»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

3.9.2019

13° am Vormittag, Luftdruck: 1009 Hektopascal, die Luftfeuchtigkeit wird angezeigt bei 78%. Das Hotel hat an zahlreichen Wandstellen Barometer und andere Messgeräte angebracht. Ich muss nie lange suchen, um eine der (mechanischen) Wetterstationen zu finden. Eventuell hat schon Adorno hier aufs Barometerglas geklopft (mit seiner Zeigefingerspitze). Der Berg gegenüber heisst Piz Mezzaun, er war heute schon in der Frühe ganz sichtbar, vom waldigen Sockel bis zu seinem zerklüfteten Gipfel hinauf. Und darüber hinaus ein wolkenloser Himmel, weit und breit; scheinbar bis in den hintersten Winkel des Tales hinein, wo die Berge weisse Gipfel haben. Gestern hingegen ein komplett anderes Bild, da morgens dichte Schwaden und Schleier an unserem Fenster (4. Stockwerk) vorübergetrieben wurden. Ab und an ergab sich dazwischen eine Lücke und ein Stück vom Hausberg wurde sichtbar: entweder in grau, oder grün. Unwillkürlich dachte ich an Wolken und fragte mich, warum die hier so tief ins Tal hinunter sinken, bis mir klar geworden war, dass das Tal selbst ja hoch gelegen ist (auf etwa 1600 Metern).

Fuhren dann mit einer Standseilbahn auf den Muottas Muragl—warum dieser Berg (sie haben alle einen Namen) nun nicht Piz heisst mit Vornamen, blieb rätselhaft, da wir dort oben niemanden angetroffen haben; wir waren ganz allein mit einem Rudel schwarzer Kühe und ein paar Pferden. In der Landschaft um den Gipfel herum war die Luft plötzlich klar, und weit unter uns trieben die Wolken durch das Tal. Jetzt gaben die Lücken hier und da Flecken aus Häusern und Strassen frei, auch ein glasglatter, grüner See liess sich sehen. Und wir, viel zu gross für diese winzigen Welten, spazierten dort oben wie Götter herum. Hauptsächlich wächst dort Wachholder. Aus den Beeren wird, nebst der altbekannten Verwendung in Suppen und Saucen, ein würziger Sirup, die Latwerge gekocht, den ich mir morgens sehr gerne auf Brote schmiere. Andauernd will ich mir vorstellen, wie das Alltagsleben in dieser herrlichen Landschaft vor 150 Jahren sich wohl gestaltet haben wird; also wie man es gemeistert hat als Erdenbürger made in Oberengadin.

Frösche schauen, von oben betrachtet, wie Menschen aus auf eine kuriose Weise. Allein wie sie sich bewegen. Das fiel mir ein, als ich ein Fröschlein betrachtete, das auf meine schöpfenden Handflächen gehupft war. Es gab hunderte dort oben, auf zweieinhalbtausend Metern, in einem schmalen Bach, dessen Wasser es talwärts zog. Warum dort und warum Frösche weiss kein Mensch.

1.9.2019

Einfahrt ins Engadin am Nachmittag, kurz nach 15 Uhr, durch endlosen Tunnel. Das Fenster war geöffnet und das doch ziemlich laute, mahlende Geräusch im Dunklen erinnerte mich an den Vorabend, wo wir im Westend bei einer Thermomix-Vorführung zu Gast waren. Die reine Neugier hatte uns hingeführt, in Aussicht auf ein heiteres Erlebnis und mich zudem noch mein zugegebenermassen extrem mild ausgeprägtes Delayed reward syndrom, weil ich ja in den Jahren meiner Kindheit und Jugend, als solche Produktvorführungsveranstaltungen im häuslichen Rahmen en vogue waren, keine davon hatte besuchen dürfen. Ich war weder auf einer Tupperparty, noch klingelte bei uns daheim die Avon-Vertreterin an der Tür. Dabei, das aber fühle ich schon schwindend, es ist kaum mehr noch als eine Ahnung des Gewesenen: War ich wohl eine ganze Zeit lang in die Avon-Vertreterin aus dem Fernsehen verliebt. Die war damals in einem Werbespot zu sehen, wie sie mit ihrer herrlich seidigen Krystle-Carrington-Frisur und einer, ich glaube: Mohnroten Bluse einen Hügel hinaufging, den Diplomatenkoffer voller Avon-Kosmetik in der Hand, um dann oben auf dem Hügel an der Haustür des Hauses auf dem Hügel zu klingeln. Die Frau des Hauses—keine schnöde Hausfrau—, tat ihr auf und freute sich sichtlich auf die Produktvorführung, also beispielsweise das ihr die Avon-Vertreterin einen Lippenstift in einer bislang nicht erhältlichen Nuance mitgebracht hatte. In diesem magischen Moment der Gastlichkeit, des Handels auch, erklang (nicht tönte) das herrliche Avon-Lied, dessen Refrain in meiner Erinnerung auf Celeste und Harfe begleitet wird, während ein Chor aus Frauenstimmen singt «Mit Avon siehst du bezaubernd aus».

Genau so, bloss halt rings um eine in der Küche aufgebauten Küchenmaschine, lief es dann gestern abend ab. Die im Thermomix zubereiteten Gerichte und die aus vom Thermomix zubereiteten Bestandteile von entweder auf dem Herd, oder (meistens) im Ofen fertiggestellten Speisen wurden von der Gastgeberin auf ihrer Terrasse serviert. Und Boy, what a terrace she had: Dort sass man umgeben, beziehungsweise inmitten sämtlicher Hochhäuser der Frankfurter Skyline. Weil das Haus selbst ziemlich hochgeschossig gebaut war, fühlte man sich dort den dunkel spiegelnden Türmen recht nah—was möglicherweise auch an der objektophilen Grundstimmung des Abends lag. Der Thermomix, das Gerät hatte den ersten Teil des Abends doch ziemlich dominiert, weil einige seiner Verrichtungen doch erheblichen Lärm produzierten, war, wie viele Domestiken, beim geselligen Teil unter dem Nachthimmel nicht erwünscht und hatte in seiner Sphäre auf dem Tisch zu verharren; schweigend, wie bloss Geräte das nach getaner Arbeit fertigbringen, ohne das man deswegen ein schlechtes Gewissen bekommt oder sich gar Sorgen machen müsste.

Wenn der Thermomix aber aus gefrorenen Heidelbeeren und Schlagsahne eine Eiskreme kuttert, klingt das exakt so, wie eine Fahrt bei offenem Fenster durch den Tunnel ins Engadin an Bord der Räthischen Bahn. Bloss hat man den Lärm dann in der eigenen Küche und wenn der Mixer aufhört damit, ist man nicht im Engadin. Dafür hat man dann einen Krug voller Heidelbeereis. Es schmeckt gar nicht mal verkehrt.

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