»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

20.8.

Es fing schon traumhaft an. Unter sommerlichem Himmel hingen vereinzelt flaumweiße Batzen, es war auch warm, aber nicht zu warm, und am Fußgängerüberweg belauschte ich zwei Anwohner, die, das war an dem mitgeführten Rollkoffer des dritten abzulesen, ihren Hausgast zum Bahnhof geleiteten. »Schönes Wetter«, fing der einen Satz an, um die Stille zwischen den in loser Folge vorüberfahrenden Autos zu überbrücken. Die Gastgeber bestätigten seinen Eindruck aus ihrer Perspektive. Woraufhin er seinen Gedanken abschließend behauptete, dies schöne Wetter mitgebracht zu haben. Was freilich geflunkert war, denn Wetter lässt sich nun mal nicht transportieren; schon gar nicht in einem Rollkoffer, denn dazu, aber selbst das ist ein menschlicher Trugschluß, ist Wetter an sich viel zu groß.

Wenn man mit anderen Menschen zusammen Tiere beobachtet, macht man dabei vor allem Beobachtungen der anderen Menschen. Jedenfalls schien mir da so, als ich einige Zeit später unter demselben Himmel, aber um etliche Meter erhöht auf dem Dach des Museums für Moderne Kunst angelangt war, wo der Einflug der siegreichen Bienen erwartet wurde. Vom nahen Dom und etlichen anderen Kirchen her wurde das Zwölfuhrläuten herangeweht. Ja, es war doch ein weitaus windigeres Wetter als gedacht. Und es würde mit zunehmender Höhe sich als noch windiger erweisen. In Sichtweite, aber auf Luftlinie tatsächlich 600 Meter weit entfernt, ragte das sogenannte Jumeira-Hotel auf. Von dessen Dach aus würden die Bienen in den Luftraum entlassen. Auf unserer Seite waren sechs Bienenstöcke aufgestellt, deren Deckel jeweils mit den Herkunftsflaggen der wettstreitenden Imker beklebt worden waren. Es waren angetreten die Imker und Imkerinnen aus Frankfurt, Berlin, Polen, Großbritannien und Bulgarien. Der Bulgare indes war der einzige, dem man seinen Beruf auch auf der Gass‘ drunten hätte ansehen können: ein malerischer Typ mit langem, krausem Bart, Pluderhosen und dazu oben in einer reich verzierten Bluse aus weißem Batist - es handelte sich also um eine von ihrem Schnitt her mit jener in der Modegeschichte legendär gewordenen bulgarischen Bauernbluse vergleichbaren, die einst im Jahr 2001 von Tom Ford für Yves Saint Laurent entworfen worden war, und von der, so geht die Legende, am 11. September in den Boutiquen von Yves Saint Laurent in Manhattan hartnäckigerweise Exemplare nachgefragt worden waren, während in Downtown zur gleichen Zeit das Gebäude des World Trade Center brannte und schließlich auch kollabierte, während also mehr als 3000 Menschen starben, hegten nicht wenige ihrer Artgenossen zur selben Zeit unter demselben Himmel ihre gar nicht mal insgeheimen Blusenwünsche.

