»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

7.3.2019

Auf meinem Weg zum Einwohnermeldeamt stieß ich an der nächstgelegenen Kreuzung in ein aktives Unfallszenario: Viel Feuerwehr, kaum weniger Nachbarn. Katzenstreu auf dem Asphalt. Schönes Licht. Erwischt hatte es den Fahrer eines Sushi-Lieferanten in seinem schwarzen Kleinwagen. Die müssen sich ja beeilen, trotzdem der Fisch nicht mehr kälter werden kann.

Das »Niemandsland zwischen Alleinsein und Gemeinsamkeit«, das Handke an diesem Tag vor 42 Jahren beschreibt, es existiert noch immer.

Auch gibt es das Erstaunen, meines in dem Fall, dass seit dem Jahr 1977, da war ich eingeschult!, inzwischen 42 Jahre vergangen sind. Ich komme mir jünger vor. Und teilweise gefüllt mit Wut auf die angeblich mir entgegenkommende Sprache der Software: Willkommen! Schön, dass Du wieder dabei bist—ich weiß, dass es programmierte Freude ist. Wie dieses »Alles Gut!« das ich andauernd zu hören bekomme, wenn ich um ein Pardon bitte. Dass ich schlucken soll. Aber die Wut gehört Handke. Oder der Zorn? Ich könnte den Unterschied nicht empfinden. Im Hotel Amour hängt ein gerahmtes Plakat, darauf stehen untereinander gereiht die Copyrights einzelner Künstler, also Pierre Soulages owns Black, Martin Margiela owns White, Yves Klein owns Ultramarine, John Baldessari owns Noses, Barbara Kruger owns Supreme und so fort (ich zitiere das aus meinem Gedächtnis, weil die Notizbücher im Keller sind; kann sein, dass nichts davon dort wirklich so steht, aber vom Prinzip her stimmt es schon.) Und solche konzeptionellen Copyrights gibt es natürlich in der Literatur. Wenn jemand ein Tagebuch im Internet schreibt und in seinen Texten einzelne Textbestandteile versal setzt, sehe ich direkt Abfall vor mir. Rainald Goetz owns it. Und die Uhrzeiten. Gerade sah ich im Saturn am Gesundbrunnen ein Schild über dem Regal mit den Glühbirnen, darauf stand in Versalien »Licht.« Und dachte »Rainald.« Das geht also nicht mehr. Oder halt genau doch, aber dann richtet man sich an eine andere Gemeinde. Es werden ja andauernd Filmstoffe noch einmal verfilmt. Keks vom Keks und Tee vom Tee.

Hinter dem Dach gegenüber sind die Wolken dunkelst grau »wie eine Wand.« Ein Vogel taucht hindurch, er kommt direkt auf mich zu.

6.3.2019

Teile meines Körpers, die ich am vertrautesten empfinde, sind meine Handrücken: Ich beobachte sie unwillkürlich andauernd, während ich tippe. In Spiegel schaue ich vergleichsweise selten. Mein Gesicht kommt mir ewig bekannt vor. Selbst im Zusammenhang mit dem Spiegelbild zusammenhangslos. Als mir Sebastian ein paar alte Fotos aus den frühen neunziger Jahren et cetera geschickt hat, kam ich mir bekannt vor, könnte aber nicht beschreiben, was sich genau verändert hat an mir. Irgendwie schöner halt. War ich. Kompakter auch, einfacher, um das Gesicht auf einen Blick hin erfassen zu können (kann am Punctum liegen.) Und ursprünglich sollte ich Klavierspielen lernen, fand dann aber Freude an der Gitarre. Ist doch furchtbar, wenn die eine Hand weiß, was die andere macht.

Ich tippe mit den Zeigefingern. Und das auch nicht blind, ich verfolge alle ihrer Wege. Das iPad war für mich die große Erleichterung, weil es die von sich aus leuchtende Tastatur mit sich brachte. Zudem ist es an sich leicht, beinahe wasserdicht, man kann es überall einsetzen. Und die Lautlosigkeit der Tastenimpulse: dieser mir magische Effekt hat sich noch immer nicht abgenutzt—wie dort am Ort des Tippens mein Denken erscheint.

