»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

6.10.2019

Langte in der Berlin-Dokumentation an einer unglaublichen Stelle an: Das Archivmaterial zeigt aus den Tagen nach dem 13. August einen schwarz glänzender Mercedes, der vom damaligen Sprecher als «Staatslimousine» bezeichnet wird, direkt an einem Abschnitt der innerstädtischen Grenze vorfahrend. Konrad Adenauer entsteigt dem Gefährt und geht auf die Soldaten zu, die hinter einer Wolke aus Stacheldraht mit noch mehr Stacheldraht beschäftigt sind. Bei ihnen ist ein Lieferwagen rückwärts an die Grenze herangefahren worden. Beide Ladeklappen sind geöffnet. Der Innenraum ist komplett ausgefüllt von aufeinandergestapelten Lautsprecherhörnern. Dem sich nähernden Bundeskanzler der BRD schallt daraus eine männliche Stimme entgegen, wie man sie sich allenfalls in einem Edgar-Wallace-Film vorstellt, wenn der Komissar die Geheime Kammer des Bösen entdeckt: «Guten Tag Herr Bundeskanzler!» und «Ja, wir haben uns die Freiheit genommen» und «Herr Adenauer» und so fort. Der Greis ist sichtlich völlig fassungslos angesichts, und auch von dem, was er hier an der vor aller Augen wachsenden Mauer zu hören bekommt. Noch während die Stimme schallt und höhnt und, das bleibt das Irritierendste daran: die Soldaten hinter dem Stacheldraht stumm herüberschauen, während als Quelle lediglich die enormen Lautsprecher auf der Ladefläche des Lieferwagens zu sehen sind, besteigt Adenauer seine Staatslimousine wieder, man schliesst den Schlag. Das hätte man uns im Geschichtsunterricht zeigen sollen.

Zumal es im folgenden, auch dazu gab es Material, zu einem veritablen Soundclash kommt an der Mauer. Die BRD fährt ein sogenanntes Studio am Stacheldraht auf, bestehend aus mehreren VW-Bussen, auf deren Dächern jeweils sechs Lautsprecher montiert sind. Die Bullys werden dicht an die Grenze gefahren und dann werden die auf der anderen Seite des Stacheldrahtes arbeitenden Soldaten akustisch terrorisiert. Man hört im Diktus von Stadionsprechern, wahrscheinlich waren es auch Stadionsprecher, die man engagiert hatte, hinüberschallende, konkret die jeweilige Arbeitssituation kommentierende Ansprachen à la «Hey, sie da! Sie, in der froschgrünen Uniform mit den silbernen Tressen!» und «Auch ihr Vorgesetzter versteht die Politik von Herrn Ulbricht nicht mehr». Muss ultranervig gewesen sein, wenn man gerade dabei war, das Tageszoll an Grabentiefe und Stacheldrahtlänge und Zugemauerten Fenstern zu erfüllen.

Die DDR wiederum reagiert darauf mit der Aufrichtung von zehn Meter hohen Stativen auf ihrer Seite entlang der Grenze, von deren Spitze aus die darauf befestigten Lautsprecher bis weit in den Westteil Berlins hineinschallten. Der Zeitzeuge spricht von einer Schallwirkung über die mobilen Studios am Stacheldraht hinweg von bis zu zwei Kilometern.

Der Soundclash währte wohl so lange, bis die über drei Meter hohe Mauer hochgezogen war. Die maximal provozierende Wirkung konnte die Lautbelästigung hüben wie drüben nur entfalten, wenn die Welt der Gegenseite dabei auch noch zu sehen war, aber des Stacheldrahtes wegen nicht zu belangen. Eine Schwarze Theorie des Musikvideos.

Gegengift, danach: Rozi Plain «What A Boost». Früh zu Bett.

4.10.2019

Es ist jetzt, glaube ich, auch schon wieder zwei Jahre her, da strandeten wir auf dem Weg nach Paris in Mannheim. Unser Aufenthalt dort war nicht allzu lang, eine Stunde vielleicht, aber in Mannheim gerieren sich ja selbst Minuten allzu lang und wollen Stunden sein. In der Bäckerei, die wir um Obdach aufgesucht hatten, ging es auch nicht herzlich zu. Aber ich hatte Friederike eine Bravo Girl gekauft. Manchmal ist das so, dann genügt so eine Zeitschrift, um sich an die Zeit zu erinnern, als einem das Leben selbst wie Mannheim vorgekommen war. Wir versenkten uns in die Lektüre, um Mannheim zum Verschwinden zu bringen. Mir fiel heute erst wieder ein, wie erstaunlich deprimierend ich aber an sich schon diese Zeitschrift fand. Insbesondere von der Tonalität her. Die Ansprache war schlampig, gedankenlos, gefühllos, dumm. Wer macht so etwas?

