Realitätsgewitter

von 
Kurzgeschichte
zuerst erschienen am 11. Februar 2015 auf dem FAZ-Blog „Ich. Heute. 10 vor 8“
Julia Zanges Kurzgeschichte über eine bearbeitete Realität, in der Kleinanzeigen von Hundwelpen Trost spenden und als größte Gemeinsamkeit die geteilte Liebe zur Marke gilt.

Wir gehen zu einem Vortrag über Hyper Acceleration in Art History. Auf dem Weg fragt niemand, worum es eigentlich geht bei der
Diskussion, aber nachher, als wir beim Dinner in einem mittelmäßigen vietnamesischen Restaurant sitzen: „Was war eigentlich das
Thema der Veranstaltung?“
Eine alternde Installationskünstlerin betont den Freiraum des Digitalen. Die sehr alte Kunsthistorikerin, in Tweedhosen und mit
Kurzhaarfrisur, dass sie die kritische Distanz in der heutigen Kunstproduktion vermisse, wohingegen die jungen Künstler ganz und
gar im eigenen Erleben untergingen, womit der Kunstgeschichte aber nichts hinzugefügt werde, das über sich hinausweist. Sie
schwelgt heimlich in der guten alten Moderne. Und zerreißt eine junge Künstlerin, die YouTube-Tiervideos in Galerien bringt. Sie
nennt das „heuchlerisch“ – was wiederum von den zwei jungen und insgeheim mächtigen New Yorker Kunst-Diskurs-Produzenten
auf der anderen Seite des Tisches sehr kritisch aufgenommen wird.
Sie versuchen es mit Mini-Provokationen. Sie sagen zum Beispiel, dass „Prokrastination“ ein unterschätztes Element in der
Kunstwelt sei. Weil jeder sie fürchtet, hafte ihr ein unausgeschöpftes, universelles Potential an.
Ich kann mich ab der 10. Minute nicht mehr konzentrieren und weiß, dass es Hel genauso geht. Ich lehne mich gegen ihre Knie und
sie flüstert: „Theorie-Wolke. Referenzgewitter.“ Ich schaue mich um. Hier im Neonlicht der Galerie tragen maximal 30 Prozent der
Leute Denim. Helena trägt heute nichts als Funktions-Ski-Unterwäsche.
Ihr neuer Freund sagt, während wir später Tofu-Kürbis-Curry essen, dass die Rückmeldungen aus Likes und Comments sein Schaffen
durchaus beeinflussen, weil man ja als Künstler noch nie so direkte Rückmeldungen bekommen habe. Majas Blick verengt sich, sie
schüttelt die dunklen Locken, während sie heftig zustimmt. „Instant. Es geht eigentlich darum, wer sich am schnellsten anpassen und somit verkaufen kann. Der Kunstmarkt funktioniert mittlerweile nur noch über das Prinzip der Schnelligkeit.“
Neben mir sitzt Emma, die in Frankfurt am Städel Kunst studiert. Sie spricht ein sehr spezielles polnisches Englisch, welches ich
nicht wirklich verstehe und in dem Namen wie „Tom Mc Carthy“ klingen wie „Makaki“.
Ein Grafikdesigner hat sich unbemerkt zu uns an den Tisch gesetzt, er gehört zu Majas „Followern“, eine Reihe von mitteljungen
Männern, die sehr still sind und sich durch Loyalität auszeichnen. Er fand den Hyper Accelaration-Vortrag interessant. Seine
Spezialgebiete sind Typografie und Missoni-Produkte.
Maja ist ebenfalls ein großer Missoni-Fan, da ihre verstorbene, innig-geliebte Großmutter ihr eine ganze Missoni-Einrichtung
sowie mehrere Sommer- und Winterkollektionen vererbt hat. Und am Ende verbindet nichts so elegant wie die Zuneigung zur
gleichen Marke. Viktor, der stille Grafikdesigner, und Maja haben sogar vor, ein Missoni-Dinner zu organisieren, wo es nur gestreifte
Gerichte geben soll und natürlich einen Kuchen mit Missoni-Glasur.
Helena erzählt, dass sie letztes Wochenende Probearbeiten war, für 8 Euro pro Stunde, in einem Charlottenburger Molekular-
Restaurant. Sie sollte dort assistieren beim Tische eindecken und Wasser nachschenken. „Da war so ein Haufen Start-up-Jungs zu
Gast, die alle jünger als ich waren und so Familien mit teuren Winterjacken… Und die Chefin war offensichtlich bipolar. Sie hat
mich nach einer Stunde wieder nach Hause geschickt… Ich wollte da sowieso nicht wirklich arbeiten. Eher mal so gucken, ob der
Service-Bereich was für mich ist. Aber trotzdem war es irgendwie ein Schlag für mein Selbstbewusstsein…“
„Ey, wir können froh sein, dass wir nicht so ätzende Jobs machen müssen. Eigentlich müsste jede automatisierte Arbeit, die länger als
vier Stunden dauert, verboten werden…“
„Ja, aber andere Leute machen diese Jobs auch.“
„Ja, aber guck dir mal an wie die aussehen… Todunglücklich und grau im Gesicht.“
Helena nickt. „Wir sollten wirklich wertschätzen, dass wir uns im kulturellen Bereich bewegen… Wir werden schon irgendwann
Geld verdienen… Ich frage mich nur, wie lange das noch dauert und wie ich bis dahin überleben soll…“
„Alle machen Nebenjobs. Das ist ganz normal.“
„Ich kann das nicht. Ich bin dafür nicht gemacht…“
„Es gibt eben Menschen mit unterschiedlichen Konstitutionen…“, sage ich.
„Oh Mann, dieses Jahr ist echt so ein reality check.“ Helena weint jetzt fast. „Ich will eigentlich nur Kinder und heiraten und meine
Ruhe.“
„Ich weiß von sehr vielen Frauen, dass das keine Lösung ist“, sagt Emma. „Ich sehe das ja immer beim Babysitten. Die Frauen, die
dann den reichen Mann und die zwei Kinder haben, fühlen sich eingeengt und haben Angst, dass sie sich nicht genug
selbstverwirklicht haben. Und Kinder brauchen echt enorm viel Zeit.“
Ich kann Helena verstehen, aber wenn ich mich einsam und überfordert fühle, schaue ich mir auf ebay-Kleinanzeigen Hundewelpen
an. Jetzt gerade auf meinem iPhone unter dem Tisch einen kleinen, fetten Welpen aus einem spanischen Tierheim.
Helena schiebt ihr Handy über den Tisch mit einem Instagram-Foto von 2012. Maja, Hel und ich und ein amerikanisches It-Girl
liegen uns in den Armen, wir tragen nichts als Schmuck. Sorglos und stolz sehen wir aus. Ein Werbe-Shooting für eine kanadische
Designerin.
„Da waren wir noch unschuldig“, seufzt Hel.
„Da waren wir noch dumm wie kleine runde Kieselsteine“, sagt Maja. „Das Leben ist keine Werbeanzeige.“
„Wenn man sich den ganzen Tag nur gephotoshoppte Bilder anschaut, könnte es einem schon so vorkommen.“
„99% der Weltbevölkerung tun das aber nicht.“ Maja schüttelt wieder sehr bestimmt ihre Locken.
„Fotos sind eben nicht die Realität. Deswegen muss man sie ja bearbeiten.“