Küß mich, Kylie!

Essay
zuerst erschienen im November 1991 in Tempo, S. 82-88
Zum ersten Mal mag Kylie Minogue ihre neue Platte und ihre Beine. Das ist zuviel.

[86] Liebe kleine Kylie. Wo bist Du? Hast Du Dich versteckt? Bist Du einfach abgehauen?

Hinter halbverfallenen Backsteinmauern, die vom alten Güterbahnhof zu den Gleisen führen, hinter Bretterstapeln und Schutthaufen, aus denen Plastikplanen und rostige Nägel ragen, hinter und unter dem roten Postauto am Ende der Rampe – nichts. Keine Kylie.

Du stehst hinter einer der Mauern und mußt kichern, nicht wahr? Man sieht Dich nicht, Du bist doch nur 1 Meter 52 groß. Oder hast Du Deine kleinen Beine in die Hand genommen und hast Dich abgerollt – doch nicht unter diesen Wagen von der Post? Mein Gott: Deine Knie müssen den harten Boden gespürt haben, ganz kurz. Dann hast Du sie an die Brust gezogen, damit Du unter den Laster paßt. Deine goldenen Locken haben Deine Wangen gestreichelt. Und Deine Lippen? Vielleicht haben sie den Auspuff berührt. Liest Du Micky-Maus-Hefte? Oder übst Du ein bißchen singen? Für das Duett „If you were with me now“, das Stück Deiner neuen LP, für die Du hier und heute mit Deinem Gesangspartner Keith Washington aus den USA doch eigentlich ein Video drehen solltest?

Verdammt, Du bist sicher nicht allein. Der mit dem Silbergürtel und der Brustbehaarung, dieser 40jährige Cowboy, der sich Dein Chauffeur nennt, ist er bei Dir unter dem Laster? Nimm die Finger von Kylie, Fahrer!

„Kylie war noch nie unpünktlich“, flötet Helen. Helen ist die Pressedame von PWL-Records, Kylie Minogues Plattenfirma. Helen sieht aus wie Ende 20 und ist wahrscheinlich so alt wie Liz Taylor. Sie trägt ein Kostüm mit Schulterpolstern wie alle Pressedamen der Welt und ist so geliftet, daß sie einfach nur noch lächeln kann.

Vielleicht ist Kylie doch nicht unter dem Laster.

„Das Make-up ging ruck, zuck!“ sagt Helen. „Heute brauchten wir nur eine Stunde, weil wir zu dritt geschminkt haben! Kylie muß jeden Moment hier sein!“ Sicher doch!

Der Güterbahnhof liegt nahe einer U-Bahn-Station. Er dient als Studio, der Platz vor den Gleisen wird für Außenaufnahmen vorbereitet. Langsam kommt Bewegung in diesen eiskalten, frühen Herbstmorgen: Dünne Jungs mit T-Shirt und geröteten Armen verlegen Kabel, schrauben ein Gerüst zusammen, stoßen Scheinwerfer um, fluchen und stellen sie wieder auf. Der Chef des Studios – Kopf auf Erbsen –, Bauch auf Bierfaßgröße – gibt die Anweisungen. Wer hier nicht arbeite, steht im Weg. Wie diese vier, die an einem Geländer lehnen: Sie haben Lederjacken und Bierdosen mitgebracht, teilen sich einen Joint und kichern. „Gleich kommt Kylie“, sagt Helen und geht telefonieren.

Und dann kommt Kylie! Uff, uff, uff! Es gibt sie wirklich!

Kylie kommt nicht einfach. Sie wird gebracht. Nicht von Leibwächtern, sondern von Freundinnen. Die umringen sie wie Hofdamen eine Prinzessin. Blond müssen sie sein, diese Freundinnen, und nicht größer als 1 Meter 60, damit Kylie nicht zu ihnen hochschauen muß. Sie tragen Baseballkappen und dicke Daunenwesten, an ihren Schultern baumeln Schminktaschen, aus denen sie noch im Gehen Pinsel und Wattepads nehmen und Kylies Make-up nachbessern. Und sie sind hübsch, daß jede einzelne von ihnen auch ein Popstar sein könnte.

Alles geht blitzschnell, und Kylie zeigt sich nur stückweise, jeweils für einen Sekundenbruchteil hinter den Schminkkoffern hervorlugend: Ein Auge mit Wimpernaufschlag! Uff! Der Mund! Uff! Rosa geschminkt, oh Mann. Ihr Nacken, ihr Hals! Uff! Kylies Haare sind zu einem wunderbaren Turm hochgesteckt! Ihre Beine! Uff! Endlos lang und doch so klein und zierlich! Netzstrümpfe und schwarze Stiefeletten mit Pfennigabsätzen! Uiii!

