Wiedergelesen – Rainald Goetz „Irre“
Wie geht das Leben? Berlin, 2013. „Ich finde es höchst beunruhigend, dass meine Persönlichkeit von fragilen chemischen Prozessen in meinem Gehirn abhängt und die Wirklichkeit ja offensichtlich auch, das ist nichts als ein gemeinsamer Nenner, ein ähnlicher Pegel von Neuronen-Chemie in den Köpfen der Mehrzahl, auf dessen Grundlage wir uns verstehen.“ Sagt die Patientin. Die Psychologin antwortet: „Gut, dass Sie nicht mehr mit ihrem Ex-Freund zusammen sind. Sie fühlen sich sicherlich so bedingungslos zueinander hingezogen, weil sie die gleichen chemischen Muster im Kopf haben. Das ist gefährlich. Das triggert ihre Problematik.“ (Diagnose ICD-10 F43.0 Akute Belastungsreaktion, nach dem Klassifikationssystem des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders).
Die Patientin kann sich vorstellen, dass sie sich selbstverständlich in ein ähnliches chemisches Seelenmuster verliebt.
Kurz darauf sitzt sie im Behandlungszimmer eines Psychiaters (Diagnose ICD-10 F41.1 Generalisierte Angststörung).
„Ich möchte, dass Sie mir helfen. Ich habe schreckliche Angst.“
„Aber Sie wirken auf mich sehr klar …“
„Ja, das ist nur, weil ich mir wahnsinnig Mühe gebe, nicht durchzudrehen …“
Was er nicht weiß: dass die Patientin hypochondrisch ist; nachdem sie ihm alle ihre Ängste und angeblichen psychotischen Symptome vorgeführt hat, die sie zuvor über Google im Internet recherchiert hatte, sagt der betagte Arzt (Fliege, Samtjacket): „Das ist gar kein Problem. Fälle wie Sie kenne ich, habe ich Erfahrung mit. Man kann eine kleine Operation in ihrem Gehirn machen, dann geht es ihnen wieder gut. Ich führe das auch selber stationär durch. Kommen Sie dann einfach noch mal in Ruhe wieder.“ Die Patientin kann dem nichts entgegensetzen, denn sie hat vorher eine erhöhte Dosis Valium zu sich genommen.
Jetzt gibt der Herr Doktor ihr eine kleine Packung mit Pillen, die sie nehmen soll. Die Packung ist seidig-glatt, perlweiß mit violett-farbenen Lettern drauf, in der Form gezackter Blitze. So eine aufdringliche Verpackung hat sie noch nie gesehen.
Zu diesem Zeitpunkt weiß die Patientin trotz erhöhtem Affektniveau noch sehr genau, wer sie ist, und hat ein festes Zutrauen in die Welt. Sie schluckt die erste Tablette. Es fühlt sich an, als würde jemand mit einer metallenen Hand ganz physisch, ganz real in ihr Gehirn greifen, es aus der Verankerung reißen und umdrehen. Nach der zweiten Tablette fällt der Himmel herunter, es wird eng und stickig über dem Kopf. Alle Geräusche der Stadt werden zu einem Orkan und dringen ungehindert in sie ein, um sie zu zerfetzen. Nach der dritten Tablette weiß sie nicht mehr, wer sie ist, sie verharrt in einer fremden Ruhe. Sie verliert ihre Sprache, verliert ihre Verbindung zu den Dingen, und kann sich auch nicht mehr mit ihrem Ex-Freund, den sie immer noch auf Skype trifft, identifizieren. Sie sitzt vor einem Bild, das ihr nichts mehr sagt. Die Welt ist tot (Diagnose ICD-10 F48.1 Depersonalisations- und Derealisationssyndrom).