Diese Materialität des Handwerks ist mir einerseits nicht wichtig. Beim genaueren Hinschauen dann freilich doch. Gerade als ich in Blankenese eine Postkarte beschriftete, deren Karton bemerkenswert andersartig war, sodass meine Füllerspitze darauf bemerkenswert andersartig gleiten durfte—woraufhin meine Handschrift großzügiger zeigte, was ich geringfügig kleiner gedacht; und manchmal nehme ich einen Satz von neulich doch ernst, bloß weil er dort so-und-so-haftig auf dem Papier geschrieben steht. Beim Übertragen handschriftlicher Sätze in ein Dokument ergeben sich interessante Effekte. Wer bloß tippt, als Kleinverleger im Self-Publishing-Segment, nimmt von sich aus alles wichtig (weil es von vorneherein schon ausschaut, wie gedruckt.)

Meine Schreibmaschine hole ich im Vergleich zu früher nur noch sehr selten aus ihrem braunen Koffer. Wenn ich in Büros etwas schreibe, fällt den jüngeren Mitarbeitern trotzdem mein enormer Punch auf, ich lasse es halt klappern. Bei gepflegtem Dahingeklipper käme ich mir wie eine Fremdsprachenassistentin vor.

Einmal sagte mir eine Buchhalterin am Telephon, dass sie meine Rechnung deshalb vorrangig behandelt habe, weil ihr die meine, auf der Schreibmaschine erstellt, als besonders dringlich erschienen war. So von wegen Armut und Bedürftigkeit. Dafür habe ich sie (die Tippse, die tatsächlich Baby heißt.)

Manchmal fällt mir auf, dass ich blind weiß, wo welche Taste liegt (vor allem in der Schweiz, wenn ich einen fremden Computer verwenden soll und damit kaum zurecht komme.) Manchmal, wenn ich mich gut gelaunt fühle, setze ich das Leerzeichen mit der Kante des rechten Daumens. Synästhetischerweise erklingt dabei in mir ein »So!« (und ich muß an Jerry Lewis denken, an seine Zeilenendsglockenpantomime, die mich als Kind erheitert hatte.)

In dem ansonsten irritierend drögen Interview von Hans Ulrich Obrist mit Cyprien Galliard bei Vimeo gibt der ihm die schöne Antwort auf dessen erste Frage, womit das denn bloß alles angefangen habe bei ihm mit der Kunst: »It seemed to me like a shelter for all my activities.«

5.3.2019

In der Wikipedia wird im statistischen Absatz die Kaufkraft in Hamburg pro Einwohner aufgeführt: Sie liegt 9,8 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Im Eintrag zu Berlin fehlt diese Information. In denen zu Stuttgart und München aber auch. Frankfurt dito.

In einem Buch, das ich lange nicht mehr geöffnet hatte, fand ich auf der Seite 52 eine Wimper. Eindeutig von mir. Wieso eindeutig?

4.3.2019

Abschied von Hamburg natürlich in der Deichtorhalle, Hyper, zusammengestellt von Max Dax und benannt nach dem für mich und Sebastian einst zeichenhaften Supermarkt am Rande des Heiliggeistfeldes, an den sich heute wohl kaum jemand noch erinnern können wird.

Es gibt eine Wandzeitung von Wolfgang Tillmans, die wirklich großartig geworden ist. Und eine schöne Studio-Situation von Thomas Scheibitz, mit einer Art Mischpult, auf dem seltsam geformte Instrumente ausgestellt sind, sodass ich zum ersten Mal verstanden habe, was die seltsamen Formen auf seinen Gemälden bedeuten könnten.

Das Eintrittsgeld in dieses Sammelsurium alleine wert aber ist die Wiederaufführung von Cyprien Galliards Film Nightlife für mich, den ich zum letzten Mal vor ein paar Jahren schauen durfte (in der Galerie.) Und jetzt sind es vermutlich weiterentwickelte 3-D-Brillen, wahrscheinlich auch weiterentwickelte Projektoren, auf jeden Fall sehe ich seinen Film, der mich damals schon umgehauen hat, noch einmal ganz und wie neu. 

Ich kann danach nichts mehr aufnehmen und mußte sofort gehen. 

