightflight“, links eine Agip-Tankstelle, versprengt im Schnee Kulissen aus Glas und Aluminium, die Verwaltungsgebäude. Kein Baum ist hier irgendwohin gepflanzt. Es flattern im Wind: die Flughafenfahnen, ein weißes M auf orangefarbenem, dunkel- oder hellblauem Grund. Es grüßt von Ferne: der Besucherhügel. So weit gereist, so schnell angekommen: Durchschnittlich ist es hier draußen drei Grad kälter als in München. Es wird heute nicht schneien. Gott, ist das schön hier.

Wer steigt jetzt aus? Aha. Niemand. Der Besucherpark begrüßt seine Besucher in Menschenleere. Mülleimer, die postmodernen, mit getrennten Fächern für Glas (glass), Zeitungen (papers) und Abfall (waste). Rolltreppen. Metallsitzbänke. Ein Snack-Automat, den ein Herr Johann Gg. Zölkans aus 90522 Oberasbach betreibt.

Jetzt. Man möchte natürlich, daß es einen Donnerschlag tut, wenn der Besucher seinem Hügel zum ersten Mal auf freiem Feld gegenübersteht. Ja, tut’s den nicht? Der Fluglärm ist laut. Es pfeift der Wind, es bläst die Kälte. Man wundert sich, daß da überhaupt ein Hügel steht. Das Ding ist eine dreistöckige Pyramide, die sich gen Osten aus der weißen Ebene vor der Flughafenlandebahn erhebt: noch gut fünfhundert Meter entfernt. Hoch, sicher, aber man kann sich gut vorstellen, daß da alle, auch die Faulen, die Alten, Lahmen und Gebrechlichen rauf können. Ein Berg für alle also. Ein guter Hügel. Da wandern schon wieder echte Menschen auf seinem Gipfel rum - gibt’s denn so was? Ein Rohr aus Plexiglas führt den Besucher über die Autobahn.

Der Anmarsch: ideal für Fußgänger; Fahrrad-, Kinderwagen- und Rollstuhlfahrer sind auch willkommen. Es tauchen Schilder mit bißchen schwer verständlichen Anweisungen wie „635 Freising S“ oder „P 51 Parken Urlauber“ auf. Auf dem planierten Weg: erste Hügelmenschen, kommend, gehend, Hügelbesucher. Kinder, die ihren Eltern davonlaufen; Opas und Omas; auch jüngere Menschen mit Hunden. So weit sehen die nicht anders aus als die Fußgänger auf dem Marienplatz, bloß dicker eingepackt. Alle tragen sie was auf dem Kopf. Ein paar haben picknickkofferartige Taschen dabei. Keine auffällig glücklichen, vereinzelt grantige Gesichter. Es ist denen schwer anzusehen, ob sie gehobener oder doch eher normaler Sonntagslaune sind.

Gut fünfzig Meter vom Hügel entfernt: ein Zaun. Da sind gleich fünf Nachrichten unter Plastikfolie angebracht: „Simulatoren, Rundfahrten, Toiletten.“ Das gibt’s anscheinend alles hinter dem Zaun. Der Klassiker: „Betreten der Baustelle verboten, Eltern haften für ihre Kinder.“ Und: „Wir bauen für Sie ein neues Informationszentrum und eine Besuchergaststätte - Eröffnung Frühjahr 1999. Fußweg zum Besucherhügel und den historischen Flugzeugen.“ Den Fußweg also weiter.

Am Fuß des Hügels: noch ein Zaun. Es sammeln sich hier Menschen. Der Geldwechsler, ein schönes, blaues Ding, wechselt Zwei- und Fünf-Mark-Münzen und Zehner-, Zwanziger-, Fünfziger-Scheine, die Schlange rückt zügig nach. Trotzdem kommt es zu Szenen vor den Drehtüren. Eine Mutti: „Ich warte hier unten. Ich hab’s nicht mit den Dingern.“ Der Vati reißt seinem Jungen fast den Arm aus: „Komm schon!“ Mutti: „Nee. Macht ihr zwei mal.“

Der Aufstieg: drei Ebenen. Es muß der Besucher keinen Schritt ohne Geländer tun. Ebene eins: 16 Stufen aus Beton oder vier Geländerabschnitte. Ebene zwei: zwanzig Stufen aus Beton oder fünf Geländerabschnitte. Ebene drei: Es hat der Besucher jetzt die Auswahl, exakt 136 Stufen über eine gegen den Hügel gelehnte Metalltreppe hochzusteigen oder den Serpentinenweg, der in leichter Steigung rund um den Hügel führt, zu nehmen. Bei der Treppe ist auffällig, daß die Stufen so niedrig sind, daß der Hügelbesteiger nicht steigt, eher tippelt. Das kann schon mal bißchen komisch aussehen. Der Weg ist auch für Rollstuhlfahrer geeignet. Es nehmen jetzt alle die Treppe.

