»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

10.6.

Gestern saß ich auf der Terrasse des Seesterns neben drei Damen und nach einer Weile bat die eine mich, dem Fahrer des auf der gegenüberliegenden Straßenseite abgestellten Multivans auszurichten, dass er doch bitte den Motor seines Fahrzeuges abstellen möge. Was ich auch tat. Er war einer dieser Männer, die zum Anzug mit Krawatte eine Sonnenbrille tragen und um den Hals einen laminierten Ausweis; ich konnte nicht genau entziffern, was da stand.

»Wir wollen hier schön auf den See schauen«, erklärte sich die Dame, für deren Frisur es nie einen Emoji wird geben können, weil sie auf der Mitte ihres Schädeldaches einfach gar keine Haare mehr hatte, dafür aber die an den Seiten schwarz gefärbt trug. Außerdem, darin stimmten sie alle überein, störten sie sich an der Größe und an der Farbe des lärmenden Multivans, der ja nun nicht mehr lärmte, »das sieht einfach aus wie ein Leichenwagen«. Überflüssigerweise wies ich darauf hin, dass in solchen Fahrzeugen auch Politiker gefahren werden (und an den Wahlsonntagen die Altersheimbewohner ins Wahllokal). Die Antwort »Das sind ja auch bloß noch Leichen«, nahm ich mit einem gewissen Schmerz hin, weil es mir so vorkam, als ob ich jetzt in eine Woche politischer Meinungsumfragen hineingedrängt werden sollte – und es war ja schon beinahe wieder Samstag.

Nun denn, da wir gerade beim Thema waren, handelte das Gespräch an meinem Nachbartisch dann in einer für mich überraschenden, dadurch meine Neugierde bannenden Abfolge von Peter Weck, dem Darsteller aus Ich heirate eine Familie, der als idealer Nachfolger für Joachim Gauck im Amte des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland befunden wurde. Ich weiß nicht genau, wollte es aber hoffen, dass diese drei Damen sich doch im Klaren darüber waren, dass es der Bundespräsident ist, und nicht etwa die Bundeskanzlerin, die über die Bundeswehr Deutschlands befiehlt. Indessen ging es um mögliche Alternativen für Deutschland. Es fiel der Name Karl-Theodor zu Guttenberg, der ja leider, so die Vermutung, durch eine Scharade Ursula von der Leyens ins Exil verbannt worden war. Dabei, so wusste es die eine zu berichten: heute alle aus dem Internet abschreiben. Sogar Ursula von der Leyen selbst habe das ja nachweislich so gehandhabt, um auf ihren Posten zu kommen. Anders, so einigte man sich schnell, wäre das bei sieben Kindern ja auch gar nicht möglich gewesen. Als Alternative zu Karl-Theodor zu Guttenberg, dessen forstwirtschaftliche Expertise für wichtig empfunden wurde, kam nur noch ein weiterer Kandidat zur Sprache, dessen Namen ich aufgrund des nun wieder angesprungenen Multivanmotors akustisch nicht verstehen konnte. Wohl handelte es sich dabei um einen aktiven Politiker, der allerdings aufgrund eines Krebsleidens nicht wirklich in Betracht zu ziehen war.

»Na, aber der wäre wirklich ideal«, sagte die Dame mit der Frisur. Und darüber, angesichts der Vergeblichkeit kamen sie erst ins Schwärmen. Einmündend in jener, beim Todesporno alles entscheidenden Frage »Was für einen Krebs hat der nochmal?«

Im Hintergrund, also vor dem See, den man von der Terrasse des Seesterns gar nicht sehen kann, weil davor eine Wiese mit lauter Bäumen ist, deren üppig belaubte Kronen die Aussicht auf das Ufer verstellen, nahm ein Paar auf einer der Bänke Platz und ich dachte kurz, ich seh nicht recht, aber der Mann zog sich tatsächlich aus bis auf eine Badehose – seines enormen Leibesumfanges zum Trotz – und setzte sich daraufhin wieder hin neben seine Frau, die dann ungerührt neben ihm so sitzen blieb in ihrem Sommerkleid. War einfach so.

