Radio St.Pauli – Sieg! Der Karibik-Titel ist unser!
„ACHTUNG! „Deutsche Welle“! Eine Arbeiterin spricht. Thema: Die Hölle!“
(Aus dem Gedicht einer Arbeiterin – erschienen im Juli 1932 in dar Zeitschrift „Arbeitersender“ –, das der Förderverein Radio in seiner Streitschrift stilbewußt abdruckte.)
„…diese Titel reflektieren das Layout unseres Musikprogramms und garantieren an den ihnen zugedachten Einstellen einen hohen Wiedererkennungswert. Ergo muß der Opener an erster Stelle gespielt werden… letzteres gilt natürlich auch für die Karibik-Titel… blabla …da es Sendeschienen gibt, bei denen die vom Computer angebotenen Opener und Karibiktitel nicht unbedingt (ist das so) passen, ist es erlaubt, sich aus der jeweiligen Kategorie einen anderen Titel zu suchen. Nur muss dabei unbedingt auf die… angezeigten Sperrvermerke geachtet werden. Zuwiderhandlungen… blabla… (Todesstrafe)… Zum Schluß vielleicht noch ein paar Anmerkungen, warum dieses Schreiben nötig war und ist: Wiewohl für jeden von uns zu hören… ist. haben wir den elendigen Zustand der Semiprofessionalität… hinter uns gelassen und obendrein den verwünschten „Offenen Kanal“ loswerden können. Daher gilt es nun. das Erreichte [erreich..] nicht nur zu festigen, sondern weiter auszubauen. Und damit ist ganz besonders die Durchhörbarkeit des Programms in musikalischer Hinsicht gemeint. Für Egotrips in Sachen Musik ist die Stereoanlage daheim da, nicht aber der Sender OK Radio… (mahn!)…“
Aus dem Manifest eines Hamburger Privatsenders (der „Son Of SPEX“ von einem Tag auf den anderen aus dem Programm kippte. Rache. Hervorhebungen von uns.)
Jau! Der Kampf hat sich gelohnt! Sieg, Genossen! Der Karibik-Titel ist unser! Seit den Tagen, da Dr. Drinkley aus seiner singenden Krebsstation von den Ufern des Rio Grande nach New Mexico sendete, gab es wohl nicht mehr solchen Pioniergeist. Auch wenn wir denken, daß hundertmal am Tag bestimmte Karibik-Titel zu hören ein Egotrip ist, den bestenfalls die Stereoanlage zuhause mitmachen kann, haben wir oft und gerne genug Chris De Burgh auf SWF 3 oder Jeremy Days auf RSH immer wieder wegstecken können, um es einem neuen alten Knaben bei Privatsendern nicht übelzunehmen, daß sie ihre Werbeblocks und brisanten Eilmeldungen (Hubschrauberabsturz in „Bayab“) einigermaßen angenehm einbetten wollen, oder dem nervösen Sucher durch einen gezielten „Opener“ kundtun, daß er jetzt bei seinem Lieblingssender gelandet ist und mit dem Durchirren anfangen kann. Das ist nicht besonders aufregend, noch fördert es die besonders heftige Beziehung zum Radio.
Es ist allerdings so, daß niemand auf die Idee kommen würde, Radio persönlich zu nehmen, allein schon deshalb, weil viele Menschen die waghalsigsten Vorstellungen darüber haben (also gar keine), in welchen Paralleluniversen Radiosendungen wohl zustande kommen (oder Zeitschriften - selbst bei uns melden sich ab und zu Leute, die im „Archiv“ arbeiten oder mir dem „Redakteur für deutschen Underground“ sprechen wollen). Es ist sogar wahr, daß solche Sendungen in Paralleluniversen zustande kommen, nicht zuletzt deshalb, weil Radio- (genau wie Zeitschriften-) Redakteure selbst glauben, was alle anderen von ihnen glauben, nämlich daß sie „elendige“ Zustände wie Semiprofessionalität höchstens betreten von weitem gesehen haben.
Und zwar DA (in der Hansestadt Hamburg auf 97,1 MHZ): Wenn man extra einen Zettel mit Sendeterminen bekommen hat und dann an einem Montag um 18 Uhr weder die angekündigte Musiksendung noch wenigstens Gedichte einer Arbeiterin gesendet bekommt, sondern eine Stunde mit Plattdeutschen Gedichten totschlagen muß. DANN KÖNNEN ES JA NUR WELCHE VON UNS GEWESEN SEIN. Das sind Leute, mit denen wir uns doch sehr verwandt fühlen, in diesem Falle dem Tagesredakteur des Arbeiter- bzw. Tagediebe-Senders RADIO ST. PAULI, der nicht rechtzeitig im Studio war, um den reservierten Sendetermin auf Hamburgs „Offenem Kanal“ wahrzunehmen.