Das genaue Gegenteil finde ich in den Red Hand Files, einem Briefkastenforum, das von Nick Cave betrieben wird. Er antwortet dort auf Fragen, die ihm zugeschickt werden. Die Fragen sind durchaus nicht bloss auf seine Lieder, oder andere Aspekte seines Daseins als Star gerichtet. Weil er nämlich einfühlsam und wohlüberlegt auf die Fragen und die fragende Person eingeht, kommen da auch Fragen an bei Nick Cave, die man dem «Team von Bravo Girl», oder wie das in den jeweiligen Ländern heissen mag, nicht stellen will — weil man es ernst meint. Beispielsweise fragt eine Liii aus Kraukau «Wie lange werde ich noch alleine sein?»

Die Antwort ist wunderbar. In etwa zwei Buchseiten lang. Das schöne ist, man kann die Stimme von Nick Cave hören, wenn man seine Zeilen liest. Das Versprechen der Seite lautet «You can ask me anything. There will be no Moderator.» Jeder Antwortbrief schafft zusätzliches Vertrauen. Ich kenne gar keinen anderen Berufsmusiker, der etwas ähnlich Wohltätiges unternimmt. Meine Lieblingsantwort gibt er auf die Frage nach dem Grund, warum er sich von PJ Harvey getrennt hat (oder umgekehrt): «In Wahrheit war es so, dass nicht ich mich von PJ Harvey getrennt habe, sondern PJ Harvey hat sich von mir getrennt. Und das kam so: Ich sass gerade auf dem Fussboden meiner kleinen Wohnung in Notting Hill, das Licht der Sonne schien golden zum Fenster herein (eventuell), ich fühlte mich gut, meine Freundin war eine begabte, dazu noch junge Sängerin, da klingelte das Telefon. Ich griff zum Hörer, und sie war dran: Polly.

Ich sagte «Hi».

«Ich mache Schluss.»

«Warum», fragte ich.

«Es ist einfach vorbei», sagte sie.

Mir fiel beinahe meine Spritze aus der Hand, so sehr hat mich das überrascht.»

3.10.2019

Es gibt nichts Schöneres, als ein Glas Quittengelee anzubrechen. Am offenen Fenster sitzend fiel mir das heute früh ein. Von draussen her roch es feucht, kühl, aus dem Glas in meinen Händen zitrisch und rosenhaft zugleich, wie halt nur Quitten duften können. Eben nicht der Duft eines Sommers, es ist der Duft genau dieser Zeit jetzt — im Falle jenes Gelees in meinem Glas allerdings der zu diesen Zeiten des vergangenen Jahres.

Gleich hinaus zu den Pilzen, zur Myrte wäre da die ideale Ergänzung gewesen, aber ich hielt mich zurück. Kenne ich den Park doch inzwischen in drei Formen, ja, eigentlich sind es sogar drei verschiedene Parks an ein und demselben Ort: Erstens der Park vor der zu erledigenden Arbeit — nicht optimal, ich bin dann nicht ganz bei der Sache; weder ganz im Hier, noch ganz dort. Aber immerhin besser als nichts. Oder, zweitens: Der Park anstelle der zu erledigenden Arbeit. Eine jämmerliche Erfahrung. Zwar lässt er mich ein, nimmt mich auf, verbirgt aber seine Schätze, sodass ich ihn gerade noch als Trimm-Dich-Pfad benutzen kann wie so viele dort um mich herum (ich eher angeblich mich trimmend, ich bin auf der Flucht; es atmet sich ja auch so verklemmt, wenn man der Arbeit aus dem Weg zu gehen versucht).

So hatte ich kaum auf «Senden» gedrückt, zogen sich mir auch schon die Stiefel an. Es regnete noch nicht einmal mehr. Und ich entdeckte, wie durch Zauberhand geführt, eine mir bis dato unbekannte Wiese, an deren Rand dort einen mir gänzlich unbekannten Baum. Auf den ersten Blick eine Art Flieder, dann wieder hatte der aber zwischen den fliederhaften Blättern kurze Dornen. Bizarr geradezu waren seine Früchte, die lindgrün waren, zwei Fäuste gross, hart, dabei in sich gefurcht wie ein Gehirn. Eine schob ich mir zu Forschungszwecken ein (ich komme meistens zwei Pfund schwerer aus dem Park zurück).