Danach ein Traum von einem ICE aus Gummi, den ich von außen sehen konnte, obwohl ich mich zur gleichen Zeit darin als Reisender befand. Er fuhr nicht wirklich los, sondern dehnte sich Kilometer um Kilometer nur immer weiter bis zum Endbahnhof und ich musste in ihm durch die ganzen Rollkoffer und Brettspielfamilien hindurch, um aussteigen zu können.

9.6.

Vor dem Easy Rider ließ ich mich beim Mittagessen in eine Gespräch über die Lebensmittelpreise verwickeln. Es ging dabei um den ominösen Texas-Burger, der dort auf der Karte steht. Es wird andauernd von ihm geschwärmt, aber ich war noch nie dabei, wie einer der Stammgäste ihn auch tatsächlich bestellt hat. Angeblich ist er extrem wohlschmeckend und dazu noch derart sättigend, dass man drei Tage lang nichts mehr zu essen braucht. In dem Gespräch wurde mir aber auch klar, dass einige der Stammgäste lange Wege auf sich nehmen, um zu Imbissen und Pizzerien zu fahren, weil dort die Margharita für 4 Euro serviert wird. Dazu wurde mir auch jeweils der Durchmesser der Pizza in Zentimetern und das Gewicht des Rumpsteaks in Gramm mitgeteilt. Dann kam ein Mann in Domestosjeans mit einem USB-Stick und verlangte vom Wirt des Easy Rider, dass er die Musik über die Lautsprecheranlage abspielte. Es handelte sich um eine seltsam wehmütige Melodie, und Shazam meldete, dass es Juliane Werding war, die da sang. Der Stick-Besitzer lauschte indes gebannt und hielt sich dabei mit einer Hand am Tresen vor der Durchreiche fest. Auf seinem T Shirt stand: »I Hear Voices / They Say I Don’t Like You«.

Das wurde mir dann insgesamt zu intensiv als synästhetisches Erlebnis, das Setting des Easy Rider an sich genügt mir ja schon vollkommen. Also wanderte ich über den Pfad durch das Gebüsch und ließ mich auf der Terrasse der Motorradrockerkneipe nieder. Da finden sich ja zur Mittagszeit längst nicht nur Zweiradfreunde ein, sondern vor allem auch die Rentner aus dem gegenüberliegenden Zehlendorf. Weil das Essen billig, die Teller prall gefüllt sind, und weil man in der Sonne sitzen kann. Rentner finden ja irgendwie so selbstverständlich zueinander wie Mitglieder einer Jugendkultur. Es ist wie in einer Innung. Man teilt die selbe Erwerbssituation und man hat die selben Gedanken: die Gesundheit, die Enkel, der Tod. Dass sich die Terrasse gegenüber einer Tankstelle und neben einer Autobahnausfahrt befindet, stört da nicht. Die Kellner tragen T-Shirts auf denen steht: »Ich bin eine Maschine«.

Die kleine Gruppe neben mir bestand aus drei Männern und einer Frau. Die Männer in großkarierten Hemden, teuren Uhren, mit gepflegten Zähnen. Es ging um Alexander Gauland und Frauke Petry. Der Fall sei doch klar, das seien doch alles keine dummen Leute. Frau Petry sei Chemikerin, so wie Angela Merkel Physikerin sei. Auch der Gauland habe doch früher keine dummen Sachen gesagt. Björn Höcke sei Lehrer gewesen. Dann ging es um Bernd Lucke, den einige der sich Unterhaltenden noch persönlich kennengelernt hatten. Mit Hans-Olaf Henkel waren sie alle drei persönlich vertraut. Nein, der Fall sei doch völlig klar, hier würde gerade die Situation von den Regierungsparteien im Verbund mit der Presse verdreht. Dann ging es um den Fußballspieler Jérôme Boateng und um die knifflige Frage seiner Identität. Unter der Mediation des Meinungsführers einigte man sich schließlich darauf, dass es sich bei Boateng um einen Halbdeutschen handele.