Anstrengend kann sein, ein Treppenhaus hochzusteigen oder im Fernsehsessel zu sitzen – wenn der Film spannend ist. Ansonsten, ehrlich, ist die Hügelbesteigung exakt mit diesen Strapazen vergleichbar.

Oben: doch Erschöpfung, klar. Es erschöpft, am Ziel zu sein, ganz oben – ganz gleich, wie hoch das ist. Etwa zwanzig Besucher stehen da, zu zweit, in Grüppchen, auch allein, notdürftig, einige professionell wie Eskimos eingepackt. Sie haben hier alle die Hände in den Jackentaschen. Der Gipfel: viereckig, zehn mal zehn Meter groß, eine Aussichtsplattform. Ausblicke – Blicke sind das, die im Aus nicht enden können, weil es das Aus nicht gibt. Mülleimer, Metallbänke, Metallgeländer, das Übliche, auch festinstallierte Aussichtsfernrohre gibt es hier, sogar einen nicht befestigten Stuhl. Es fegt der Schnee über die Granitplatten, es faucht der Wind – man hört ihn „Fauch!“ machen. Was passiert hier genau? Es erschöpft, tief drinnen, wohlig und warm, der Ausblick nach vier Richtungen – der Rundblick, dessen Weiten das Auge nicht ermessen kann: Wie weit? Wer weiß das schon. Es sind Kilometer. Man möchte ein Gedicht aufsagen, ein Liedchen singen, etwas Einfaches, das sich reimt und von Herzen kommt und die braven, älteren Herrschaften bei der Samstag-Abend- Hitparade im ZDF glücklich machen könnte. Es hebt sich der Blick, will hoch hinaus und noch weiter, will fliegen – und der Körper gleich hinterher. Was wiegen Blicke? Sie müssen leichter sein als Luft. Und wären es nicht Blicke, die das Auge wirft, sondern Anker an festen Seilen – man versänke doch erst weit hinter Horizont und Bergen im Meer. Kneif die Augen zu! Ganz dahinten, weißt du, liegen Hawaii, Afrika und Lummerland.

Entschuldigung, so ist das hier oben: Es haut echt rein. Was sieht man denn nun wirklich? Es ist das Vorfeld des Münchner Flughafens – für diesen Anblick wurde der Besucherhügel schließlich gebaut. Es ist das lustige Treiben der Flugzeuge, die anrollen, abrollen, landen und starten, gelotst, betankt, beladen, entladen und bei schwerem Wintertreiben enteist werden. Auf der südlichen Rollbahn sieht man Flugzeuge starten und landen, auf der nördlichen Rollbahn passiert dasselbe. Man sieht – wenn man weiß, was man sieht – von links nach rechts die Terminalbereiche A, B, C, D und E, wobei der letzte nur für Landungen geeignet ist, 21 Fluggastbrücken und 27 Außenpositionen, das Flughafenhotel, ein Aussichtsrestaurant, die Portalenteisungsanlage, Geräte- und Busunterstellhallen. Bloß sieht man das alles nicht, weil man nicht weiß, was man sieht – statt dessen: Stränge von Silbergrau, Wunderschönes aus Glas und Stahl. Dazu blinkt es oft lustig auf dem Vorfeld, und es sind alle erdenklichen Sorten Fahrzeuge, die kleinen, mittleren und großen, unterwegs. Das Vorfeld zeigt gen Osten, weshalb da keine Berge kommen, auch nicht Weltmeere, sondern als Blickfang, unterteilt in Flugsicherung, Wetterdienst und Vorfeldkontrolle, der Kontrollturm – Wahrzeichen des Flughafens. Gen Norden: das nördliche Rollfeld, dahinter, vielleicht in fünf Kilometer Entfernung, die Dächer und Kirchtürme der Ortschaft Freising. Gen Süden: das südliche Rollfeld. Gen Westen: der Blick auf Parkplätze, bei weitem nicht der schlechteste Blick.

Jetzt möchte ich sofort mit den Menschen in Kontakt kommen. Wie geht das? Schwerste Menschenprüfung, letztgültige: Wildfremde ansprechen, denen zuhören, nachfragen, nichts begreifen, zuhören, zuhören, zuhören, denen auch zuschauen, wenn sie sprechen, sie verstehen. Hallo? Ja, Sie! Ich sehe nur Flugzeuge - was sehen da, bitte, Sie?