Am Bienenstock des Polen war indes eine interessante Situation zu beobachten, die von den ebenfalls auf dem Dach anwesenden Fotografen und Kameraleuten dokumentiert wurde: Wespen, als Einzelkämpfer unterwegs, versuchten, in den Stock einzudringen. Rasch solidarisierten sich die Bienen - wie sie untereinander kommunizieren, bleibt rätselhaft; es ist außer ihrem eher gleichförmigen Summen nichts zu vernehmen - und bildeten einen wehrhaften Klumpen vor dem Eingangsschlitz. Von nahem betrachtet, konnte ich erkennen, dass die Bienen die herankrabbelnde Wespe wie mit Faustschlägen ihrer vorderen zwei Beine (sie haben insgesamt sechs!) schlugen. Stechen tun die dazu bekanntlich fähigen Insekten einander nämlich nicht. Schafft es die Wespe trotzdem irgendwie, in den Stock einzudringen, wird sie dort blitzhaft von zig Bienen umhüllt und unschädlich gemacht. Das erläuterte mir der Bulgare, der als einziger seiner Kollegen keinen Kopfschleier aufgesetzt hatte. Vermutlich schützte ihn sein ausladender Bart vor der Stichgefahr durch umherfliegende Bienen. Die Wespe wird im Etui aus Bienen übrigens gargedünstet, in dem die Bienen mit ultraschnellen Flügelbewegungen einen Hitzestau erzeugen. Erst wenn die Wespe in ihrer Mitte keine Lebenszeichen mehr von sich gibt, löst sich die kollektive Umklammerung. Die Bienen gehen zum Tagesgeschäft über.

Den Himmel zwischen dem Dach, auf dem die heimischen Stöcke aufgestellt waren, und dem Dach des 600 Meter entfernten Hotels in der Frankfurter Innenstadt sah ich nun mit anderen Augen. Für ein Lebewesen, kleiner als mein Daumennagel, waren 600 Meter quer durch den freien Luftraum ein gefahrvoller Weg. Vögel kreisten. Mit Sicherheit sagten die zu einem heransummenden Snack nicht nein. Der Frankfurter Imker sagte mir, dass er seine Bienen vor dem Abtransport auf das Hoteldach noch gefüttert hatte, damit die auf dem Weg nach Hause nicht doch noch in die Kleinmarkthalle zum Blumenhändler abschweifen, sondern auf direktem Weg, ohne Kneipe sozusagen, zu ihm zurück fliegen. Die Siegerbiene, natürlich die des Frankfurters, brauchte dann tatsächlich bloß eine Minute und zehn Sekunden für die 600 Meter. Ich war in der Schule immer sehr schlecht bei den Textaufgaben, und so dauerte es auch beinahe so lang, wie mein Heimweg von 4,4 Kilometern, für den ich anderthalb Stunden brauchte, bis ich ausgerechnet hatte, dass die Frankfurter Siegerbiene - die Imker geben ihren Bienen keine Namen, da sind sie anders als andere Bauern, die ihre Milchkühe, aber nun gut - auf über 60 km/h beschleunigt hatte.

Ich ging zu Fuß. Denn plötzlich war überall Polizei aufgetaucht, auf Motorrädern und in langsam heranrollenden Mannschaftswägen, aus deren Kühlergittern sie es blau blitzen ließen. Keine Straßenbahn fuhr mehr. Ich verschluckte mich an einer Zwetschge. Man denkt ja andauernd an Terror. Mir ging aber auch die Bluse des Bulgaren nicht aus dem Sinn. Die bulgarischen Bienen waren übrigens als letzte eingetroffen. Wahrscheinlich, ich dachte an den Fleiß der Mume, hingen einige von ihnen noch in der Kleinmarkthalle fest (oder im Bodensatz eines gerippten Glases, das mit der exotischen Köstlichkeit Apfelwein gefüllt gewesen war.) Doch es war dann bloß eine Demonstration. Ein Korso aus weiteren Mannschaftswagen führte eine müde Menge fetter Kampflesben und Männleins mit spillrigen Bärten heran, die auf oskarmazerathhafte Trommeln eintrommelten. Dazu riefen die Weiber ins Megafon »Kein Profit/Auf Kosten der Tie-Hie-Re!!!«. Es ging also um eine Demonstration von tierfreundlicher Gesinnung. Auf Plakaten waren gewitzt dreinblickende Ferkel abgebildet. Ein junger Mann hatte eine Mütze auf in Form eines Schwans.

16.8.