Der Meinungsführer hatte so eine Art zu sprechen, die mich an Dieter Bohlen erinnerte, was nicht allein an seinem hanseatischen Dialekt lag, sondern an dieser Mimik, bei der die Vorderzähne stets gebleckt wurden, während eine Art von Lächeln mit Grübchen das umliegende Gesichtsfeld beherrschte. Er brachte das Argument vor, dass es sich im Falle Deutschlands um gar keine Demokratie mehr handele, denn es sei doch nun ganz klar, was das Volk wünsche – es geht um die Flüchtlinge, um den befürchteten Nachzug deren Familienangehöriger, vor allem geht es um den fehlenden Anpassungsdruck an die deutsche Sprache und die deutsche Kultur. Die einzige tatsächliche Demokratie, so stimmten die drei Männer am Nebentisch überein, bestünde noch in der Schweiz. Dort würde regelmäßig und bei geringsten Anlässen das Volk selbst befragt. Und danach würde gehandelt.

Die Frau sagte nichts. Ihren Arm mit schöner, flacher Uhr und mit Ringen an den Fingern hielt sie die meiste Zeit über der Tischplatte in einer Schwebe, um nur manchmal, dann aber lautlos, ihre geballte Faust neben ihrem Teller abzusetzen. Sie hatte wohl gelernt, dass sie den Mund zu halten habe, wenn über Politik geredet wird und taute erst auf, als einer von den anderen das Eis holen ging. Der Redeführer erzählte beim Löffeln einer Straciatella, dass er sich selbst momentan als Zwangsdeutscher empfinde. Weil die Rückflüge in die Vereinigten Staaten derzeit zu teuer seien. Er war ja vor Jahrzehnten bereits dorthin ausgewandert, kannte sich von daher gut aus mit einer Zuwanderergesellschaft. Und dann kam das Übliche mit dem Hymnensingen und dass dort jeder sofort Englisch lernen müsse und dass es niemanden dort gebe, der nicht von sich behaupten würde, dass er stolz sei, ein Amerikaner zu sein. Genau dort aber, da waren sich alle einig, läge für Deutschland das Problem: Kein Araber sage, dass er stolz sei, ein Deutscher zu sein, weil ja die Deutschen selbst nicht stolz darauf seien usw.

Abends dann Besuch von Henning. Wir tranken ein Bier und schauten aufs Wasser. Die Tiere hatten sich versammelt, wie um sich vorzuführen. Und das, obwohl ein ziemlicher Wind ging, landeinwärts, und der See zeigte sich weindunkel und mit starken Wellen. Die wenigen Boote zogen schnell und schräg dahin. Gespräch über Schreibprobleme und Beziehungsfragen. Henning sagte: Eigentlich ist das kein See, das ist die See.

Musste ich ganz dringend noch eine Schicht Fernsehen drüberlegen. Auf Arte lief eine tolle Dokumentation über Uwe Johnson in New York: »Für Uwe Johnson und sein Alter Ego Gesine Cresspahl wird die New York Times zu einem Fenster zur Welt.« Ich freute mich auf die Zeitung, auf den Tagesanbruch und auf den Kaffee.

8.6.

Als ich erwachte, fand ich mich von Gärtnern umzingelt. Aus allen Himmelsrichtungen drangen die Motorengeräusche durch die geöffneten Fenster. Das wurde zwar laut, klang in sich trotzdem harmonisch, also hörte ich mir das ein paar Stunden lang an. Interessanterweise drehen einheimische Vogelarten in so einem Fall der anschwellenden Umweltgeräusche einfach ihre Stimmen ebenfalls weiter auf, um das von den Motoren zu ihren Füßen erzeugte Grundrauschen übertönen zu können. Kanarienvögel hingegen, das weiß ich aus einer anderen Situation, verstummen dann, wenn auf dem Grundstück nebenan ein Einkaufszentrum gebaut wird, beispielsweise.