Da steht so ein netter Heini mit Schnauzbart und mehrfarbiger Daunenjacke, hat eine Frau dabei und zeigt irgendwohin. Der gibt gleich die korrekte, die naheliegende Antwort: „Unsere Tochter fliegt nach Bangkok, jetzt schauen wir ihr mal zu.“ Ah ja, herzlichen Dank. Da, einer mit Lodenmantel, hat mindestens fünf Loden-Kinder dabei. Und Sie? „Wir sind aus Dießen am Ammersee, wollten uns das mal ansehen.“ Verbindliches Lächeln: Darf ich jetzt bitte weitersehen? Moment, was sehen Sie? „Es macht den Kindern doch Spaß, das große bunte Flugzeugtreiben.“ Eine ältere Dame sagt etwas wirklich Reizendes: „Man will doch mal sehen, wie so ein Flugzeug fliegt!“ Da – zwei Pakistani mit ihren Frauen, alle lilafarben eingepackt. Ein Opa, mit ledernen Plastiktäschchen behangen, photographiert gen Westen. Was sehen Sie? Der wird jetzt leider unfreundlich: „Was sehen denn Sie?“ Sein Fäustling zeigt auf die große Weihnachtstanne neben der Autobahn. Da steht außerdem ein Männchen mit grauem Anorak am Geländer und tritt, fahrig, bißchen mit Hau, immer von einem Fuß auf den anderen. Sein Hals reckt sich: Friert’s denn so? So schlimm? Den nicht; den später; der bricht einem sonst das Herz.

Leute werden jetzt neugierig, treten dazu, stellen sich von allein vor – sind auch moderne, junge mit luftigen Lederjacken dabei, Typ Generation Golf: „Wir kommen aus Osnabrück.“ Ach, echt? Und extra für den Besucherhügel angereist? „Warum nicht?“ Dann stellt sich raus, daß die auf Wochenendurlaub in München sind, Frauenkirche, Alter Peter, Hofgarten und Pinakotheken besichtigt haben, und nun ist der Hügel dran. Man hört doch so viel Gutes vom Besucherhügel! Alle Adressen haben diese jungen Leute übrigens im Streckennetz-Faltplan des Münchner Verkehrs- und Tarif-Verbunds nachgeschlagen – den zeigen sie gern mal her: praktisch, sehr schön. Toll, wie das bei Ihnen so klappt.

Interessant auch, was da zwei kleine Dicke mit riesigen Daunenjacken der Marke Patagonia treiben – die sehen jetzt eher wie zwei stehende Schlafsäcke aus. Da schaut einer durch ein Fernglas, notiert was, setzt das Glas wieder an, derweil sein Kumpel Teleobjektive in einer Daunentasche verstaut. Die haben ihr Reisegepäck mit auf den Hügel gebracht, oder was? Alles okay bei euch? Was seht denn ihr? Die heißen mit Vornamen Rick und Jonathan, kommen aus England und sind in Mönchengladbach angestellt. Und wenn ihre Fabrikkollegen am Wochenende zum Fußball gehen, reisen Rick und Jonathan durch Europa und schauen sich Flugzeuge an; schießen Porträts; führen Listen; notieren Baujahre, Bemalungen, Registrier- und Werknummern oder schlagen dasselbe in „jp Airbus Fleets“, dem telephonbuchdicken Katalog der Flugzeugtypen, nach. Früh um sechs saßen die zwei in einer Pension Nähe Hauptbahnhof beim Frühstück; von hier oben werden sie nicht eher absteigen, als bis am frühen Abend auf dem Vorfeld die Lichter angehen. Zehn Stunden Besucherhügel bei minus zehn Grad, Respekt! Rick: „Menschen beobachten Vögel, Menschen sammeln Briefmarken. Wir sammeln Flugzeuge.“ Alles klar. Jeder Hügel produziert wohl seinen Wahnsinn. Die zwei legen Wert darauf, nur Semi-Professionals zu sein.