Am Samstag findet das Bienenwettfliegen statt. Ich freue mich schon (und hoffe auf schönes Wetter). Die Bienen starten um Viertel vor 12 vom Dach des Jumeirah Hotels und werden dann von uns Zuschauern auf dem Dachgarten des Museums für Moderne Kunst erwartet (in Frankfurt). Die Distanz beträgt Luftlinie 600 Meter. Flughöhe: 90 Meter. Start und Flug werden mit Drohnen übertragen (wie passend – wobei doch Drohnen im Bienenkorb die faulen und noch nicht einmal zur Aufnahme des Nektars fähigen Staatsangehörigen sind, deren einziger Zweck (nicht einmal einen Stachel haben sie!!!) es ist, ihren Penis auszustülpen, der ihnen dabei auch noch abfällt, wonach sie dann selbst auch gleich absterben). Die Wartezeit wird mit dem auf dem Dach des Museums geernteten Honig versüßt. Die Einladung zum After-Fly-Drink auf dem Dach des Jumeirah Hotels schlage ich aber voraussichtlich aus.

Vorfreude auch, weil ich in diesem Jahr aus bekannten Gründen so gut wie keine Biene zu Gesicht bekommen habe. Die Hornissen, die in einem Mauerspalt neben meinem Balkon nisten, kommen nur ganz früh am Morgen (und wenn es dann regnet, gleich gar nicht), und kurz vor Sonnenuntergang heraus. Wunderschöne, elegant abschwebende Tiere. Allerdings halt drohnenhaft brummend. Sie hausen dort mindestens zu acht, ich kann sie von anhand ihrer Körperformen ganz gut voneinander unterscheiden. Es sind Fleischfresser. Schinken mögen sie gern. Leberwurst geht aber auch.

15.8.

Beim Verspeisen eines ausgezeichneten Gerichtes, dem Tintenfisch auf zweierlei Arten mit Pfeffer und Salz, das es in der Stadt nirgendwo besser gibt als im betont herzlos eingerichteten Restaurant Aroma (die knusprig umhüllten Tintenfischstücke werden auf einem knusprigen Hügel goldbraun frittierter Knoblauchwürfelchen arrangiert), stellte ich irritiert fest, dass an jedem Laternenpfahl entlang der Kantstrasse ein Bild des jungenhaft lächelnden Tim Renner hing. Weil er, das hatte ich gar nicht mitbekommen, als Spitzenkandidat der örtlichen SPD für den Bundestag kandidiert. Sein Rivale von der CDU heißt Klaus-Dieter Gröhler, bei ihm ist im Hintergrund die charakteristische Fachwerkoptik am Giebel der S-Bahnstation Grunewald zu erkennen – warum ausgerechnet der? Weil er dörfliche Behaglichkeit verspricht. Bei Tim Renner ist, wie bei allen anderen SPD-Kandidaten, Martin Schulz zum Beispiel, der Bildhintergrund weiß gehalten. Anders als Gröhler verspricht Renner zunächst einmal nichts anderes als sein Gesicht.

Im Gegensatz zum Bild von Tim Renner wurde das Gesicht des Kanzlerkandidaten Martin Schulz ziemlich retuschiert. Man erkennt ihn zwar noch, zweifelt aber insgeheim, ob man ihn nicht verwechselt – also ob es in Berlin vielleicht einen Bezirkskandidaten gibt, der ebenfalls Martin Schulz heißt. Ein Phänomen, das neulich schon in einer Karikatur der Stuttgarter Zeitung thematisiert worden war: Dort waren Martin Schulz und Sigmar Gabriel vor einem frisch geklebten Wahlplakat abgebildet. Darauf der Slogan »Wählt Manfred Schulz!« Der gezeichnete Schulz hatte eine Sprechblase, in der er sich über den Druckfehler beschwerte »Ich heiße aber Martin Schulz!« In der benachbarten Sprechblase von Sigmar Gabriels stand der Satz »Ist das denn so wichtig?«

Die Kellner im Aroma ficht dies nicht an. Für die sehen wir Langnasen allesamt irgendwie so aus wie Klaus-Dieter Gröhler, Martin Schulz oder Christian Lindner oder Tim Renner.

