We choose to color the moon

von 
Essay
zuerst erschienen 2014 in Upon Paper

„You press the button,
we do the rest.“

Kodak, 1889

Schwarz verschleiert sind die Künstler. Das 21. Jahrhundert ist ein Fegefeuer für Spezialisten und Fertigkeiten und das unschuldige Objekt auf dem Fotopapier. Überall wird der Tod des Mediums ausgerufen, und die Aufnahmen in den Galerien dokumentieren vor allem das Verschwinden ihrer eigenen Gattung. Fotografen begeben sich nicht mehr auf Expedition durch die Straßen, sondern wandern stundenlang, wie der kanadische Künstler Jon Rafman, durch Google Streetview und machen Screenshots von wundersamen Orten, die die Google-Kamera zufällig eingefangen hat.

Die Avantgarde der Fotografen muss das Haus gar nicht mehr verlassen. Gleichzeitig wurde noch nie so viel von so vielen Menschen fotografiert und ins Netz befördert, seit jeder eine Digitalkamera besitzt oder ein Smartphone. Fotos sind der neue Text.

Im April 2012 wurde die Foto-App Instagram für eine Milliarde Euro an Facebook verkauft. Das Start-up hatte zu diesem Zeitpunkt zwölf Mitarbeiter und kein Ertragsmodell. Wenige Monate zuvor hatte der Filmhersteller Kodak Insolvenz angemeldet. Kodak hatte zu seinen besten Zeiten 130 000 Mitarbeiter auf der ganzen Welt und lieferte die farbige 35-mm-Grundlage für sämtliche oscarprämierten Hollywoodstreifen. Das Hauptwerk in Rochester, das nun teilweise abgerissen wurde, besaß seinen eigenen kleinen Atomreaktor.

Kodak hatte Weltgeschichte mitgeschrieben und die Fotografie demokratisiert – mit den ersten Kompaktkameras, der Brownie und der Instamatic, die die Welt durch einen spezifischen Schleier aus schockierendem Pink, senffarbenem Gelb, Salbeigrün und frostigen Blautönen festhielt. Wir sahen die Welt in Kodak-Farben.

Eines der bekanntesten Kodak-Fotos wurde übrigens nicht auf der Erde aufgenommen, sondern von Neil Armstrong auf dem Mond (oder, einer Verschwörungstheorie zufolge, in einem Studio-Hinterzimmer mit Mondtapete). Unbestritten ist, dass es sich um ein Kodak-Ektachrome handelt. Es ist ein Bild, das das Vermögen des Menschen, endlich auch das Weltall zu bereisen, dokumentiert, seine Sehnsucht und seine Einsamkeit. Auch bei späteren Monderkundungen reiste Kodak mit. So entstand 1971 auf der Apollo-15-Mission eine Reihe von traumhaften Bildern auf Ektacolor-Film, wie das von Kommandant David Scott, der in die Kamera salutiert, sofern man das in diesem schwerfälligen Raumanzug tun kann. Daneben ragt eine US-Flagge aus dem Staub, die noch strahlender wirkt in der düsteren Umgebung. Hinter dem Horizont liegt die Schwärze des Alls wie ein riesiges schwarzes Loch. Verloren sieht Scott aus; das lunare Gerät reflektiert den Blitz in absolut überirdischem Gold, so künstlich und heilig wie eine Monstranz im Dämmerlicht einer Sakristei. Ein Moment vollkommener Unwirklichkeit, in dem sich menschliche Sehnsucht, unbedingter Wille, Größenwahn und das massive Selbstbewusstsein einer Nation manifestieren wie in vielleicht keinem anderen des 20. Jahrhunderts.

Auf einem fremden Himmelskörper wirkt es wunderlich, eine Flagge, die ein Territorium markiert, in den Sternenstaub zu stecken, eine Traumlandung ohne Halt. Die Fotos hängen heute im Kodak Museum in Rochester, neben einer Glasvitrine mit dem Zettel, auf dem der Unternehmensgründer George Eastman seine letzten Worte notierte, kurz bevor er sich mit einem Gewehr ins Herz schoss: „An meine Freunde: Meine Arbeit ist getan. Wozu warten?“

Während sich Amateurfotografen mit Kodak in die farbige Welt der Erinnerungen begaben, sträubten sich die Künstler und Intellektuellen. Farbe in der Fotografie galt lange als vulgär und setzte sich erst ab 1970 in der Kunstwelt durch – mit den süßlichen und lichten Farben von William Eggleston, Joel Meyerowitz oder Joel Sternfeld. „Es gibt Schwarz-Weiß-Snobs, genauso wie Farb-Snobs“, stellte der Fotograf Ernst Haas damals fest. So wie es heute Analog- und Digitalsnobs gibt. Kodak entwickelte schon 1975 als absolute Pionierleistung eine Digitalkamera. Sie war so groß wie drei Schuhkartons, hatte eine Auflösung von 0,01 Megapixeln in Schwarz-Weiß, und die Speicherung einer einzigen, grobkörnigen Aufnahme dauerte bis zu acht Minuten. Der Konzern ahnte wohl, dass die Digitalfotografie die traditionelle früher oder später ablösen würde, dennoch gab man die chemische Entwicklung, die den Kern des Geschäftsmodells ausmachte, nicht auf.