Stunden später, ich war gerade etwas weggeschlummert, fingen die Vögel erneut an zu kieksen. Dieses Mal war es eine verschnupft klingende Mikrofonstimme, die ihre Singstunde zu stören begann. Der schallende Lärm kam aus dem Dickicht, hinter dem sich der kleine Hafen der Berliner Wasserverkehrsbetriebe befindet. Ein Hafenfest am Dienstag – das konnte ich mir nicht erklären. Nun war da, als ich mich durch den kleinen Park kommend der Anlegestelle näherte, ein Originalmississippischaufelraddampfer vertäut. In einer Gegend, wo sonst im Sonntagsverkehr auch gerne mal mit Holzfeuer betriebene Omnibusse eingesetzt werden, sorgt das natürlich für großes Hallo. Dazu war das gute Stück noch aufgezäumt, das gesamte Oberdeck war mit weißen Zelten im orientalischen Stile überdacht, in den Dachspitzen, die baiserhaft anmuteten, waren Effektlaternen eingebaut, sodass nach einem märchenhaften Sonnenuntergang diese Zeltspitzen in Lila und Rosa und Apricot würden leuchten können. Der gesamte zu diesem Traumschiff hinführende Steg war ebenfalls mit solchen Baiserhäuschen zugestellt, darin fand eine Art Willkommensdrinksituation statt. Es war aber keine orientalische Hochzeit, es war die sogenannte Spargelfahrt des Seeheimer Kreises, und wie der Name schon andeutete, waren dort auf dem Steg und dem Schiff ausschließlich identisch gekleidete Männer zu sehen. Also wie Axel Wallrabenstein, bloß ohne Bart. Wobei Axel Wallrabenstein ja eher CDU-Mitglied ist, und die Spargelfahrer waren vom Team SPD. Angeblich war sogar Sigmar Gabriel an Bord. Angeblich, so sagte mir das eine reizende Dame aus der Zuschauermenge im Park, war das sogar Sigmar Gabriels Stimme, die da soeben noch, von den Lautsprechern verstärkt, bis zu mir hinüber gedrungen war.

Okay.

7.6.

Langes Telefonat mit Erik, der durch unseren Ausflug nach Schnellroda ins Nachdenken gekommen ist über die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Neonazis in seiner Jugend. Er konnte sich wieder erinnern an eine Wand in seinem Jugendzimmer, an die heftete er die abgeschnittenen Ärmel der Bomberjacken seiner Feinde. Das nannte sich Skalpieren, wenn man dem Gegner, der zu Boden gegangen war, einen Ärmel abschnitt. Einmal hatte dann einer wohl seine Mutter vorgeschickt, die bei Erik höflich klingelte, um ihn zu bitten, ihr wenigstens den Naziaufnäher abzutrennen und mitzugeben. Den hatte sie, das brachte die Mutter als Argument: von Hand bestickt.

6.6.

Im Speisewagen sah ich auf den Hinterkopf eines Mannes im schwarzen T-Shirt, über dessen gesamten Hinterkopf und Hals eine Narbe verlief: diagonal hinter der linken Ohrmuschel beginnend, bis sie, für mich unsichtbar, weil seinen Hals umrundend, vielleicht vorne am Schlüsselbein enden mochte. Vielleicht aber auch nicht? Ich konnte meinen Blick nicht mehr von dieser Narbe abwenden, die auch noch besonders deutlich dadurch hervorstach, dass der Mann sein lockiges Haupthaar in einem sogenannten Undercut frisiert trug, der Bereich am Hinterkopf und um die Ohrmuscheln herum also raspelkurz frisiert war – wodurch war diese Narbe verursacht worden? Ich traute mich weder, ihn anzusprechen, noch traute ich mich, eine Aufnahme zu machen. In meinem Notizbuch fertigte ich mir eine Skizze an, eine Studie des Hinterkopfes, einen Narbenlageplan.

Das war circa acht Minuten nach Wolfsburg, als dieses kleine Dorf entlang der Robinienallee ins Bild gefahren worden war. Und der Himmel war stahlblau, er wirkte wie transparent auf mich, wie diese Folie, die in den Filmen der Augsburger Puppenkiste das Meer darstellen sollte für Seeelefant Seele-Fant und für das Urmel und in der Höhle mit den Edelsteinschätzen: die magische Krabbe. Keine einzige Wolke am Himmel und es war noch nicht einmal Mittagszeit, es würde also noch viel heißer werden. Ganz anders als vorgestern, dem Tag, an dem die Wolken zweifarbig am Himmel hingen. 36grad (2Raumremix). Die meisten Menschen, die ich kenne, finden 2Raumwohnung kindisch. Ich nicht.

Kurz vor Wustermark dann ein Feld aus Klatschmohn. Mir fiel ein, wie Jan, vor vielen Jahren mittlerweile, diese Idee entwickelt hatte für die Szene einer Flucht nach gezogener Notbremse. Und die Kamera zeigt, wie die Frau in ein Feld aus lauter Klatschmohn läuft – weil sie kurze schwarze Haare haben sollte. Das geht jetzt nicht mehr, wegen Frauke Petry. Aber sie verschwände ungefähr dort, am Rande des blaßroten Feldes im tiefen, dunklen Wald.