14.8.

Nach dem Großeinkauf am Schlachtensee kehrte ich im Café Seepferdchen ein, von dessen Terrasse aus man ungehemmt auf das nahe Ufer starren kann. Die Küche dort wird von zwei Männern aus dem ehemaligen Jugoslawien bewirtschaftet. Es sind Kroaten, vielleicht sogar Slowenen, herauszufinden ist es nicht, weil sie zwar Bestellungen in deutscher Sprache akzeptieren, aber niemals antworten. Was es zu sagen gibt, steht in Kreidebuchstaben auf einer Sinalco-Tafel. Wie jeden Samstagmittag war dort die sogenannte Jardinière angeboten. Denn irgendwie scheinen die beiden auch französische Wurzeln zu haben, die Jardinière jedenfalls ist eine üppig mit separat gegartem Gemüse gefüllte Gärtnersschüssel, zu der ein aus Sardellen und Öl gerührter Dip gereicht wird, wie zum Beispiel auch im Cercle des Amis von Cagnes-sur-Mer.

Diese Köstlichkeit lockt wiederum die Türken an, denn in der Haute Volée von Istanbul wird ja auch heute noch auf Französisch Konversation gemacht und wer sich beim Einkauf dort mit einem Merci bedankt, wird zuvorkommend bedient. Die türkische Runde im Café Seepferdchen besteht ausschließlich aus Gärtnern, die sich in den Vorstadtsiedlungen eine Marktlücke erschlossen haben: Zwar gibt es hier weitflächige Anwesen, deren von Bäumen bestandene Parks von alteingesessenen Gartenbaubetrieben gepflegt werden, aber halt auch sehr viele Einfamilienhäuser mit Gärten von überschaubarer Größe, allerdings sind die Bewohner häufig in einem Alter kurz vor dem Greisenstatus, und können die anfallenden Pflichten nicht mehr zu erfüllen. Um dieses Kleinvieh kümmern sich die Türken. Wenn sie sich allsamstäglich zur Jardinière einfinden, wird die Terrasse des Seepferdchens zum Belauschhimmel – wenn man sich für Gartentalk interessiert. Der eine, mit herrlich grau meliertem Haar, berichtete von einem Problemgarten in der Lohengrinstraße (ich vermutete, es könnte sich dabei um den Bildhauer handeln, dessen Gartentorsäule unermüdlich von der Antifa besprüht wird), wo der Rasen wie von unsichtbarer Hand zweigeteilt auf der einen Seite des Hauses gedeiht, auf der anderen nicht. Und dann ging es natürlich, dabei regnete es gerade einmal nicht, um das Wetter. Einhelliger Tenor der Naturheger und -pfleger: »Langsam reicht’s«. Sowie um die anstehenden Türkeiurlaube im September, wenn – Regen hin, Regen her – die Wachstumsperiode abgeschlossen sein wird.

12.8.

Auch nach so vielen Tagen habe ich noch immer kein anderes Wort für den Regen. Obwohl er heute besonders kleine und anscheinend federleichte Tropfen hat, die, wenn ich sie vor dem dunklen Hintergrund eines Baumes anschaue, während ihres Fallens sich gegenseitig in die Quere treiben, voneinander abprallen wie Funken, was bestimmt faszinierende Aufnahmen ergäbe, hätte ich eine Kamera mit Superzeitlupenfunktion zur Hand. Stattdessen trinke ich gekühlten Birkensaft zum Kaffee. Warm ist es ja schließlich und glücklicherweise. Immerhin.