Die Hölle! Oder auch nur Hallo, wie in Michael Ruffs Artikel über die Ostzonensuppenwürfel nachzulesen (die hier später auch noch einen legendären Auftritt haben werden). Denn schließlich ist unser Leben ja nicht so arm, daß wir wegen einer vergeigten Radiosendung den Tag abschreiben müssen. Jaja, es wird nicht wieder vorkommen, und wenn es doch vorkommen sollte, ist es kein elendiger Zustand, sondern Politik. Und das ist jetzt mal ausnahmsweise nicht mild ironisch gemeint, sondern aufrichtig bewundernd. Say ÄH. Die einzigen, die sich dagegen verwahren konnten, wären sorgengeplagte Werbekunden. Und die gibt es ja gar nicht. Es soll sie auch nicht geben, denn anders als die Privatsender ist RSP ein Mitgliederradio, das durch die Jahresbeiträge finanziert wird. 3442 Mitglieder müssen zusammenkommen, damit genügend Geld aufgebracht wird.
In den kommenden schweren Junitagen soll in Hamburg endlich die schwere Entscheidung darüber fallen, ob es in Zukunft wirklich ein „Radio St. Pauli“ geben wird - also den Sender, den allerlei Menschen nicht nur für bereits existent, sondern schon für eine Institution halten. Man muß die Institution nur zu finden wissen, da die einzelnen Beiträge jeweils als „Diese tolle Sendung hat XV aus der Heringstwiete 112, 2000 Hamburg 4, zu verantworten“ laufen, wie alle anderen Sendungen auf dem Offenen Kanal auch. Radio St.Pauli-Events brechen Veranstaltungsrekorde in der „Fabrik“, aber im Moment ist RSP noch ein lockerer Kampfverband, bestehend aus der Nachrichtensendung mit dem einfallsreichen Titel „Subjektiv, Aktuell und Offensiv“, dem „Gruppenradio“, dem Frauenradio und der „Initiative Freie Musik“ (auch bekannt als „Musikredaktion“), die uns nach dem nicht so gelungenen Spiel des FC St.Pauli in Uerdingen besuchte, um sich über die Abstiegssorgen der Hamburger Fußballclubs, das Junkie-Problem in der Hafenstraße und das noch schlimmere Problem Spielplatz-schützender Mütter in St. Georg, Sexismus-Biotope (tja, die Rockmusik und ihre Freunde, ist immer so ne Sache) u. ä. Issues auszusprechen. „Die Leute halten uns [77] für bedeutender, als wir tatsächlich sind, aber so ist es ja immer, und schreibt das bitte nicht.“ Darauf die Hand zum Bunde, Brüder. Wäre es anders, wäre man der „Stern“, der NDR oder schlimmeres Realmaßgebliches und nicht etwas zumindest halbwegs Interessantes wie (z.B) SPEX, die Kommunistische Partei, Rock’n’Roll oder das Igelsterben in Schleswig-Holstein (das gibt es wirklich). In so einem Fall sollte man es mit den Leuten halten, vielleicht wissen sie ausnahmsweise, wovon sie reden. Trotz linksradikaler Bestrebungen, die sie auch in Zukunft nicht – wie z.B. die Halb-Vorbilder von „Radio Dreyeckland“ – zu einem gemäßigten Bürgerlichen Mahnverfahren verkommen lassen wollen, bewerben sich die Leute von Radio St.Pauli ganz nett um einen Sondeplatz, den die Hamburger Anstalt für Neue Medien (HAM) an ein gemeinnütziges Projekt zu vergeben hat. Die Chancen stehen nicht schlecht, da die härtesten Konkurrenten – a) ein Meditationszirkel, der New-Age-Musik spielen will, b) zwei langhaarige Jungs, die „Siebziger-Jahre-Musik“ spielen wollen, und c) eine Hamburger Moderatorenschule, die ihre Zöglinge live moderieren lassen will (was eigentlich?) - ihren Anspruch auf Gemeinnützigkeit nicht zweifelsfrei klären konnten. Der vor unserem geistigen Auge bereits erstandene Arbeitersender von St.Pauli hingegen wäre gemeinnützig – nicht nur, weil die Mitarbeiter ehrenamtlich arbeiten, weil verschiedenste Betroffene unzensiert betroffen sein können, weil wahnsinnige Literaten hier ihre Bücher vorlesen können, weil Ausländer hier Sendungen machen können, die ihre deutschen Nachbarn nicht verstehen, und weil hier die interessantere Musik gespielt wird, sondern besonders deshalb, weil Radio St. Pauli im Jahr 1990 noch einmal den fast übermenschlichen Versuch unternimmt, die Barrieren zwischen Sendern und Besendeten nachhaltig niederzureißen. Und zwar so nachhaltig, daß man keinesfalls damit rechnen muß, hier einen unterhaltsamen Querschnitt durch modernes Leben zu finden, der es auch nur einem einzigen recht macht. (Die grausamen und vorhersehbaren Zusammenstöße der Musikredaktion und der Frauengruppe sind ein vergleichsweise harmloser Vorgeschmack auf die unendliche Vielfalt möglicher Grabenkriege, die sich uns eröffnet.) Eine wechselnde Tagesredaktion soll die sich überstürzenden Ereignisse koordinieren, überschaubare Studiotechnik soll ermöglichen, daß auch eines der 3442 oder mehr Mitglieder ohne zu verzagen senden kann. Oder DU. Stell dir einfach vor, du hast den Bundespräsidenten erschossen bzw. die neue Mind Over Four LP gekauft und sollst jetzt ganz Hamburg erklären, was du dir dabei wieder gedacht hast. (Drucks… äh… jetzt ist ganz sicher nicht der Moment, um sich darüber Gedanken zu machen, daß man keine ausgesprochene Radiostimme hat.) Schon jetzt gibt es die harte Einrichtung des Radio-Cafes, in dem solche einsamen Entscheidungen von allen angefochten werden können, die sich die Mühe machen, dort aufzukreuzen (oder dahin eingeladen werden, wenn sie während einer Sendung anrufen).
