Klagenfurt international

von 
Wettbewerbsrezension
zuerst erschienen am 27. Juni 2010 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, S. 23
10.000 Kilometer liegen zwischen Mexiko City und Klagenfurt. Google Maps kann keine Route berechnen. Doch im Internet kann jeder die Bachmannpreis-Lesungen live mitverfolgen. Der durch die Affäre Hegemann bekannt gewordene Schriftsteller Airen hat es getan.

Für zwei Tage schließe ich mich in ein Apartment in der Marquez-Sterling-Straße im Zentrum von Mexiko City ein. Mit pappiger Fertigpizza, ein paar Sixpack Bier und, sagen wir mal, Kaffee für die Nachtschicht. Wireless-LAN steht. Kopfhörer rein. Und los.

Die Veranstaltung beginnt mit der Bitte an das Publikum, die „Plaudereien schön langsam einzustellen“. Eine Jazz-Band spielt, na ja, zeitlosen Cool Jazz. Bachmannpreisträgerin Sibylle Lewitscharoff bereitet die Kandidaten mit ihrer Rede zur Literatur „Über die Niederlage“ auf den Misserfolg beim anstehenden Wettbewerb vor. Fortuna, Hiob, Jesus. General Keitel, Harakiri, erwürgte Verlierer. Ja, und selbst Gewinner können sich als Rohrkrepierer herausstellen. Spätestens jetzt tritt dem letzten Nominierten der Angstschweiß auf die Stirn. Zur Beruhigung Cool Jazz.

Rede Jurychef Spinnen. Absolute Wahrheiten – „Echte Literatur wendet sich an die ganze Menschheit“ – und krampfhafte Wortspiele über große und greate Minderheiten. Kopfschütteln. Kopfschmerzen. Hände vorm Kopf. Noch ein Bier. Bis jetzt hat das Ganze den etwas muffigen Charme einer Abiturverleihung in der örtlichen Stadthalle. Weiter, weiter.

Dann der erste wirkliche Fernsehmoment: die Auslosung der Lesereihenfolge. Kein Trommelwirbel, dafür kommt jetzt ein wahrhaftiger Justitiar zum Einsatz. Höchstoffiziell werden die Briefchen aus einer schäbigen Pappschachtel gezogen. Wenigstens kriegt man nun zum ersten Mal die Autoren zu sehen. Einzeln treten sie – durch das ganze Brimborium sichtlich eingeschüchtert – an den Tisch, ziehen ihr Kärtchen und müssen laut ihren Termin vorlesen.

Sabrina Janesch – Großvater sagte

Janesch beschreibt die Ankunft ihres schlesischen Großvaters, der auf einem deutschen Gehöft neu angesiedelt werden soll. Besetzer als Vertriebene. Erste Nacht im okkupierten Bauernhof. Am Morgen findet Opa den Besitzer des Hofes erhängt auf dem Dachboden.

Die Erzählerin beschreibt diesen seltsamen, historischen Moment, den ihr, so soll man sich vorstellen, der Großvater dereinst am Kamin erzählte. Keine Ironie, unheimliche Atmosphäre. Schöne Bilder, schön erzählt. Schön ist das alles, aber nicht sehr spektakulär. Also so gar nicht mein Style. Schon so lange her. Und kein Bogen ins Jetzt.

Jury: Mit Ausnahme des Beitrags von Nominator Sulzer schmiert der Text ab. Fehlende moralische Aussage und Allgemeingültigkeit und so.