Trotdem beinahe unglaublich, dass wir vor gerade mal einer Woche noch – in ein und demselben Sommer unter ein und demselben Himmel – durch Stuttgart streifen konnten, ohne Stiefel und Schirm, denn dort und damals war dieser Himmel blitzblau. Im Schlossgarten vor dem Landtagsgebäude türmten sich weggeworfene Pappbecher und Wurstschalen als Überreste des Stadtfestes, das in der Nacht zuvor dort rund um den eckigen See gefeiert worden war. Raupenfahrzeuge wurden zur Räumung eingesetzt. Und auf dem Schlossplatz stauten sich die Transporter diverser Bierverleger und Brauereien. Gleich dahinter, wo am Karlsplatz früher allein das Café Sommer eine Art Attraktion bedeutet hatte, gibt es nun seit kurzem das sogenannte Dorotheenquartier, das ein Einkaufserlebnis verspricht, wie es das früher und damals im ganz Kleinen und Feinen allenfalls in der Calwer Passage am Rothebühlplatz gegeben hatte – die aber ist inzwischen heruntergewirtschaftet und heruntergekommen, daran ist heute nichts mehr, bis auf den Marmorboden, apart. Die beiden kasernenhaft klotzigen Gebäude, aus denen dieses Dorotheenquartier dann letztendlich besteht, haben außer ihren extravagant geformten Fassaden nichts zu bieten, an dem das Auge sich festhalten will. Man wird rasch hindurchgespült und landet am Ende der Reuse dann vor einer ausladenden Filiale von Herbert Secklers Sansibar, die freilich ohne Sand und Wellen und Dünen in ihrer Deftigkeit deplaziert wirken muss in direkter Nachbarschaft zur delikaten Markthalle, aber die Stuttgarterinnen nehmen das Angebot des Exilschwaben Seckler, unter seinen Piratensäbeln aus Neon auf Gartenmöbeln zu loungen, gerne an. Zumal es dort angenehm schattig ist.

Das war es aber auch im Garten der Tauberquelle, die wir nach einem kurzen Rundgang durch das verrufene Bohnenviertel ansteuerten. Dort war allerdings, es war noch am Vormittag, nichts Verrufenes los. In den Schaukästen der Nachtbars waren teilweise noch Bilder von sogenannten Animierdamen ausgehängt, die dort schon hingen, als ich noch keine achtzehn Jahre zählte. Jugendbilder also im vielfachen Sinn. Einige dieser angepriesenen Animierdamen waren vermutlich schon pensioniert, einige gar verstorben, aber ein grünlich verblichenes Ebenbild einstiger Spannkraft wurde in Schneewittchensärgen konserviert.

Noch schiefer und von dem Stapel vergangener Tage deformiert als diese Häuslein im Bohnenviertel ist nur noch die Tauberquelle. Dagegen schaut das direkt gegenüber von einer Verkehrsinsel aufragende Hegelhaus geradezu triumphierend aus – auch wenn dort, sozusagen als Antithese zum lieblichen Anblick des Hegelhauses, die scheußliche Front eines Kaufhofes die Entstehung des idyllischen Bildes zunichte macht. Vom Hegelhaus aus auf die Tauberquelle schauen, wäre wieder etwas anderes. Auf der Straßenseite entsteht jetzt nämlich gleich neben dem majestätischen Tagblattturm ein Gebäude nach dem Vorbild des neuen Innenministeriums in Berlin en miniature, in dem man allerdings, also in dem in Stuttgart jetzt, in Bälde wohnen soll. Das Bauvorhaben läuft unter dem Projektnamen Hegel 21. Obwohl die Fertigstellung mit 2018 angegeben wird.

Dann dort sitzen, im Garten hinter der Tauberquelle, wo man all diese Scheußlichkeiten nicht mehr sehen muss, obwohl man weiterhin mittendrin sitzt quasi. Aber behütet von Rosenbüschen und altem Gemäuer, in dem die Fenster auf einer Höhe eingelassen sind, beziehungsweise in einer Tiefe, die bei uns Heutigen in etwa noch Kniescheibenniveau entspricht. Es gab einen Ochsenmaulsalat, der erfrischend angemacht war. Das Bier wird an solch heißen Tagen, es ist noch nicht lange her, im grauen Steinkrug serviert. Wie gern säße ich jetzt dort. Und bestellte mir den »Oma Anna Teller«. Er ist beladen mit geschmälzten Maultaschen, dazu ein Fleischküchle und ein Schweinsmedaillion. Letzteres wird mit einer Rahmsauce überzogen, in der Champignons in Scheiben geschnitten mitgeschwenkt wurden. Plus Petersilie. Als Beilage Spätzle. Ob die handgeschabt wurden, spielt allenfalls für die Klientel von Herbert Seckler eine Rolle. Die Spätzle in der Tauberquelle sind jedenfalls sehr gut. Und werden, comme d’habitude, mit in Butter gerösteten Semmelbröseln angerichtet.

