»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

4.6.2020

Ein nachmittäglicher Regenguss öffnet das Tor zur vergangenen Zeit. Mein Wunderland: Ich gehe spazieren durch Straßen, die noch einmal so spärlich bevölkert sind «wie früher». Bald darauf beginnt das Tor sich zu schließen. Schon wieder — wie Rückstau kommen die Menschen zurück. Ihr Terrain. Kurzer Austausch mit Ingo neulich über die Auswirkungen der Neutronenbombe, die mich als Kind fasziniert hatte, weil die Welt von ihr angeblich verschont bleibt, bloß alle Menschen sind fort. Ingo: «Die Menschen sind ja dann nicht verschwunden, es liegen überall Leichen herum.»

3.6.2020

Das Vorbild für diese lepröse Skulptur, das fiel mir erst beim Eintippen ein, aber da war es zu spät, hat einst in Paris gestanden, in den neunziger Jahren. In einem Geschäft, das es nicht mehr gibt, es nannte sich En Attendant Les Barbares. Clark hatte mir damals ein Bild der Skulptur gezeigt, auch er fiel mir ein, auch das, es war ein Kerzenleuchter, mit lauter winzigen Muscheln und Schneckenhäuschen besetzt wie von ihnen überkrustet. Clark wohnte damals in dem einzigen Hochhaus am unteren Ende der Reeperbahn, seine Mutter in einer anderen Wohnung auf der selben Etage. Drumherum, drüber und daruntergelegen: alles Modellapartements, sogenannte. Das Nuttenhochhaus wurde der Bau im Volksmund genannt. Auch das kommt jetzt zu spät, im Nachhinein ist es toll, wie wenig ich aus dieser Zeit von neun Jahren in dem Büchle landen konnte. Von dem, was mir vorgeschwebt war. Auch Feliciano, dessen Vater seine Kinder nach blinden Musikern benannt hatte — eine Schwester hieß Ray — kommt nicht drin vor. Das Verhältnis von Flow-Zeit zu Erzählzeit in der Umgebung der übrigen Zeit wäre ein Forschungsprojekt. Bloß nicht für mich. Für heute habe ich genug gedacht. Morgen kann ich wieder machen, was ich will. Bin schon gespannt, was das sein wird.

2.6.2020

Frühstück im Schatten unter der Markise: Im Mozart sitzt es sich wie zuvor. Mein Ei war allerdings kalt. Beschweren wollte ich mich nicht. Wollte ich aber vorher auch so gut wie nie. Scheint meine Natur. Dass wir dort ohne Tischnachbarn beieinander sitzen konnten, die Situiertheit begünstig die Atmosphäre eines Tête á tête. Wenn man sich nichts zu sagen hat, fällt das bestimmt auch stärker auf. An unserem nächstgelegenen Nebentisch war mal wieder etwas weggebrochen. Dieses Mal «das ganze Sommergeschäft». Man könnte ich fragen, wo denn das alles hin verschwindet, sobald es einmal weggebrochen ist. Bei genauerer Überlegung sind verschiedene Vorstellungswelten denkbar und ich würde sie mir gerne alle vorstellen lassen (beispielsweise durch eine Umfrage). Mir fiele als entlegenste Welt eine Skulptur ein, vielleicht aus Wachs gemacht und wie im Rokoko verspult und verschwurbelt; derart delikat verästelt auf jeden Fall, dass andauernd etwas davon abbricht. Es fiele ins Bodenlose einer die lepröse Skulptur umgebenden Leere. Im Spiegel der achtziger Jahre hatten sie einen Illustrator für Titelbilder, in meiner Erinnerung hat der Krisenerzählungen häufig auf solche Weise illustriert. Da brach andauernd etwas weg von einer Scholle. Auf dem Heimweg konnte ich beobachten wie zwei Telefonsäulen der Telekom demontiert wurden. Geräusche wie beim Zahnarzt.

1.6.2020

Samstags erscheint als letzte Seite das Feuilleton «Literarisches Leben». Immer schaue ich es mir an, oft stelle ich auch fest, dass ich mich samstags schon früh auf diese Sonderseite freue. Ich mag Sonderseiten und -teile in der Zeitung generell. Sie strukturieren mein Wochengefühl (Generation Sams). Die Freude am Literarischen Leben ist freilich von ambivalenter Qualität. «Warum freilich?» Unter dieser Rubrik erscheint sehr selten ein Text, den ich auch lese — zum letzten Mal etwa vor einem Jahr, als es um eine Muse Oskar Kokoschkas ging, die kokainsüchtig war und sämtliche Künstler im Wiener Nachtleben verrückt machen wollte (nach sich; kirre vor sexuellen Gelüsten nach ihr). Sie hatte einen Roman darüber geschrieben, der aber bloß in Paris veröffentlicht werden konnte, auf französisch, und obskur geblieben ist. Seitdem suche ich nach diesem Roman, teils auch mit vereinten Kräften, aber er scheint unauffindbar bleiben zu wollen. Hoffentlich existiert er gar nicht. Dass dieser Text im Literarischen Leben erscheinen konnte, halte ich ohnehin für ein Versehen. Er könnte dem für das Literarische Leben zuständigen Redakteur unterlaufen sein, denn ich bin mir sicher, dass es sich um einen Einzelnen handelt. Tatsächlich sendet dieses Unternehmen einen morsehaften Unterton, den eines Verstoßenen aus der aufgegebenen Strafkolonie. Als Chiffre verfolgt er sein völkerkundliches Programm, das sich deutlich von den interessanten Formaten der Berichterstattung vom Leben mit Texten, wie beispielsweise denen in der London Review of Books, absetzten soll. Aber der Ordnungsruf ob seiner leblosen Seite erfolgt einfach nicht. Nicht einmal der. Er erfolgt nie (Kafka). In der Dystopie vom literarischen Leben geht es um tote Bulgaren, um einen verschwundenen Brief (verschwunden allerdings vor 1050 Jahren — Man ist sich dort sicher, dass es in jenem Jahr geschehen war), oder um eine junge Dichterin aus Odessa, die nach Berlin gezogen ist, und die sich darüber beschwert, dass am Kottbusser Tor niemand ihr Russisch versteht. Afrika, Asien, nicht einmal Indien kommen jemals vor. Immerhin. Aber auch das juckt keinen. Am Samstag wurde ich so gesehen überrascht vom populistischen Move einer monothematischen Zusammenstellung aus dem Tagebuch von Volker «Holzgewehr» Hage. Abgedruckt waren seine Einträge nach den Begegnungen mit Marcel «Mein Leben» Reich Ranicki. Dessen 100. Geburtstag an einem dem Gedenkdatum voraus gelagerten Samstag gedacht wurde — warum aber nicht eine Woche darauf, fragte ich mich. Für den großen Dienstag selbst (GDS) war dann noch eine Sonderbeilage angekündigt, die er selbst wohl sehr gern gelesen hätte — schade (Hesse); in der Sonntagszeitung dazwischen ein monothematisches Feuilleton mit seinen witzigsten Briefen, die man noch nicht kennt. Ich fing an zu lesen, aber bei wirkte sein literarisches Leben nicht so, dass ich ihn vermisste. Im Gegenteil. Analog zum Déjà Vu wurde mir gleich wieder fühlbar gemacht, wie ekelhaft ich ihn schon zu seinen Lebzeiten empfunden habe. Und da kannte ich die neuesten Details von seinem Umgang mit den sehr verehrten Schriftstellern noch gar nicht. Wie sie gelitten haben. Alle bis auf Goethe und Thommie Mann, die waren schon tot. Wat hebt wi lacht.

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