Volker Altwasser – Der zarte Mann und das Meer

Auf hoher See kauft ein Trawler einem alten indischen Fischer acht Fische ab, die wegen ihrer seltenen Haut höchst wertvoll sind. Der Verarbeiter häutet sie, ein kompliziertes Verfahren. Beim Nachdenken über familiäre Probleme versaut er den achten Fisch. Man stellt sich beim Lesen unwillkürlich Captain Iglo vor, der da mit rauher Stimme Seemannsgarn spinnt, flucht und von „verdammten Krötenfischen“ erzählt. Aber da sitzt: Volker Altwasser, ein großer Junge mit breitgestreiftem Hemd, Brille und zarter, brüchiger Stimme. Man will ihn sofort in den Arm nehmen. Bald wendet sich der Text doch ins nerdige, ergeht sich in zoologischen Abhandlungen über die Seefledermaus, geschrieben mit der detailverliebten Hingabe eines Aquarienfreaks. Dramatischer Höhepunkt: „Es war tatsächlich eine Kurznasenseefledermaus!“ Und wüsste man nicht, dass Altwasser einmal selbst Matrose war, könnte man ihm das Bild des kleinen Jungen, der seinen Traum von der wilden Welt des Meeres literarisch auslebt, sofort abnehmen. Hochpoetisch, wie Altwasser über das Häuten des Fisches schreibt. Doch halt: Gibt es die Kurznasenseefledermaus überhaupt? Wikipedia sagt: Nein. Metaphernalarm! Große Themen, die über gehäutete Fische chiffriert werden? Zu gewollt, zu weit hergeholt. Mir vergeht die Lust. Neue Deutsche Literatur? Bislang Fehlanzeige.

Jury: Auch hier macht man sich nicht die Mühe, die Metapher zu entziffern, lobt aber die exakte Schilderung der Häutung. Nur Cohn-Bendit-Double Winkels sieht Allegorie-Potential, ansonsten findet man nichts Gutes.

Christopher Kloeble – Die Wucht des Persönlichen

Der Abiturient Albert besucht seinen halbsenilen Vater. Diesem bleiben nur noch wenige Monate zu leben. Wie durch ein Brennglas beobachtet Albert diese letzten Momente einer Beziehung, in der die Vater- und Sohnrolle von Anfang an vertauscht sind. In einem letzten Aufbäumen spitzt sich das verquere Verhältnis zum Symbolhaften zu.

Mit jedem Satz eröffnet sich ein wunderbares Wechselspiel aus Handlung, Atmosphäre und Reflexion. Erzählerische Magie. War das gesamte bisherige Prozedere reine Anstrengung, flutscht es bei Kloeble auf einmal. Man bleibt tief im Text; unbemüht trägt einen die Geschichte von Bild zu Bild. Tiefe! Die Liebe zu einem geistig behinderten Menschen wird hier ohne Kitsch und Kniffe vorgetragen. Kein Nacheifern mehr, keine Anerkennung; nur Liebe und das volle bedingungslose Verständnis für einen Menschen, der einem seit je und trotz allem nahesteht. Metaphysik. Endlich- und Unendlichkeit. Zartheit in der Beobachtung und Witz ohne Häme. Das Große im Lakonischen. Für mich: Echte Literatur! Die ersten beiden Kandidaten rücken sofort weit nach hinten.

Jury: Winkels zerpflückt die Transzendenz als unglaubwürdig – aber das ist sie immer –, die „SZ“- Redakteurin Feßmann findet irgendwas bei den Reflexivpronomen. Schön langsam nervt die Jury mit ihrem verkrampften Germanistengesülze. Trotzdem gibt es hier zum ersten Mal anstatt einer Wand von Ablehnung so etwas wie eine Kontroverse.

Daniel Mezger – Die Welt ist in Flammen

Alter Schwede. Jetzt knallt’s aber. Der Dorflehrer, die Frau, alles bleibt nur Staffage und Background für eine ausbrechende Lebens- und Ausdruckslust; und schon nach dem zweiten Satz denke ich: Gleich schlitzt er sich die Stirn auf! Der Erste, der durch seinen Vortrag den Text in seiner Intensität multipliziert. Beschwörend redet da einer den Leser in Trance.