Verstanden, alles kommt auf den Besucherhügel, genaugenommen sind es fünf Typen: Familien; ältere Herrschaften, die nur durch ihre Photoapparate scharf sehen; junge Ausflügler, die crazy Erlebniswelten-Generation. Ängstliche Menschen: Die freunden sich mit einem Wunder an, dem, daß Flugzeuge echt fliegen – stundenlanges, aufgeregtes Staunen, bis die Angst vor dem ersten eigenen Flug verweht. Man sagt, man hört: Rund siebzig Prozent der Deutschen sind noch nie geflogen! Die großen Abschiednehmer: Mann, ja. Sind unruhig auf dem Hügel unterwegs; winken, rudern, hüpfen, rufen „Tschau! Tschau!“; hoffen allen Ernstes, die hinter den Flugzeugbullaugen könnten das sehen. Sogenannte Spotter, die Flugzeugirren, sind in München, wie überall auf der Welt, in Vereinen organisiert. Und du, graues Gaga-Männchen?

Schwierig, schwierig, sich an den heranzumachen. Der hat Haare auf der Nase – Hilfe, so einer: Grüß Gott! „Grüß Gott.“ Er möchte als ein An-den-Dingen-Interessierter verstanden werden: „Also, mich interessiert alles, was neu ist. Ich muß das dann einfach kennenlernen.“ Sehr wohl. Er wippt noch immer wie verrückt. Er spricht von Turboprop-Maschinen, modernsten Propellerflugzeugen der Welt, und davon, daß das Munich Airport Center im Mai eröffnen wird: „Da bin ich jetzt noch nicht richtig drin in der Materie, aber, aber… das wird ein Fest.“ Es reibt das Männchen sich die Nase: Sicher, eisig weht der Wind. Irgendwas sagt mir, daß ich hier an einen besonderen Menschen geraten bin, einen Sonderling, sicher, aber so typisch für den Besucherhügel. Vielleicht ist das Mr. Besucherhügel himself. Zuhören. Zunicken und hören: „Sieht böse aus mit der Pünktlichkeit im Verkehrswesen … zum Politiker tauge ich nicht, die nehmen doch nur Juristen … der Januar, sehen Sie, ist der beste Monat für das Innere des Menschen.“ Oha.

Zeit: halb fünf nachmittags. Ort: Aussichtsplattform, auf dem Gipfel. Wetter: Es zieht zu. Weiße Wolken, weiße Kondensstreifen der Flugzeuge am Himmel. Es glimmen, aus der Dämmerung heraus, die Lichter auf dem Vorfeld ins Gelbe. Grün schimmert der Terminal. Die Lichterlandschaft: Ein Maler hielt sie mit viel Wasser und Aquarellfarben fest, nur wenigen Tupfern Rot. Der Parkplatz: ein Lichterschachbrett – Los Angeles bei Nacht. Die hügeleigene Laterne springt ein: ein matter, gelber Kegel über uns. Wir frieren. Jetzt, erst jetzt, muß ich Mr. Besucherhügel nach dem Sinn dieser Geschichte fragen - eine echt intime Frage, Entschuldigung: „Die Sehnsucht, was?“

Nein. Keine Antwort. So bin ich denn, noch viele Male, bei Schnee-, bei Eis-, bei Sprühregen auf den Hügelgipfel zurückgekehrt. Noch einmal schien die Sonne. Da konnte ich eine blonde Amazone bei dem Versuch beobachten, ihrem Geliebten hinterherzufliegen – sie war nur schwer zu beruhigen. Es waren verrückte Uhrzeiten dabei, aber immer war es Tag. Der Hügel ist natürlich auch ein Treffpunkt der Tagsüchtigen, Nachtleben findet woanders statt – Nightflight heißt das dann. Knapp fünf Millionen Menschen haben den Hügel seit seiner Eröffnung am 17. Mai 1992 bestiegen, er war mal bayerisches Ausflugsziel Nummer eins, beliebter als Neuschwanstein. Bevor das Männchen abstieg zu den Seinen – ein Goldhamster wird das sein, eine Ledercoach, ein Videorecorder, der nicht funktioniert – hatte es, anstatt zu sprechen, mit seinen kurzen, grauen Wattearmen einen Halbkreis in die Luft gemalt. Das waren die Grenzen seines Ausblicks, das Himmelsdach. Du, Gipfelstürmer, willst noch höher hinaus? Wohin? Wohin? Wir sind dabei! Nützt nichts: Deine Blicke gehen auf Reisen. Du, Mensch, aber mußt den Abstieg gehen.

Unten, in der S-Bahn, waren gerade alle mit ihren Taschen beschäftigt. Und mein Freund, der Hügel, drehte sich nicht einmal um. l

Es hebt sich der Blick, will hoch hinaus, noch weiter - will fliegen. Und der Körper gleich hinterher.

Die hügeleigene Laterne springt an: ein gelber Lichtkegel über uns. Wir frieren.