Dann Heerstraße: endlich die Stadt. Sie wird angekündigt durch sich auftürmende Wolken, die blumenkohlfarben sind. Weil sie aus den Ausdünstungen der Menschen, die hier leben, bestehen. Zwei Stunden Zeit, aus dem Taxifenster auf die grünen Wolken und Ballen zu starren, die hier draußen die Straßen säumen. Und davor das grelle Laub eines Ginkos. Seine Blätter wachsen einer geraden Linie entlang empor.

5.6.

Irgendwo hatte Arno Schmidt einmal ausgerechnet, dass man im Verlauf einer durchschnittlichen Lebenszeit maximal 2500 Bücher zu lesen schafft. Ich habe es bislang verpasst, mitzuzählen, aber ich bin trotzdem froh, dass Der Tod des Märchenprinzen von Svende Merian nun bei mir dazugehört. Erschienen im Jahr 1980, verkaufte sich der auf extremistische Weise autobiografisch konzipierte Liebesroman um die zweihunderttausend Mal, und das erklärt extrem viel über seine Ära, in der sich beispielsweise auch die eigenhändig illustrierten Gedichte von Kristiane Allert-Wybranietz jahrelang in der Bestsellerliste des Spiegel in den Spitzenpositionen halten konnten.

Beide Autorinnen, Svende Merian wie Kristiane Allert-Wybranietz, gerieten in den Neunzigerjahren in Vergessenheit. Die Dichtern betreibt heute einen Grußkartenservice im Wendland, Frau Merian schreibt einen Blog für übersehene Kinder- und Jugendliteratur. Im Gegensatz zur Poesie von Allert-Wybranietz lässt sich aber die Geschichte vom Tod des Märchenprinzen noch immer sehr gut lesen. Ich meine sogar: mit Gewinn. Als historischer Roman aus den späten Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Und als wichtiger Bericht einer Chronik der Gefühle zwischen Frauen und Männern. Beziehungsweise: aus der heißen Phase unmittelbar nach dem Heißen Herbst.

Wer schön sein will muss leiden – der Spruch trifft nicht nur auf Äußerlichkeiten zu. Bei Svende Merian, deren Protagonistin genau so heißt wie sie selbst (Svende), geht es sogar ausschließlich um das Innenleben ihrer beiden Figuren. Und im Gegensatz zu ihm, den sie anfänglich für einen Märchenprinzen hält, strebt sie nach seelischer Politur, wo er sich bald nur noch gehen lässt. Dieser Mann heißt einfach Arne. So viel zur Staffage. Und er hat seidiges Haar, das ihr an einem Morgen, weil er selbst bei Minustemperaturen auf geöffnete Schlafzimmerfenster besteht, eiskalt erscheint. Die Liebesgeschichte, die Annäherungsphase wird schön beschrieben, doch kurz darauf schon wird es beinahe unerträglich realistisch und dadurch auch anstrengend. Und so bleibt es dann auch. Beziehungsgespräche sind ja für beide Beteiligten nicht eben angenehm, aber in dieser Zeit muss es dermaßen unerbittlich zur Sache gegangen sein, dass man sich nur noch graust. Und dass man plötzlich versteht, weshalb all die rechtsgewendeten Ex-Aktivisten linker Kulturproduktion wie zum Beispiel Botho Strauß und Peter Stein in den Neunzigerjahren betonen wollten, dass »man sich damals in Sachen Liebe und Beziehung viel zu viel zugemutet habe«. Svende Merian dreht mit ihrer gnadenlosen Offenheit bei gleichzeitiger Hypersensibilität derart beharrlich auf, dass ihre Erzählung an keinem Punkt ins Parodierbare kippen will, es trotzdem zunehmend Schilderungen gibt, wie jenen Auseinandersetzungen, die dann eben nicht mehr unter zwei sich trennenden Liebespartnern stattfinden, sondern im Plenum der Wohngemeinschaft als Gruppendiskussionen. Hart auch, wie ihr innerer Monolog beständig und bei leichtem Nachdenken bereits von Liebesschwüren ins Feinddenken sich verkehrt. Märchenprinz und Schwein liegen in ihrem geschlechtspolitischen Gedankengebäude in unmittelbarer Nachbarschaft beieinander, und dass sie den Märchenprinzen, für den sie Arne aufgrund dessen Sanftheit zu Anfang noch halten konnte, am Ende begraben muss, ist die Frucht ihrer Erkenntnis, dass sie den Einen ohne das Andere niemals bekommen können wird.

