»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

3.1.

Kaum dass wir aufgelegt hatten, kam von meiner Mutter noch eine Nachricht: Mein Füller war wieder aufgetaucht! Sie schickt ihn mit der Post nach Berlin. Mal schauen, wer von uns beiden eher dort eintrifft: er oder ich (mit dem ICE). Seltsamerweise wollte und wollte mir nicht einfallen, wo sich das Briefzentrum in Stuttgart befindet. Hier in Frankfurt kannte ich es ja mittlerweile zumindest von außen.

Auf jeden Fall aber fängt das Jahr somit gut an, ich las die Nachricht vom wiedergefundenen Füller nur zwischendurch und eingeschoben in meine Lektüre des großen Textes von Reinhard Mey, der in der Zeitung unter der selten vergebenen Rubrik »Ereignisse und Gestalten« gebracht worden war. Er erzählt den Anfang seines Lebensweges im Jahr 1967. Sehr schön und, wie beinahe immer, wenn es um die Ereignisse aus einer Zeit vor den Neunzigerjahren aus heutiger Perspektive geht, auch ganz schön abenteuerlich (Leben mit fast ohne Geld!). Vor allem kann er, Reinhard Mey, halt wirklich gut schreiben. Freiwillig würde man das ja nicht unbedingt lesen wollen, wenn ein Musiker seinen Werdegang beschreibt; also ich jedenfalls nicht (aber auf der Seite war schwarz-weiß das Bild eines sturmumtosten Helikopters abgebildet gewesen und darüber, von viel Weiß umgeben, nackt und bloß die Worte »Sturm und Drang«, die hatten mich angelockt; wobei das ja, wenn ich es allein so beschreibe, auch wieder tief blicken lässt. Also gerade nicht tief – oder nicht gerade).

Die Amaryllis war aufgegangen. Eine zweihälsige Blume mit insgesamt vier Blüten, alle in rot, die, als ich hier kurz vor Weihnachten eingetroffen war, noch sämtlich in grün verschalten Knospen steckten. Wenn ich in der Bahnhofsunterführung oder sonstwo ausgewachsene Amaryllis in ihren langen Kartons aus Holland oder Indonesien liegen sehe, bekomme ich fast immer Lust, mir eine zu kaufen, um in ihren Stiel hineinzubeissen, weil diese Stiele etwas Zwiebeliges auf mich ausstrahlen. Bei den kleinen hier ist das anders, aber die wachsen ja auch aus einem mit Erde gefüllten Topf und von daher gibt es keine Schnittfläche zu sehen, die mich zum Stengelbiss verführen könnte.

Am Himmel war eine lehmfarbene Wolke erschienen, der Himmel war durch sie allein zu einem Himmel auf einem Gemälde aus den Zwanzigerjahren geworden und wir hörten das Köln Concert von Keith Jarrett, alle Sätze, bis es dunkel war.

2.1.

Dringende Nachricht von meiner Mutter: »Haben eben dein Interv. in SWR 2 gehört«. Es ist noch nicht einmal sieben Uhr. Mein erster Gedanke ist nicht: Warum wird diese Sendung denn so früh gesendet?, sondern: Warum sind meine Eltern denn schon so früh auf? Umsonst gesorgt, am Telefon- sie geht sofort ran - klingt meine Mutter nicht nur munter, sondern auch gesund. Neujahrsgrüße, kurzer Abriss ihrer Silvestergeschichte: Bis um halb drei in der Früh war bei den Nachbarn von gegenüber noch gezecht worden, dabei wurden die Fotos vom Peru-Urlaub betrachtet — auf einem der Fotos, meine Mutter beschreibt es sehr genau, ist eins der dort heimischen Meerschweinchen zu sehen, mit einem für Peru-Urlauber ungewohnten Gesichtsausdruck, so als ob es sich erschreckt habe im Moment des mit Blitzlicht Fotografiertwerdens, doch kommt dieser Gesichtsausdruck, ich weiß das, denn ich war selbst schon dort im Lande der Inka, vom Gebratenwerden, denn Meerschweinchen werden dort, man glaubt es kaum, wie bei uns die Hendl verzehrt. Ich fragte meine Mutter, ob sie sich noch daran erinnere, dass dieses Meerschwein dem Nachbarn in Cuzco serviert worden sei, denn dort, in Cuzco, einem malerischen Andendorf am Ende des runway of the gods, hatte auch ich das eine oder andere cui, wie die possierlichen Kleinsäuger dort genannt werden, verdrückt.

»Cui — aha«, fiel meiner Mutter dazu ein. »Man nennt sie so, weil sie diese Geräusche machen: cui, cui, cui.«

Absolut. Beziehungsweise höchstwahrscheinlich. Es ging dann noch um die Abwesenheit einer Schneebar an Silvester vor dem Haus der Nachbarn. Weil es nicht geschneit hatte. Wieder einmal, wie man - wie ich fand: leider - sagen muss. Eben gar nicht leider, wie meine Mutter fand, denn, wie sie mich bereits vor Weihnachten ermahnt hatte, war das lediglich eine trügerische Erinnerung meinerseits, dass es früher an Weihnachten und Silvester immer und andauernd geschneit habe; sie, die diese von mir erinnerten Weihnachten und Silvester größtenteils mit mir zusammen verbracht habe, hatte die nämlich als größtenteils schneelos beziehungsweise kaum verschneit erlebt. So halt auch, sie war schließlich noch immer vor Ort, im Heimerdingen dieses Jahres, das nun ein vergangenes war.