Auf Seite 39 fange ich an zu heulen
Die Patientin wurde 1983 geboren, im Erscheinungsjahr von ‚Irre’. Es war ein sehr heißer Sommer und das Münchner Universitätsklinikum bemühte sich umfassend um Desinfektion. Mütter, Boden, Babies wurden 1983 sorgfältig keimfrei gehalten. Immerhin gab es schon Rooming-in, die Mütter durften die Babies also nach der Entbindung für ein paar Minuten im Arm halten. Dann wurden die Rollen des Baby-Bettchens mit Sagrotan eingesprüht und es wurde wieder zurück ins Säuglingszimmer geschoben. Ein paar Straßen weiter gab es die geschlossene Psychiatrie. Rainald Goetz arbeitete dort. Zum Glück ist er in die Hölle gestiegen, um daraus zu berichten und daraus hervorzugehen, mit großen Augen. So ist der terrorisierendste Roman entstanden, den ich je gelesen habe. Natürlich auch mit Blut geschrieben. Das Buch schmerzt. Ich sitze in meiner Berliner Küche und würde es am liebsten raus in den Aprilschnee werfen. Auf Seite 39 fange ich an zu heulen, ab Seite 54 schlafe ich schlecht. Ich lese das Buch irgendwann lieber laut vor, dann ist es nicht so schlimm. Wenn es als Text formell im Raum steht, kann ich nicht hineinfallen und es kann sich nicht in mein Gehirn einnisten. Das erste Kapitel erzeugt Angst, verrückt zu werden. Es heißt: Eins. Sich entfernen. Und so ist es auch. Die Stimmen der Psychiatrie-Insassen sind so nah, irrsinnige Fratzen und Verzweiflung. Im zweiten Kapitel – Zwei. Drinnen - wird diese Angst jedoch durch einen Alltag und ein konsistentes Ich (eine Geschichte) nivelliert. Und im dritten Kapitel – Drei. Die Ordnung - dann kann, muss man die Angst im Künstler-Sein zu überwinden versuchen. Was natürlich auch nicht klappt, aber ein produktiver Ansatz ist.
Das ist nicht nur ein Manifest, das ist eine Therapie. Ein Erlösungstriptychon, ein poetisches Potenzieren und das Aufdecken eines Terrors. „Schreibend den Schrecken ordnen.“ NEUGIER IMAGINATION DEMUT gegen das Schwarz. Goetz‘ Roman explodiert vor Authentizität. Er konnte gar nicht anders und liebt sich selbst dafür, soll er auch. Nichts ist so phantastisch überwältigend wie das Authentische, nichts so unglaublich wie die wirkliche Wirklichkeit. Sein erster Roman ist das Ventil für Schmerz und Sprachlosigkeit. Einerseits die Verzweiflung über die Welt, in der eben alle irre sind, und andererseits die Erkenntnis über die eigene Sprachlosigkeit. Kein Wort hat gegen Bilder nichts genützt! Verstanden! Mensch!, versteht ihr denn nicht, daß ich euch dauernd nichts als wie echte Bilder zeigen möchte! Ihr Hunde! Da schüttelte es aus dem Schwächling Wort die Träne.
Störungen abkapseln oder aus sich herausschneiden
Pillen sind schnell, Diagnosen sofort parat. Pathologisierungssucht. Die Dinge sofort beim Namen zu nennen, macht uns vielleicht wirklich krank, das endete schon bei Romeo und Julia und auch bei Agnes und Ottokar mit dem Tod. (Was ist schon ein Name? Nicht Hand noch Kopf noch Fuß noch irgend sonst ein Teil, das einen Menschen macht.)
Menschen lieben Listen. Einordnung und Freilegung von Persönlichkeitsmerkmalen, um ganz rein und gesund zu werden oder sich sogar zu verbessern. Man kann die Störungen abkapseln oder aus sich herausschneiden oder wegmeditieren. Auslagern ist auf jeden Fall schon mal eine gute Grundlage für eine Dissoziative Störung (Diagnose ICD-10 F44).
Eine Genehmigung für eine Psychotherapie oder gar einen Kur-Aufenthalt in einer Psychoklinik gibt es nur nach vorhergehender Klassifikation des Psycho-Korsetts nach einem internationalen Manual. Die Krankenkassen zahlen den Aufenthalt teilweise sogar nur unter der Bedingung, dass die Patienten Psychopharmaka einnehmen, denn das beweist, dass sie wirklich krank sind. Die Kliniken wiederum wollen ein gute Unternehmen sein und verschreiben einfach allen Anwärtern Pillen. Dass Neuroleptika die Gehirnstruktur zerstören und die Persönlichkeit verändern können, sagt den Patienten niemand. Einzige Nebenwirkung: Gewichtszunahme. Das haben Sie dann aber ganz schnell wieder runter. Ganz selten Verlust des sexuellen Verlangens. Aber ganz ehrlich: Wenn Sie depressiv oder traumatisiert sind, haben Sie sowieso keine Lust auf Sex!