Trotz all der Quälerei, der oftmals im Wortsinne peinlichen Passagen, fühlte ich mich nach der Lektüre des für 1 Euro 30 erstandenen Romans auf seltsame Weise bereichert. Die alltägliche Mann-Frau-Kommunikation auf einer Fahrt mit der S-Bahn nahm ich ganz anders, als erfrischend, natürlich auch als deprimierend wahr. Selbst wer sich für Liebe gar nicht oder wenig interessiert – soll’s ja geben, es gibt ja so viel –, könnte diesen Roman mit Gewinn lesen, wenn er sich dadurch die darin extrem präzise geschilderte Atmosphäre vergegenwärtigen lässt. Als nämlich alles noch politisch wahrgenommen wurde und war. Als man sich jeden Abend, oft auch tagsüber mehrfach mit anderen traf, um die Alternativen zum Bestehenden zumindest zu diskutieren. Das kann man freilich albern finden oder prekär – ganz so dumm war die Idee allerdings nicht. Als fun fact fand ich auf Seite 101 meiner Ausgabe auch die meiner Ansicht nach erstmalige Erwähnung jener virulenten Phrase, man habe »etwas akustisch nicht verstanden«. Die Szene an sich ist aber halt leider überhaupt nicht funny. Wie eigentlich keine einzige in diesem Roman. Sehr oft rührte die Erzählung der tapferen Svende mich dagegen zu Tränen. Vor allem da, als sie sich, vollkommen kirre vor Liebeskummer, in die Bildwelten ihrer Postkarten mit naiver Malerei hinein und fort zu träumen sehnt. Oder wenn sie sich auf eine der zermürbenden Diskussionen mit dem Ex-Märchenprinzen vermittels eines Stichwortspickzettels vorbereitet, den sie »in der Latztasche ihrer Latzhose« aufbewahrt. Und trotzdem keines ihrer Argumente vorzubringen schafft, weil da wieder bloß Nebel ist in ihrem Bewusstsein, wenn sie ihm gegenüber steht.

4.6.

Gestern früh gab ich einer spontanen Eingebung nach, was ich auf den Ablauf meiner Tage bezogen so gut wie niemals tue (vermutlich wirkte der Zauber des Easy Rider halt noch nach), kaufte keine Zeitung, bog stattdessen links ab und ging direkt zur S-Bahn, um einen Schönheitstag zu machen. Also mit mir machen zu lassen. Und betrat nach kurzer Fahrt den neuen Salon auf der Potsdamer Straße, den ich im Vorbeispazieren schon einige Male von behaglichen Geräuschen begleitet zur Kenntnis genommen hatte, denn aus irgendwelchen Gründen waren mir die Betreiber, ich glaube, es sind alles Brüder, sympathisch. Außerdem fand ich die Einrichtung gut. Der Salon ist nicht gerade groß, vier Stühle nur, aber für jeden Platz gibt es einen Friseur. Ich sprach den letzten noch untätigen, es war der jüngste der vier Männer, an, ob er mir den Bart etwas in Form bringen würde. Das dauerte dann eine halbe Stunde und er versuchte nicht einmal mit mir ein Gespräch anzufangen, was ich optimal fand und auch dessentwegen sogar zweimal kurz einnicken konnte. Als wir uns das Ergebnis gemeinsam im Spiegel betrachteten, lobte ich ihn sehr. Da sagte er: »Sie haben einen sehr schönen Bart.« Und dann fachsimpelten wir noch etwas über meine diversen, eher strukturell zu nennenden Haarprobleme, während der Mann auf dem übernächsten Stuhl zu seinem Betreuer sagte: »Du siehst jetzt, was mein Problem ist, oder?«, und darauf der »Ja, Mann. Du hast zu große Ohren. Habibi.«

Sechs Euro. Kann eigentlich kaum wahr sein.