Unterdessen hatte es hier in der Gass‘ unter dem Messeturm angefangen, schleimig zu schneien. Das Telefongespräch mit meiner Mutter hatte ich begonnen bei gelblichem Licht, ganz typisch an einem Morgen, wenn es zu schneien droht. Als ich die ersten Flocken trudeln sah, ging ich mit der Stimme meiner Mutter am Ohr in der Wohnung auf und ab und sah, dass dort im Hinterhof ein ganz anderer Schnee fiel als auf der Fassadenseite: dichter, trockener und - bei Schnee versteht sich das ja eigentlich von selbst, und trotzdem muss es hingeschrieben werden - reiner. Das kleine Rasenstück neben dem Fabrikgebäude, in dem ich einst meine Milchbar eröffnet haben würde, schien mir ohne meine Brille besehen bereits so dicht an dicht mit Flocken überzuckert wie eine Schwarzwälder Kirschtorte ohne Kirschen und mit nur ganz wenigen Schokoladenstreuseln.

Da drin herum hüpften zwei Amseln auf der Suche nach steifgefrorenen Regenwürmern oder solchen Schnecken, die es nicht mehr rechtzeitig unters Gebüsch geschafft hatten. In Berlin, so las ich, sollte es zwei Grad haben, dazu Nebel. Mich fror.

1.1.

Still wie am Neujahrsmorgen: Eine stehende Redewendung in welcher Sprache noch gleich? Auf jeden Fall ist es so still, als ob das an jedem Neujahrsmorgen so zu sein habe und einfach so ist. Schnee liegt auf den Dächern von Autos und Häusern. Ein kleines Räumfahrzeug gibt es auch. Von kurz vor Mitternacht an hatte sich der Nachthimmel in gelblichen Nebel verfärbt, der dann – man knallt hier in Frankfurt vergleichsweise disziplinierter als in Berlin, das Feuerwerk war nach zwanzig Minuten vorbei – in Form von stehenden Wolken durch unseren Hinterhof geweht wurde. Unheimlich, wie dann die sich beruhigende Nacht von vereinzelten Schlägen wiederhallte. Salvenhaftes Geknatter.

Zusammen im Bett liegen und sich dann an die schrecklichsten Betten erinnern, in denen man jemals gelegen hatte. Betten in fremden Ländern, Betten auf Reisen zumeist. Aber auch deutsche darunter. Im Traum hatte ich dann mit dem Relaunch eines Fühstücksflockenunternehmens zu tun. Also nicht allein mit deren Produkten, sondern vor allem auch mit der Kultur des Hauses, mit seiner Architektur vor allem. Mein Arbeitsplatz, insofern der sich überhaupt klar von meinem andauernden Herumstehen auf der allabendlichen Gartenparty, die dort zu den wesentlichen Bestandteilen der Unternehmenskultur gehörte, unterscheiden ließ, war an einem langen Tresen am Aufgang zur Sky Lobby, wohin ich die Nadel im Tonabnehmer eines Kofferplattenspielers zu tauschen gekommen war. Währenddessen nahm ich einen Telefonanruf von Tamara Rothstein an, die mir, noch während sie am Telefon mit mir sprach, mit verschlossen wirkendem Gesicht in den Arm einer Begleiterin untergehakt, entgegenschritt, woraufhin ich sie telefonisch darum bat, »sowas in Zukunft zu unterlassen«. Die müslihaften Mischungen waren in silbernen Tüten verpackt, die mich doch sehr an die Corporate Identity von Seitenbacher erinnerten. Zu sehr, und das sprach ich auch offen aus. Die Arbeit ging mir leicht von der Hand. Ich arbeitete mit Götz Offergeld zusammen, der Müslifabrikant selbst hielt sich den Traum über im Hintergrund (wie es schien). Ich weiß noch, wie da eine mich an die Chefstewardess Beatrice erinnernde Chefmüslimischerin mir aus einer silbernen Tüte ein appetitlich gelbes Gelee auf meine Müslimischung quetschte, auffordernderweise, und dass ich mich bei dem Aroma dieses Gelees an einen Antigrippesaft aus meiner Kindheit hatte erinnert gefühlt, einen dünnflüssigen Schluck aus braunen Glasampullen jeden Morgen, von denen meine Mutter immer beide Spitzen abbrach, sodass ich dann aus ihrer Hand meinen nach dem Traumgelee schmeckenden Saft aus der Ampulle schlürfen konnte.

In dem kleinen Interview mit dem Südwestfunk, das gestern Nachmittag aufgezeichnet wurde, fragte der Redakteur sehr viele gute Fragen. Beispielsweise las er mir eine Liste vor von Themen, die er aus den Tagebucheinträgen 2016 exzerpiert hatte. So untereinander geschrieben, klang diese Abfolge sogenannter Themen maximal wirr, also wirrstens, also sehr lustig, lustigst also, aber auf seine Frage, die ungefähr lautete: Wie kommen Sie darauf, was wählen Sie aus, blieb ich ihm die Antwort zur Hälfte wohl schuldig, weil ich ihm wahrheitsgemäß sagte, das Leben sei einfach so.

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