Herrlich wäre das. Spätestens morgen. Aber ungern allein.

»Aber dann entschied sie sich, noch ein wenig zu warten, machte sich einen Tee, summte eine Melodie von Ace of Base, wurde kurz vom Tod gestreift, griff sich an den Hals und ließ ihre Hand eine Weile dort ruhen, dann zog sie sich Schuhe an und ging spazieren.«

11.8.

Beim abendlichen Betreten der S-Bahn vernahm ich schwäbische Laute. Da stand eine Gruppe von älteren Menschen am Fenster, sie schauten hinaus durch die Glasröhrenwand des Hauptbahnhofes hindurch auf das verzerrt dargestellte Kanzleramt und auf etwas, was für Kenner ganz klar die Schweizer Botschaft war, und unterhielten sich gut gelaunt über den »Mordsbahnhof«. Im Sinne von Mordshunger also, ein Riesenbahnhof, einer der alles verschlingen könnte und der selbst der allerriesengrößten Reiselust von allen als unerschüttelicher Nimmersatt entgegentritt.

Kann man so sehen. Aber in einem Hegelschen Sinne halt auch komplett anders, wie zum Beispiel jene Damen vom Fach, die uns auf unserer Fahrt hinunter nach Stuttgart im Bordbistro bedient hatten. Die hatten, weil es außer uns auf der kurzen Fahrt keine weiteren Gäste mehr gab und sie von daher den Feierabend zum Greifen nah vor sich wähnten, ein Ranking der schönsten Bahnhöfe im deutschen Streckennetz kundgetan: Platz eins war Leipzig, dann Dresden, dann ganz lange nichts. Auf dem letzten aber unumstößlich Berlin. Wir notierten uns derweil in Stichpunkten die Handlung für einen altbackenen Sexfilm mit dem Titel »Bordbistronutten – Sie gehen auf den Roten Strich«, und zwar gar nicht aus Bösartigkeit, sondern weil der frivole Ton, mit dem die Hostessen uns in ihre Kicherei mit einzubeziehen trachteten, uns tatsächlich nuttig vorkam. Seit kurzem verkauft die Bahn ja diese wiederverwendbaren Tassen, die mit naiven Malereien der Landschaften Ostwestfalens bedruckt sind. Die Hostessen hatten sich ihre Belegexemplare dieser von der Bahn sogenannten Mugs gesichert und süffelten daraus jetzt ihren Pseudo-Hugo, den sie aus der Holunderfassbrause und dem Rotkäppchensekt angerührt hatten.

Na ja. Wie gesagt: die Überfahrt währte nur kurz. Aber die Zerstörung des Stuttgarter Hauptbahnhofs: inzwischen sieht es dort aus, als hätten die Bomben des Zweiten Weltkrieges schon wieder eingeschlagen – erbaut wurde er ja während des Ersten. Nun also die Verheerung durch Stuttgart 21. In die Wände der längst nicht mehr provisorischen Bretterverschläge, durch die der Reisende, kommt er nach Stuttgart, auf seinem Weg in die Innenstadt, im Zweifel aber ins nächste Parkhaus, irrt, hat man Guckfenster aus Plexiglas eingebaut, damit man aus der Dunkelheit der Verschläge einen Ausblick hat auf die im gleißenden Sommerlicht sich ausbreitende Baustellenlandschaft ringsum. Wie es sich für eine man-made desert gehört, staubt es überall gewaltig. »Aber Hallo«, wie es in Berlin heißt. Willkommen in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg. Einst Großstadt zwischen Wald und Reben. Mittlerweile: Feinstaubalarm.