Ächzend unter dem Terror eines Begriffs von Professionalität, der es gebietet, selbst harmlose Anglizismen wie Topact in Zeitungen (in diesem Fall der „Hamburger Morgenpost“) kursiv zu schreiben, der es gebietet, Kernaussagen farbig zu unterlegen (weil man es so aus der Schule kennt, „Prinz“), von schleimigen Kolumnisten, die Sprachwitz austeilen, und Artikeln über die Grausame Frau, erscheint uns die Undurch-und Unanhörbarkeit eines Programms jetzt wirklich in einem goldenen Licht, aus tiefstem Herzen erstrebenswert. Angesichts einer schrecklichen Diskussionskultur andererseits, wie sie von Fans der Independent-Musik unverfälscht aus dem Gemeinschaftskunde-Unterricht und vertrödelten Religionsstunden herübergerettet wurde, in denen es „ja klar war“, daß „nichts besser sein kann als etwas anderes“ (seufz! „Zillo“!) und das Leben ein Rollenspiel, hätten wir doch lieber fucking Hafenstraßen-Kultur, deren unschätzbarer Beitrag zur Menschheitsgeschichte immerhin darin liegt, daß sie unter so vagen Vorgaben wie antifaschistisch, antikapitalistisch, antiimperialistisch, antisexistisch (nein, verdammt, antireligiös kann man selbst hier nicht verlangen) immer wieder fast vergessene Tugenden in den unwahrscheinlichsten Leuten belebt. Nochmal! Die ausweglosesten aller Diskussionen, diesmal begleitet von mehr interessantem Krach. Ein Scherbengericht.
Die einzigen, die sich von Radio St. Pauli noch mehr versprechen, als wir, sind – wenn man der „Welt“ vom 4. April glauben darf – „die Sicherheitsbehörden“. Die denken nämlich darüber nach, „wie sich dieses Programm entwickeln könnte, falls der Konflikt um die Hafenstraße zu einer Räumung eskaliert“. Bis heute hat sich der Sender zwar nichts zuschulden kommen lassen, aber man gibt die Hoffnung nicht auf, daß die RSPIer demnächst doch noch den ein oder anderen strafrechtlichen Tatbestand erfüllen werden.
Fast wäre ja auch schon alles aus gewesen. Nach einer rundum mißlungenen Sendung mit stummen Interviews und vielen Ähs, gekrönt von einem Auftritt der Ostzonensuppenwürfel, die „My Generation“ spielten und im Who-Fieber das Studio zerlegten, sank selbst den stählernsten Stalinisten der Mut, und auch der mildeste Maoist hatte nicht gedacht, daß nun noch Hoffnung auf eine Sendegenehmigung bleibt. Doch der zunächst fassungslose Beobachter von der HAM brachte es schließlich auf den versöhnlichen Punkt: „Wer weiß schon, was in der Seele so eines Musikers vorgeht.“ So ist’s. Tiefere Einblicke demnächst bei Radio St. Pauli und SON OF SPEX (denn wenn alles gut geht werden wir jeden zweiten Mittwoch im Monat die randvollen Kübel unserer Erfahrung und Semiprofessionalität über diesen Sender ergießen).
Hard Core Summer Of Love, y’all.
Wer ein Stück Radio haben/verschenken mochte, kann für 60,- bzw. 120,- Mark jährlich eintreten oder einfach spenden. Infos/Formulare etcetc.: „Förderverein Freies Radio St. Pauli“, Postfach 306337, 2000 Hamburg 36, Konto Nr: 1211/120942, HASPA, Bk: 200 505 50, Telefon; 040/ 43 7716.
Schaufelt Euer Geld auf dieses Konto! Auch Stuttgarter brauchen ein freies Radio St.Pauli! Dringender als alles sonst!