Dann gibt es da noch ein rosa Handtuch. Es liegt über Kylies Schoß und verdeckt alles, die Netzstrümpfe, ihre Beine, die sie übereinandergeschlagen hat. Kylie soll sitzen. Auf einem Stühlchen, das auf einem weißen Laken steht. Im Zentrum der vier Scheinwerfer, vor der Kamera, die auf eine halbrunde Schiene montiert ist und nun beginnt, sie zu umkreisen.

„Huiiih“, sagt Kylie. Das bedeutet: Ihr ist kalt. Man bringt eine Regenjacke der Marke Barbour und legt sie über das rosa Handtch.

[88]

Das Kamerateam hat den Auftrag, Kylie Minogues emphatische neue Single „If you were with me now“ über den heutigen Tag bis in die Abenddämmerung in einen Videoclip umzusetzen. Alle wissen, worauf es ankommt: Nicht auf das, was Kylie sagt, sondern darauf, was für ein Gesicht sie dabei macht.

Plötzlich schaut Kylie unglücklich drein. Die Händchen fallen in den Schoß und verkrampfen sich, die langen Wimpern schlagen – ein Bild des Jammers – gegen die zusammengezogenen Augenbrauen. Sofort ist der Mann mit der Baseballkappe bei ihr. Er heißt Greg Masuak, ist erst 26 Jahre alt und trotzdem der Chef. Er hat ein Wrigley-Spearmint-Gesicht, Dreitagebart und einen Ohrring im Ohr. Dieser Regisseur kennt ein Geheimnis, das seiner Arbeit mit Popstars Erfolg garantiert: Ein Lächeln um gar nichts.

Kylie Minogue kann damit umgehen. Ihr halbes Leben hat sie lächeln müssen, auch dann, wenn es nichts zu lachen gab. Für die Reporter einer englischen Klatschzeitung, die sich kürzlich fraten [sic!], ob Kylie ein Alien ist. Für die Zollbeamten des Flughafen London-Gatwick, die in Kylies Handgepäck Liebeshandschellen fanden und sie den Kameras der Weltpresse zeigten. Für den Journalisten, der sie zum 100. Mal nach der Geschichte der zehnjährigen Kylie fragt, die vor dem Badezimmerspiegel Abba-Songs in eine Haarbürste singt.

Greg Masuak lächelt ein eiskaltes Profilächeln. Kylie, der Profi, lächelt zurück – mit den Zähnen. Die Kamera steht still. Greg lächelt ehrlich. Kylie, der Profi, lächelt zurück – mit strahlenden Augen – und die Kamera läuft. Greg macht sich zum Hampelmann. „Mach die nochmal, diese Armbewegung“, sagt er. „Arme öffnen, mit den Ellbogen wie zufällig über die Brüste streichen und Arme wieder schließen. Klasse! Weiter so!“ Erste Szene, erste Klappe, Musik läuft, Kamera läuft, Kylies Gesicht erscheint schwarzweiß auf einem Monitor, Kylie formt die Lippen zum Playback und flötet: „… it seemed so easy, when we said good bye …“

Das ist natürlich eine Schnulze. Aber so einfach und eingängig, so sexy, euphorisch und emotional! Es soll Menschen geben, die der Meinung sind, keiner mache zur Zeit miesere Popplatten als Kylie Minogue. Es ist nicht nur die Generation der heute 30- bis 50jährigen, die im britischen Produzententeam Mike Stock und Pete Waterman gefährliche Popmonster vermuten und in einem Mädchen wie Kylie nur deren willenloses Püppchen. Es ist der große, schlaue Bruder, der gerade seine Legosteine beiseitegelegt und sein Abitur gemacht hat, es ist der Student, der abends lieber ein Bier trinkt, als in einer Diskothek rumzuhopsen. Diese Menschen nehmen Kylie übel, daß sie ihren Plattenvertrag wegen einer australischen TV-Serie bekommen hat. Deren Helden sind sensible Männer mit Gitarren, die leiden müssen, das heißt, Drogen nehmen und die ganze Nacht aufbleiben für ihre Kunst.

Kylie macht es sich einfach, sicher. Sie wurde erfunden und vermarktet – wie die Sex Pistols. Sie singt Stücke, die andere Menschen ihr schreiben – wie Michael Jackson. Sie läßt sich von Produzenten bearbeiten – wie Primal Scream. Sie spielt kein Instrument – wie, sagen wir, Public Enemy. Für Kylie und ihre Fans ist das Glück oft nur dreieinhalb Minuten lang. So lang wie das unsterbliche „I should be so lucky“ und der laufende Hit „Words [sic!] is out“.