Dass man zu allem Überfluss den neuesten Verlautbarungen gemäß in die ehemalige Haupthalle von Bonatzens Bahnhofsgebäude einen Kubus aus Glas einzusenken gedenkt, in dem zukünftig – also in jener herannahenden Zukunft des Jahres 2021 – Hotelgäste beherbergt werden, erscheint als Skandal. Sowieso, aber das ist in Berlin ja an jeder Ecke so, fallen die auf der Bauvorhabensankündigungstafel gezeigten Planskizzen des zukünftigen Bahnhofs schon jetzt als total altbacken auf. Nicht einmal in Katar würde man diesen biomorphen Blödsinn noch haben wollen. In Katar hätten sie Stuttgart 21 längst wieder herausgerissen aus dem Wüstengrund. Weggeworfen, beziehungsweise weiterverschifft nach Taiwan, oder nach irgendwo in Afrika, wo Geschmack und architektonische Moden keinerlei Rolle spielen. Aber in 20 Jahren wird das kaum noch einen stören können, denn diejenigen, die sich heute noch an den Stuttgarter Hauptbahnhof erinneren könnten, wollten, sind dann vermutlich längst tot.

Bleiben wird aber, Mordsbahnhof hin oder her, in dieser Jahreszeit das gute Wetter über der Stadt. Geblieben sein wird die herrliche Luft und das Licht, um Stuttgart zwischen Wald und Reben auch in der Mordszukunft noch als Glanzstück herauszustellen.

10.8.

In der Redaktion wurde der Wasserspender gegen ein verbessertes Nachfolgermodell ausgetauscht. Es ist von seiner Form her noch glatter, im Grunde ist es ein Block aus glänzend schwarzem Material, in dessen einzige Ausbuchtung man ein Glas stellen kann. Der Wasserwunsch wird mit einem Fingerspitzendruck auf eines von drei blau leuchtenden Quadraten angemeldet. Je nachdem, welches man mit dem Finger antippt, fällt dann genau ein Glasschwer gekühltes, sprudelnd kaltes oder zimmerwarmes Wasser aus der Oberkante der Einbuchtung in das Glas. Das Glas gehört zum Lieferumfang des Spenders. Es scheint sich mit dem Gerät zu verständigen. Es wird immer gleich hoch befüllt. Das sprudelnde Wasser sprudelt stark. Schon nach einem Schluck habe ich hundert nadelspitzenfein eingetrocknete Wasserflecken über die Außenseiten meiner Brillengläser verteilt.

Mittags kaufte ich mir zwei Äpfel, aber es war nicht dasselbe. Bei unserem sonntäglichen Spaziergang über die Streuobstwiesen entlang der Ortsgrenze von Heimerdingen war mein verschüttet geglaubtes Apfelwissen aufgefrischt worden wie bei einer dieser Venusmuscheln, die heute noch verkauft werden, damit man sie zu Hause in ein Glas Wasser wirft. Nach ein paar Stunden haben sich dann unter Wasser die Schalen geöffnet und eine Blume aus grünem und rotem Pergamentpapier steht, unter jedem sich nahenden Schritt erzitternd, im Glas.