Gerüst ist eine Nachricht an die willensschwache, suizidäre Geliebte, Gerüst könnte auch der magenkranke Regenwurm sein, das Ergebnis ist die reine, fickende Sprachgewalt. Da plant einer nicht, da entwirft einer seine Texte nicht kühl am Reißbrett, da glüht und brennt die Sprache einfach nur auf dem Papier und in den Ohren, Manie und Genie in absoluter Hingabe. „Es ist dein Leben, worum ich kämpfe, meine Schönste“, und man könnte hier die Sprache und – endlich – Die Große Literatur einsetzen. Wirkliche, persönliche, ganz unmittelbare Themen werden plötzlich verhandelt, ein berührender, direkter Einstich ins wahre, echte Leben, kein Zweiter Weltkrieg mehr und keine Fische werden benötigt, nur eine harsche Schärfe und das tägliche Desaster einer spürbaren Kollision von Innen- und Außenwelt. Über aller Logik, aller Schönheit: direkt ins Herz, ins Jetzt. Mehr kann man von Literatur nicht erwarten. Mehr kann Literatur nicht.

Jury: Also entweder checkt man’s jetzt oder nicht. Sulzer fehlen die Worte, Feßmann mangelt’s am Formalen, Winkels kann mit dem Text nicht umgehen, und Übersetzerin Fleischanderl findet den Text belanglos und darf hiermit heimgehen. Was sitzen da eigentlich für ahnungslose Studienräte auf den Stühlen? Allmählich gehen die Interpretationen ins Absurde: Spinnen versucht mit Gewalt, die Vernunft gegen den Text aufrechtzuerhalten. Eingestehen der einmaligen Rhythmik. Here we go! Text als Musik. Mann, und dann doch wieder: Wie da alle mit ihrem wissenschaftlichen Werkzeug an dem Text rumdoktern. Ist doch gar nicht nötig. Lasst den Text in Ruhe. Er flasht auch so.

Dorothee Elmiger – Hü hott

Handlung: keine. Mädchen sitzt an einem verlassenen Ort, liest sich durch die Hausbibliothek und träumt von fernen Gefilden. Vorm Haus stehen paar Männer und rauchen. Ellenlang wird aus Sachbüchern zitiert. Wie wir dieses Jahr gelernt haben, nennt man so was Intertextualität. Oder langatmige Mädchenprosa mit Pferden.

Jury: Ich ahnte es: Man steht drauf. Wunderschön konstruiert und so. Winkels labert sich wund und sieht eine Parabel auf das Verhältnis der Jugend zu ihren Genealogieangeboten. Auch von anderer Seite fallen gewichtige Worte: Zeitdiagnose, Erkenntnistheorie, große Allegorie. Spätestens als Jury-Vorstand Spinnen Bewusstseins- und Bildungsbashing diagnostiziert, schwant einem: Elmiger kann den Preis gewinnen.

Der erste Tag ist vorbei. Einfach ins Bett gehen, die aufgehende Sonne und den anbrechenden mexikanischen Tag ignorieren. Donnerstag, Freitag, so was. Schnell paar Tortillas und weiter deutsch denken. Heute Abend geht’s weiter. Aber der neue Tag ist wie der alte. Die Texte und die Jury – sie leben in unterschiedlichen Welten.

Kein Jurymitglied bemüht sich hier, sich durch Emphase dem Text zu nähern, sondern zerpflückt ihn durch angelerntes Schubladendenken. Was natürlich immer gelingt. Denn kein guter Text passt in eine Schublade. Wie schön aber eigentlich, dass ein Text nie durch das Gericht einer siebenköpfigen Jury muss, sondern immer nur durch (m)ein Gehirn. Literatur wendet sich eben doch nicht an die ganze Menschheit, Herr Spinnen. So stellt sich beim Sehen des Bachmannwettbewerbs die gleiche Einsicht ein, wie bei allen Castingshows: Wer hingeht, ist selber schuld.

Über einen Berg von Pappschachteln und Bierdosen kämpfe ich mich ans Tageslicht. Auf der Palme im Garten pfeift ein Mockingbird. Schluss mit den Texten. Wieder im Leben. Schluss mit dem Krampf! Lasst die Worte leben …