Stellt sich heraus, der Baum trägt sogenannte Milchorangen. Essen kann man die wohl leider nicht. Und das letzte Tier auf Erden, das sich noch um diese Früchte kümmert, ist wohl das amerikanische A-Hörnchen. In der Frucht gibt es angeblich einen Kern, der von Tieren weitergetragen werden soll. Nun sind die meisten Arten, die die Milchorange noch zu schätzen wussten, längst ausgestorben. Blöd für den Baum. Aber dies Wort fasziniert mich: Megafauna. So nennt man wohl die Vegetation, die in Nordamerika mit der letzten Kaltzeit ausgestorben ist. Der Milchorangenbaum hat überlebt. Ob tragischerweise, weiss kein Mensch. Er steht jetzt halt da, fern der Heimat, jenseits seiner Megafauna im Schlosspark von Charlottenburg und produziert ungerührt davon seine Milchorangen, die nicht einmal das Eichhörnchen mehr aufknacken will.

2.10.2019

Schön war, im Nachhinein betrachtet, dass in genau dem Moment, da ich gestern vom Kottbusser Tor aus heim fahren wollte, der U-Bahn-Verkehr ausfiel. Ich fühlte mich ohnehin wie ein gedünstetes Salatblatt und hatte von daher schon mit dem Gedanken gespielt, ein paar Stationen weit zu Fuss zu gehen. Es regnete ja nicht mehr.

Ist übrigens nicht so, dass dann alle auf die überall bereit liegenden Roller um- oder aufsteigen. Die blieben liegen und stehen. Wahrscheinlich ist das eher ein Saisongefährt. Stattdessen kamen wie bestellt die Busse in schneller Folge. War dann auch mal wieder ganz schön, sich durch die dunkle Stadt fahren zu lassen (ganz oben, ganz vorne). Am Anhalter Bahnhof sassen auf meiner Höhe noch Redakteure in leuchtenden Waben. Dachte: Sässest du da jetzt auch gern?

Ist Unentschieden nicht das gleiche wie Jein? Daheim rächte sich jedenfalls der Kaffee. Wir hatten ja Versuchsreihen veranstalten müssen, um das Luftdruckproblem experimentell zu lösen. Lag nutzlos herum, todmüde, aber schlief und schlief nicht ein. Die sympathische Wohngemeinschaft mit Kiffterrasse von Gegenüber parlierte ins laue Nachtlüftle, sodass ich mich schon wieder auf dem Rückweg in den Sommer wähnte. Dann endlich die ersten Tropfen. Aus nordöstlicher Richtung herangeweht. Das konnte ich hören, weil sie auf die Zinkbleche vor den Fenstern klopften. Gerade noch hatte ich mir die Bilder von der Chanel-Modenschau im Grand Palais angeschaut, die dieses Mal in einer Kulisse von Dachlandschaften, der Toits de Paris abgehalten ward. Dies Bild noch vor Augen, die Blechtropfenmusik in den Ohren, ich glaube: Ja, so schlief ich ein.

1.10.2019

Geweckt vom gewaltigen Rauschen. Zunächst dachte ich, noch halb im Traum, die Fenster stünden offen. Dann später kam ein exotisches Zwitschern dazu, vielstimmig und durcheinander. Schaute erst auf die App, dann hinter den Vorhang: tatsächlich. Stare sammelten sich in den Bäumen und probten den Flug als Formation in meinem Hinterhof. Operation Steilkurve. Stehende Welle. Liegende Acht.

Mittags rasch in den Park, wo ich seit kurzem ein Wiesenstück kenne, aus dem Champignons spriessen. Das Wetter ist ideal — warm und mit morgendlichem Regen. Doch wo ich gestern geerntet hatte, war noch nichts nachgewachsen. Befolgte die Handkesche Regel und suchte unabsichtlich weiter, woraufhin ich bald schon aus dem Augenwinkel heraus (wie aus der Hüfte geschossen) fündig wurde. Aber wie!

Nachmittags dann in Kreuzberg, mittlerweile rauschte es wieder. Mein Gesprächspartner hatte eine funkelnde Espressomaschine, aber der von ihm daraus selbstgezapfte Kaffee stimmte ihn nachdenklich. Auch nach dem dritten Tässchen blieb er dabei: So wie heute war der noch nie. Sonst ist er anders.

Da war meine Gelegenheit gekommen, auf den Luftdruck zu verweisen. Denn der hing ja jetzt schon seit zwei Tagen weit unter 950 Hektopascal fest. Und wie man als Gast bei Ralf Rüller von ganz allein lernt, hat der Luftdruck einen wesentlichen Einfluss auf die Qualität von Kaffee aus funkelnden Maschinen. Ja, es ist sogar so, dass es in den von Ralf Rüller betriebenen Cafés jeweils ein Barometer gibt, von dessen Display die Barista vor jedem Mahlgang den Wert des Luftdrucks abzulesen haben, um daraufhin den Mahlgrad der Bohne adäquat justieren zu können. Ob aber Barista und Barometer ethymologisch Punktpunktpunkt

«Also müsste ich jetzt den Mahlgrad verändern», sagte mein Gastgeber.

Seitdem Arno Schmidt tot ist, finde ich niemanden, der so oft Recht hat wie ich.

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