So ähnlich also. Es war aber auch ein perfekter Tag, perfekt für das zarte Erblühen und überhaupt, an dem wir zuvor mit dem Auto nach Bad Liebenzell gefahren waren, vorbei am Kloster Hirsau, wo am Vorabend Sting auf einer in die Sandsteinruine hineingebauten Freilichtbühne aufgetreten war. Man ließ uns trotz laufender Um- oder Abbauarbeiten auf das Gelände, als mein Vater auf uns, den weitgereisten Besuch verwies. Im hinteren Garten, der einmal als Friedhof für Mönche angelegt worden war, im 11. Jahrhundert, gingen wir von einer der erhaltenen Grabplatten (aus Sandstein) zur nächsten, um die Inschriften zu entziffern – so dies halt möglich war, denn bis zum 14. Jahrhundert benutzten die Steinmetze wohl eine Art lateinischen Code, der aus einer sinnlos erscheinenden Aneinanderreihung von Großbuchstaben bestand; dann aber, und das wurde uns in Hirsau explizit an der Gestaltung einer Sandsteinplatte aus dem 15. Jahrhundert vor Augen geführt, wird die graphische Gestaltung plötzlich wichtig, ja die Inschrift auf besagter Platte hatte ein geschnörkeltes A, das mich an die mittlere Phase Albumdesign von The Cure erinnerte. Seltsam, dass es in den nachfolgenden Jahrhunderten dann wieder vorbei war hinsichtlich einer Formensprache, die wir heute als zeitlos bezeichnen.

Dem Kloster gegenüber, vor dem steilen Hintergrund des schwarzgrünen Schwarzwaldes, der hier über die Hänge herunterzulaufen scheint wie Raclette: das Institut des Dr. Römer, aus dessen Privatklinik es verführerisch nach Suppe duftete. Dubios allenfalls aber der Insassen wegen, die vor dem großen Fachwerkhaus mit Schindeldach auf Bänken aus Sandstein saßen, die um eine Telefonzelle herumgruppiert worden waren. Einer hatte sich zur Hälfte ein Chanel-Kostüm umgeworfen und ein jeder seiner Fingernägel war in einem anderen Metallic-Ton lackiert. So rauchte der eine dicke Zigarre. Aber hektisch. Das war also eine Privatpsychiatrie. Dass man das auf dem Land aus wenigen Indizien herleiten kann.

Im Café an der Kurpromenade von Bad Liebenzell saßen wir bald vor vier Stücken Schwarzwäldertorte, die hier, von dem Heiratsschwindlercafé in Baden-Baden abgesehen, in ihrer spitzenmäßigsten Bestform hergestellt und serviert wird, obwohl das in Anbetracht eines Tortenstücks nach nichts Außergewöhnlichem klingt. Ist es aber. Und ich hatte Black Forrest Cake schon im Café Facebook von Addis Abeba probiert. Und Friederike in Kathmandu. So ganz leicht herzustellen oder nachzumachen ist diese angeblich zu Tode gebackene Torte nämlich auch wieder nicht. Wenn aber, dann. Oder um es mit den Worten eines Traumgreises aus dem Café Mozart* in Frankfurt zu sagen: »Torte schmeckt immer!« Aber die Schwarzwälder halt nirgendwo sonst so wie dort an diesem Sonntagmittag. Was vermutlich, wie bei psychedelischen Drogen, am glücklichen Zusammenspiel von set und setting gelegen haben wird.

Wie anders ruhig es in der Stadt war. Selbst die als Totenstille wahrgenommene Ruhe zwischen Mitternacht und der Stunde vor Sonnenaufgang bei mir draußen am schon nicht mehr innerstädtischen See hat noch immer ein städtisches Grundrauschen (und in jeder Nacht um zwei Uhr fährt ein beinahe minutenlanger Güterzug durch die dann schon längst geschlossene Station hindurch und weiter in Richtung Potsdam), in Heimerdingen gibt es nichts davon, nicht einmal mehr heimkehrende Autos von Heimerdingern waren zu hören, da Schulferien.

*Wo es seit neuestem in der Platte eines der Tische vor der Tür des schönen Cafés eine goldene Plakette gibt, auf der eingraviert steht, dass an diesem Tisch Bodo Kirchhoff seine mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichnete Novelle Widerfahrnis verfasst hat. Verfasst haben wird. Empfangen vielleicht sogar auch. Also dass sie ihm dort widerfahren ist.

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