»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

3.6.

Gestern beim nicht ganz absichtslosen Streunen durch die weitere Umgebung einen magischen Ort entdeckt: Auf der Lichtung eines Waldvorsatzes gegenüber einer Tankstelle befand sich ein Kiosk namens Easy Rider, aus dessen Dach ein langer Schornstein ragte, obenauf ein Kürbis aus Plastik. Ringsum den Kiosk waren gepolsterte Stühle aufgestellt, kleine Baumstümpfe dienten als Abstellmöglichkeiten. Hier saßen murmelnd ältere Männer, einige waren in Zeitschriften vertieft, einer scrollte auf seinem Smartphone. Als eine Gruppe Jugendlicher auf dem Weg zum Waldbad vorbeikam, wurde aus dem Inneren des Baus eine Mikrofonstimme übertragen, die in einem Singsang versuchte, die Jugendlichen anzulocken. Bewirkte natürlich das Gegenteil. Schien aber häufiger vorzukommen, denn die Sitzenden wunderten sich nicht über die Mikrofondurchsage. Wurde auch nicht diskutiert. Der alterslose Betreiber glitt wie auf Rollschuhen in den Rahmen des Bestellfensters, einer üppig dekorierten Durchreiche. Im weiten Ausschnitt seines mit Ananas und Kakteen bedruckten Hawaiihemdes schaukelte ein auffälliges Amulett. Meine Bestellung kommentiert er mit: »Aber sehr gern, mein schönes Kind«. Und als ich mich später verabschiedete und ihm sagte, dass es sich um einen märchenhaft schönen Ort handele, den er hier geschaffen hat, sagte er: »Oh wonderbra!«.

In der folgenden Nacht hingegen mein Traum: ödeste und ärgerlichste Wirklichkeit. Alles genau so wie es ist. Bloß halt auch noch verlangsamt dargestellt. Ein einziger Albtraum aus einer Party, einer anschließenden Busfahrt, einem labyrinthischen Terminalgebäude und dann auch noch vergessenem Reisepass. Um 4 Uhr dann kurz aufgewacht und das Gefühl gehabt, dass dieser Traum stundenlang gedauert haben musste. Dann noch mal eingeschlafen. Und es ging genau dort weiter, wo ich aus der Traumerzählungsperspektive betrachtet sozusagen eingeschlafen war. Besser wurde es nicht.

2.6.

In meinem Gespräch mit Heinz Bude fällt gegen Ende sein Begriff einer »Krise der Leidenschaftlichkeit«, in der sich die Deutschen befinden. Seiner Ansicht nach. Ich kann mich noch gut erinnern an die Zeit, in der das eine Wendung wurde, die sozusagen trendete, noch bevor es Twitter gab oder Vergleichbares. Plötzlich hörte ich von bestimmten Männern dieses »da bin ich leidenschaftslos«. Gerne, beziehungsweise bevorzugt in einer Gesprächssituation, in der es prinzipiell nicht um die Frage nach Leidenschaftlichkeit ging. Also beispielsweise wenn man sich verabredete (»Um halb acht, um acht?«, »Da bin ich leidenschaftslos.«)

Sagt man inzwischen nicht mehr. Dafür fangen jetzt viele Sätze mit einem »Ganz ehrlich?« an, als rhetorische Frage, auch als Zitat natürlich, aus dem Englischen frei übersetzt (kommt vom Seriengucken), bloß um dann etwas zu erzählen, was sich sowieso nicht auf andere Weise sagen ließe als ganz oder ehrlich, denn so ist der dies rhetorisch Fragende nun einmal; so ist sein Schnabel gewachsen.

Gestern früh um sieben erhielt ich eine derart unverschämte E-Mail des ominösen Professor Rattunde, der als Insolvenzverwalter des sogenannten Till Tolkemitt firmiert, dass ich etwas tat, was ich sonst niemals tun würde: Ich rief ganz ehrlich dort an. Und klar: Den angeblichen Professor gibt es in Wirklichkeit natürlich gar nicht, das geben seine leitenden Angestellten zwar nicht zu, aber sie lassen es durchscheinen. Nach einer Weile werde ich aber immerhin von einem zurückgerufen. Das war, als es draußen derartig zu regnen angefangen hatte, dass es nur so rauschte, wie ich es eigentlich in Deutschland noch nie erlebt habe. Ich konnte gerade noch fünf Meter weit sehen, danach war alles bloß milchig und grau und ich konnte meinen Blick von diesem Grau nicht abwenden, in denen das Grün der Bäume sich wie im Nebel verlor und der See sogar darin verschwand, als würde er im Wasser, das draußen vom Himmel fiel, aufgelöst. Trotzdem sprach ich mit fester Stimme auf den Anwalt ein. Viel zu viele Informationen in viel zu langen Sätzen natürlich, ich kann halt nicht anders, insbesondere dann nicht, wenn ich mich aufrege oder aufgeregt habe, kurz zuvor. Und er (auch das eine Wendung aus dem Serienleben): »Ah. Moment, mit wem spreche ich eigentlich?«

Das bringt mich derart außer Fassung, also dieser Gedanke, dass dieser Mensch einfach irgendwo anruft, um seine Telefonliste abzuarbeiten – und es stellt sich dann auch heraus, dass dem exakt so ist: Meine Nummer wurde ihm versehentlich übermittelt. Er entschuldigt sich damit, versucht es zumindest, das Professor Rattunde mehr als eintausend Insolvenzen zur Abwicklung anvertraut seien. Er beispielsweise, das fügt er entschuldigend hinzu, betreue derzeit die Insolvenz der Firma XY und Söhne. Aber damit habe ich ja nicht?

Nein.

Na gut, legt er halt wieder auf und ruft die nächste Nummer an.

Der Regen draußen ging noch stundenlang weiter und dann hörte er innert einer Minute auf, exakt halt so, wie ich das von meinem Duschkopf kenne, wenn ich das Wasser dann endlich abgedreht habe: rausch, rausch, tröpfel, pling plong, Schluß. Aus.

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