Die ersten Jahre der Digitalfotografie seit den 1990ern waren steril, überscharf und von bösartigen Farben geprägt. Wer zur digitalen Nachbearbeitung nicht in der Lage war, holte sich im Fotoladen eine ausgedruckte Ladung Details, die er lieber wieder vergessen hätte. Noch nie wurden wir so mit Poren und Schatten und falschen Bildkompositionen belästigt (und gleichzeitig mit so viel geschönter Photoshop-Fantasie in Magazinen). Vieles verschwand in vergessenen Ordnern auf dem Computer oder wurde einfach gelöscht, oft direkt nach der Aufnahme, spätestens am PC. Mittlerweile gibt es fertige Filter gegen diese Aufdringlichkeit, die man über Digitalfotos legen kann. Die beliebteste Anwendung, die solche Schnappschüsse automatisch auf Facebook oder Twitter postet, ist Instagram.

„You press the button, we do the rest“ war Kodaks Werbespruch, als die Kodak Nr. 1 im Jahr 1889 auf den Markt kam – Instagram ist die Überhöhung dieser Idee. Die App reduziert das Denken beim Fotografieren auf ein Minimum. Atmosphäre und Licht spielen eigentlich keine Rolle mehr, auch die Beschaffenheit des Trägermaterials nicht. Mit Instagram kann man den Ekel des Digitalen vordergründig überwinden und jede Banalität in ein emotional aufgeladenes Bild verwandeln – und sich die Imperfektion und spezifische Farbigkeit der Kodachrome-Jahre als historische Ästhetik zunutze machen. Ich suche mir lediglich einen Filter wie „Nashville“ oder „1970“ aus und lade die sentimentalisierten Schüsse bei Facebook hoch, um meinem ständig wachsenden Lebenslauf eine Kuriosität oder etwas Zuckerguss hinzuzufügen und mein Leben als sexy auszuweisen. Etwas, das gemocht werden will. Etwas, das ich beim Auslösen schon einkalkuliere. Ich fotografiere kaum mehr für mich selbst, sondern schaue durch die Welt und knipse alles, was gefallen könnte. Dazu muss es eine bestimmte Anzahl an Parametern aufweisen, um durch das Facebook-Liking-Gate gelassen zu werden. Tiere in absurden Situationen. Geschmolzenes Eis auf der Straße. Das Panorama einer fremden Stadt.

Und dann passiert der Rest: Die Bilder werden hochgeladen in eine unüberschaubare, nie mehr vergängliche Cloud aus Datensätzen.

Da schwirren Billionen von bunten Abbildern herum und dokumentieren unser transparentes Lebensgesamtkunstwerk auf einer vagen Grundlage, denn die digitale Fotografie besitzt kein Negativ mehr. Wir befinden uns mitten im digital trouble. Das Abbild ist kein chemischer, physischer Prozess mehr, der in der Realität durch einen lexikalischen Verweis verankert wäre. Es sind Fotos, die nicht altern, die keine Genese und keinen Tod mehr kennen. Sie sind reines Positiv.

Was dann wohl übrig bleibt, wenn alle Stellen der Welt aus allen unendlichen Perspektiven einmal abfotografiert wurden? Wenn das Abfotografierte anschließend aus der Realität verschwindet – wie meine Freundin Britta sich das als Kind vorstellte. Überall weiße Flecken in der Welt, fast ausgelöscht. Wir können durchatmen, Kinder! Alles wäre weiß, die Bildsprache nicht mehr so bedeutsam. Traurig sind ja sowieso nur die Spezialisten und Künstler, die keiner mehr braucht. Denn wer kann heute noch einen Andreas Gursky von einem Autostitch-Panorama unterscheiden?

Wir könnten durchatmen in einer ganz weißen Welt, über der sehr weit oben eine bunte Cloud schwebt, von der man sich bei Bedarf abmelden kann. Wie in einer Salzwüste könnten wir uns in der Zukunft einrichten, würden irgendwie biologischer und durchlässiger und entwickeln eine neue Kunst ohne Farben und Stoffe. Denn Kunst muss den Menschen ein intensiviertes Erleben sichern, das sie sonst nie erfahren würden. Eine Sehnsucht stillen nach den Sensationen und den Fotostreams und den Fotoblogs von alten Bildern aus einer Zeit, als die Welt noch die Zahnabdrücke der Kriege hatte, noch Geheimnisse in sich barg und eine scheinbar greifbare Utopie. Marcel Duchamp schrieb 1922 an den Galeristen und Fotografen Alfred Stieglitz: »Sie wissen genau, was ich über die Fotografie denke. Ich sähe gern, wenn sie die Menschen dazu brächte, die Malerei zu verachten, bis etwas anderes die Fotografie unerträglich macht.« Dieses Andere gibt es noch nicht, aber die Fotografie macht sich dieser Tage schon selbst unerträglich. Denn alles muss in nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren will. Und in diesem weißen Raum kann man dann auch wieder ganz in Ruhe ein wunderschönes altes Kodak-Dia an die Wand werfen und ein bisschen weinen.