Schönerweise hält sich der Effekt dieser inneren Benommenheit noch bis in den nächsten Morgen. Der Luftdruck war über Nacht bis auf 981 Hektopascal gefallen, Friederike vermutete, dass es an den heftigen Stürmen in Frankfurt gelegen haben könnte, die uns in Berlin die Luft abgesaugt. So blieb ich am Fenster und schaute den kahlen Wipfeln zu, wie sie dort draußen sich elastisch wippend bewegten. Durch den Genuß des Filmes von Cyprien wie noch einmal anders geschärft für die Schönheit des pflanzlichen Draußen erlebte ich meinen Blick. Dann riß der Himmel auf, es wurde kurz heiter, wobei die Wolken rasant über das Blau gezogen wurden. Abends baute sich eine finstere Wand auf, aus der ein hämmernder Regen hervorplatzen sollte. Von durchsichtigen Händen wurde ein kompletter Regenbogen über der Spree aufgespannt. Und die Fenster in der weiter hinten gelegenen Fassade leuchteten golden, gerade so, als ob in den sie umgebenden Gebäuden die Fußböden herausgebrochen wurden, und in der Rückwand dort befände sich eine einzige, das gesamte Monument von innen her ausbrennende Quelle des Lichts.

3.3.2019

In Hamburg geht es um ein gutes Leben bei schlechtem Wetter. Im Witthüs steht ein Gericht auf der Karte, es nennt sich »Qualle auf Sand.« Hinter dem Haus ist ein Rhododendron zu einem gewaltigen Haufen gewachsen. Hans Henny Jahn hat ihn schon gekannt, damals war er noch jung und niedrig. Die lockigen Wurzeln sind heute dicker als mein linker Arm. 

Der Fotograph meint, er hätte Hamburg im Kasten. Und ich—hatte es vielleicht schon (in meinem,) vor meiner Rückkehr nach Hamburg; wollte bloß noch einmal mein Ohr ausführlich auf die Schiene hier legen. »I put my ear to a seashell and it all comes back,« wie es bei Skylab heißt. 

Die Erinnerung an mein Leben ist ein Fluß ohne Ufer. 

2.3.2019

Erwacht war ich unter silbrigem Himmel, vor dem als Schattenrisse Möwen kreisten. Man hatte mich inzwischen nach Hamburg gebracht.

Die Türe zum Old Commercial Room stand offen, wobei die Küche noch geschlossen war. Der Chef näherte sich mit einer mächtigen Kanne, die zur Hälfte mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt war, die duftete. Die stellte er vor sich auf den kleinen Tisch im Alkoven, über dem in Buchstaben aus Messing »Künstlertisch« geschrieben war. Sein Hund, ein zierlicher Mops mit langem Kinnbart und schräg herausquellenden Augen, rollte sich nach kurzem Umherblicken wieder ein. Tschah, so war das damals mit Fichte, so war es mit Jäcki, als am Gänsemarkt noch die Palette, als: Der Labskaus noch nicht mit Kartoffeln (zerstampft), sondern mit eingeweichtem Schiffszwieback zubereitet ward. Ein Problem heute, so der Chef am Künstlertisch: es gibt keinen Schiffszwieback mehr. Ein Versuch mit handelsüblichem Zwieback scheiterte »Der ist pappsüß.«

Zweites Problem: Von fünf Kilogramm tiefgefrorenem Spinat besteht die Ware dieses Lieferanten aus zwei Kilogramm Wasser (in der Kanne auf dem Künstlertisch vor ihm) »Die muß ich mitzahlen.«

Abends mit Sebastian im Vienna. Ich aß ein Herz (vom Kalb.) Die U-Bahnstation »Jean-Luc Godard«, brandneu in der Hafencity, auf die er mich hingewiesen hatte ist gigantisch breit und menschenleer. Sie reicht bis tief in den Grund hinunter. Und je tiefer ich stieg, desto lauter wurde das Geräusch eines Sprudelns und Gurgelns von Wasser. Das kam vom Band und wurde durch unsichtbar angebrachte Lautsprecher in den leeren Raum um mich herum abgestrahlt. Der Luftdruck sank über Nacht um knappe zehn Hektopascal auf 1009.8. Morgen soll es—regnen.

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