Wenige Meter weiter betrat ich den Salon mit dem Logo aus kyrillischen Buchstaben für Tscharodejka, die angeblich »Zauberin« bedeuten. Den Laden gibt es schon so lange, wie ich die Potsdamer Straße kenne. Also so lange wie den Dalmatiner Grill, wie Woolworth und das Varieté Wintergarten, Riekes Rasthof und früher auch mal den Tagesspiegel, aber eben schon viel länger schon als Andreas Murkudis beispielsweise oder den Acne Superstore. Bislang habe ich mich dort auch noch nie herangetraut, weil das Innere allein von den Farben her ziemlich abschreckend wirkt (also Tscharodejka jetzt, nicht Acne oder Murkudis!!!), aber wahrscheinlich hat dieses Buch, mit dem ich mich in den letzten Tagen intensiv beschäftigt hatte, bei mir eine innere Wandlung bewirkt, es erzählt ja aus den letzten Tagen der Siebzigerjahre und: auf einmal saugte es, also mein gewandeltes Inneres (Schachtelwahrnehmung!!!) mich nun geradezu ins Reich der Zauberin hinein. Auch und vor allem, da die dort durchgeführte Pediküre mit »Russische Prozedur – Höchste Qualitätsstufe« angepriesen wird. Es ging auch gleich gut los, weil diese an schambesetzten Körperteilen stattfindende Prozedur in einem Hinterzimmer durchgeführt wurde, während die Manikürekundinnen direkt vor den Schaufenstern zur Straße lagen. Einer der zahlreichen Faktoren, weswegen die Behandlungen in diesem Salon völlig zu Recht als Premium angepriesen werden durften, besteht übrigens in den mit weißem Knautschleder bezogenen Opiumsesseln, die meiner Ansicht nach von dem Hersteller der First-Class-Sitze für Singapore Airlines stammten. Alibihaft griff ich nach meinem Buch, schlief aber sofort ein. Um natürlich mehrmals vor Lachen wieder aufzuwachen, wenn die Zauberin mit ihrem elektrischen Schleifgerät an dieser einen meiner für Kitzelreize ansonsten weniger empfänglichen Zehenwurzeln rührte. Und weil sie halt dieses Ding anhatte, das mich sofort an die Arbeit am Feed der Dicken Bürste erinnerte; und wie oft ich dabei einst »Abb. Emoji: Face With Medical Mask« eingetippt hatte.

Gegen übertriebene Heiterkeit half aber dann sozusagen leider auch ein mir gegenüber plazierter Kunde männlicher Gestalt, der die erste Zeit der über eineinhalb Stunden währenden Prozedur dazu nutzte, in sein iPhone zu schwätzen. Daran störte mich nicht allein, dass es in allerbreitestem Niedersächsisch geschah, sondern dass ich halt aufgrund der Innenarchitektur des Zauberinnenreiches, namentlich der Beschaffenheit des Hinterzimmers, alles mitbekam, was er in seinem zwanzigminütigen Telefonat seinem Liebespartner mitzuteilen hatte. Es war dessen nicht viel. Wurde aufgrund dessen aber extrem variantenarm wiederholt. Dagegen habe ich an sich nichts, wenn es die immerselben Knüller sind, die wiederholt werden. Mache ich ja selbst auch und genau so. Aber a)tens halt nie in Gegenwart anderer. Und b)tens schon gar nicht in einer Sprache (Niedersächsisch), die eine beispielsweise zu meinen Füßen an mir prozedierende Russin nicht versteht, wenn es c)tens in meinem pointenlosen, larmoyanten, megatuckigen auf niedersächsisch vorgetragenen Herrschaftstalk um diese zu meinem Füßen an mir prozedierende Russin, um ihren Körper, um ihre pedikürielle Unbegabtheit geht. Extremer Abfall also dieser Mann, wie Dicke Bürste twittern würde (Abb. Emoji »Put Litter In Its Place«). Ich habs nicht getwittert. Nach einer halben Stunde wurde er nämlich ins Schaufenster bugsiert, wo er sich die Fingernägel schleifen ließ – aber wozu hat der liebe Gott die Freisprecheinrichtung erfunden! Im Hinterzimmer hingegen kehrte göttliche Stille ein. Ab und an ein Glucksen aus dem Cremetöpfchen.

15 Euro. Kann eigentlich kaum wahr sein.

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