Psychologie Heute, Emotion, die Titelseiten von Spiegel und Stern – alle laden ein zur qualitativen Verbesserung der Seele. Alles dreht sich um das ICH. Um seine Ermüdung (Byung-Chul Han) oder um seine Nutzbarmachung und Ökonomisierung (Neuro-Enhancement) oder um seine Selbst-Erleidung (alle meine Borderline-Freundinnen). Nur in der Gegenwartsliteratur leidet fast niemand, leider. Don‘t cry – work! Das bekannteste Goetz-Zitat wurde flächendeckend falsch verstanden. Wenigstens den Impuls zu heulen darf man bitte verspüren und nicht nur Blitzkarrierephantasien.
Eine kurze Liste also der Aktualitäts-Top-5 zu Irre:
– Am Ende trägt Raspe, der Protagonist, einen weißen Seidenschal, der natürlich sofort wieder blutverschmiert ist. Tarantino-Pathos, Sklaven-Blut.
– Hacker Bier lese ich heute natürlich mit Bezug auf die Computer-Szene: Hacker Bier. Sehr cool.
– „Zur Zeit ist es der Öko-Mumpitz und die Friedenshetze, nicht zu vergessen die Medien-, Video- und Computer-Gefahr. Alles sehr wichtig, dauernd dieselbe Scheiße, Würg.“ Sehr aktuell. Der Erzähler hat zwar Angst vor der Psychiatrie, aber nicht vor neuen Medien.
– Im Buch sind Bilder und Zeichnungen, sehr schöne Selbstporträts, es gibt unkonventionelle Perspektiv-Sprünge, es geht nicht um eine Liebesbeziehung und nicht um eine Familiengeschichte.
– Es ist vernichtend, größenwahnsinnig und stellt ALLES bloß. Es ist aber nicht nihilistisch, weil hinter allem ein MENSCH steht.
Es geht über sich hinaus. Goetz seziert sich und seine multi-dimensionale Persönlichkeit und alles um sich herum, um eine Wahrheit zu finden, er lässt die Stimmen kommen und gehen, er nimmt die Köpfe der Irren und der Irrenärzte auseinander, er blättert Motivationen auf, er sägt den Größenwahn und den Körper an, er lässt nichts einfach so stehen. Er ist PUNK. Heute ist es nicht so en vogue, genauer hinzuschauen, was mit den armen Irren passiert. Nicht mit den Managern und Lehrern mit Burn-Out-Syndrom, sondern mit denen, die nichts mehr wollen. Was mit denen passiert, die man immer mal für einige Wochen in der Karl-Marx-Straße sitzen sieht, von fantastischen Antennen ohne Empfang umgeben, die dann für einige Zeit wieder verschwinden. Oder was mit einer 1983 geborenen Patientin passiert, der man gegen Lebensangst und Liebeskummer fälschlicherweise ein Schizophrenie-Medikament gegeben hat, und die, wenn sie es nicht selbstständig abgesetzt hätte, heute vielleicht auf einer geschlossenen Station leben würde. Bald erscheint das neue Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Ausgabe 5. Kritiker befürchten, dass es damit noch verführerischer wird, überzudiagnostizieren und Krisen mit Krankheiten zu verwechseln. Und Kindern ADHS anzuhängen und sie mit Ritalin vollzustopfen. Warum ist IRRE nicht Pflichtlektüre für Medizin-Studenten? Zur kritischen Sinnesschärfung.
Warum schreibt man nicht mehr Poesie für Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom? Goetz wollte ein Buch, in das man reinlesen könne, an jeder beliebigen Seite aufgeblättert. Explorieren virtueller Schönheit und chemischer Verzweiflung?
Ja manchen gefällt die Welt. Und manchen bricht das Herz entzwei. Und wir sagen Ja zu modernen Welt. Resiliente Trauma-Patienten sehen sich nicht als Opfer, sondern als Überlebende. Sie versuchen, dem Trauma etwas Positives abzugewinnen (siehe Empfehlungen unter ICD-10 F43.1).