„Grauenhaft“, kommentiert einer der bekifften Lederjackenträger die erste Szene. „Wird aber ein ganz großer Hit“, hält Helen, die Plattendame, dagegen. „Ach, das ist mir egal, was die sagen“, säuselt Kylie lächelnd ins Ohr einer blonden Freundin, die Handtuch und Regenjacke von ihren Knien nimmt und der Kleinen beim Aufstehen hilft. „Diese Jungs werden meine Platte schon kaufen. Dann werden sie sie 100mal hören und wegwerfen.“

Zweite Szene, zweite Klappe: Kylie läuft zwischen Schutthaufen und Schmutz einen geraden Weg zu der Skyline der Häuser und Fabrikrohre, die in den Himmel ragen. Mit kleinen Schritten, soweit es der Saum ihres gelben Schlauchkleidchens erlaubt. Eine Windmaschine wirbelt Blätter in ihren blonden Schopf. Kylie im Wirbelsturm des Lebens…

Huiiih“, sagt Kylie. Das bedeutet, der Mann mit dem Erbsenkopf und dem Bierfaßbauch soll sie wieder auf den Boden stellen. Kylie wollte in die Töpfe gucken, wo Hühnerschenken und Kartoffelgratin schmoren. Gut zehn Zentimeter haben ihr gefehlt, um über die Theke des Bauwagens zu gucken, in dem die Küche untergebracht ist.

„Quiiiek“, hat sie gemacht, da war der dicke Studiochef zur Stelle und hat sie hochgehoben. Kylie entscheidet sich für drei Schockoriegel, zweimal Vollmilch, einmal Trauben-Nuß. Dann möchte sie plaudern. Da, wo es sonnig ist, versteht sich.

Liebe Kylie, warum magst Du keine Hühnerschenkel? „Iiih“, sagt Kylie, „viel zu fett. Ich ernähre mich von Mineralwasser und Schokolade. Das tut meiner Figur gut, nicht wahr?“

Liebe Kylie, wie hast Du den Sex entdeckt? „Quiiek“, macht Kylie. „Ich habe es getan, wie alle anderen auch. Michael Hutchence, meine große Liebe, hat es mir gezeigt Alle tun schmutzige Dinge. Darf ich das nicht?“

Liebe Kylie, Michael Hutchence hat lange Haare und ist Sänger in einer Rockband. Warum gerade er? „Michael und ich, wir haben uns in der Mitte getroffen: Ich war nicht so gut, wie alle dachten, und er nicht so schlecht. Er hat mir die Augen geöffnet: Ich war doch so dumm, so klein, so unverdorben, die süße Charlene aus ‚Nachbarn‘. … Am liebsten würde ich diese Fernsehserie verbieten lassen! Seit meiner Single ‚Better the devil you know‘ aus dem letzten Jahr entscheide ich: wer meine Platten produziert, meine Videos dreht, welche Fotos erscheinen. Ich gehe nachts aus, so lange ich will, und ich glaube sogar, ich kann ganz gut flirten!“

Liebe Kylie, erzähl uns von den schmutzigen Dingen, die Du anstellst. „Quiiek!“ macht Kylie. „Manchmal stelle ich mir einen Jungen vor, der meine Platten hört. Er ist vielleicht 14, er sieht meine Videos, manchmal nur ein Knie, meinen Bauch, meine Wimpern. Er darf nie mehr sehen! Sonst liebt er mich nicht mehr!“

Kylie verspeist zufrieden einen Schokoriegel. Dann muß sie ein Fernsehinterview geben. „…Sexbombe? Ich bin doch keine Sexbombe!“ faucht sie vor laufender Kamera. Dann muß sie ihre Fans begrüßen: „Hallo, ich bin Kylie Minogue. Mir ist kalt, und ich drehe gerade das Video für meine neue Single ‚If you were with me now‘ und später moderiert sie weiter: „…das waren die New Kids On The Block, und jetzt seht ihr ein wunderbares interview mit dem Schauspieler Kea… Kean…, wie heißt der doch gleich? Ach, Keanu Reeves!“

Kylie verspeist einen weiteren Schokoriegel, und sie schaut ihrem Partner Keith Washington zu, dessen Videopart im Studio vor einer Stellwand mit Fenster gedreht wird. „…we can’t change our minds, no, no, no!“ singt Keith und macht dabei eine dramatische Geste mit dem Zeigefinger. „Hihi“, gickelt Kylie heimlich ins Ohr ihrer Freundin. „Die beiden verstehen sich prächtig“, erklärt Helen, die Pressedame, und Kylie ist plötzlich wieder verschwunden.

Wo bist Du, Kylie? Hast Du Dich wieder versteckt? Abgehauen, einfach so?

Nun denn. Uns bleibt ein Plattenspieler und eine wunderbare Platte mehr von Dir. Und abends, wenn wir das Licht ausknipse, sagen wir leise in Richtung Nachttisch: „Küß mich, Kylie!“