Gestern unterwegs

Buchempfehlung
zuerst erschienen 2005 in der Welt am Sonntag

Im aktuellen Heft der Zeitschrift Literaturen findet sich bekanntlich der Erstabdruck eines längeren Aufsatzes von Peter Handke namens „Die Tablas von Daimiel“, seinem „Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milošević“. Bekanntlich, da es wieder einmal ein Riesengeschrei gegeben hatte – wie immer eigentlich, seit Handke mitte der neunziger Jahre sich zum literarischen Fürsprecher Serbiens berufen fühlte. Dabei handelt es sich in dem verschrienen Text in erster Linie - wieder einmal - um eine besonders zu ihrem Ende hin, als es um die sogenannten Tablas geht, beglückend geglückte Erzählung. 

Dieses „beglückende Glücken“, die langsame Zitterpartie: es ist der Wesenszug des Werkes von Peter Handke. Ein Werk, das so weit und vielschichtig ist wie sonst nur eines und dabei aber seit vielen Büchern schon, genau genommen seit „Langsame Heimkehr“, vor allem der ausdauernden Beobachtung des Nebensächlichen gewidmet ist. Nebensächlich, das sind in unseren Augen ja Türklinken, die Steine, der Staub, eine Orangenschale und die Wipfel der Bäume, die Art und Weise wie jemand eben nicht gegrüßt hat, die Helligkeit des Honigs und so fort. Handkes Aufmerksamkeit für all jene Nebensächlichkeiten ist in dem Maße geschärft, wie die unsrige dafür abgestumpft wurde, weil diese Dinge uns als „nicht erwähnenswert“ erscheinen. Die beiden letzten großen Romane Handkes, „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ und „Der Bildverlust“, gerieten durch eben diese ausdauernde Erwähnung unserer Nebensächlichkeiten zu atemberaubenden und zugleich auch herzerfrischenden Leseabenteuern: Das waren grandiose Utopien, so – nein: so! könnte unser Leben ja ebenfalls sein. Aussehen zumindest.

Nun sind die Notizhefte aus den Jahren der Vorarbeit zu diesen Romanen erschienen. „Gestern Unterwegs“ versammelt in einem Band die Aufzeichnungen Handkes aus den Jahren 1987 bis 90. Einer Zeitspanne, in der sich weltgeschichtlich bedeutendes getan hatte, doch findet sich davon in diesen Aufzeichnungen nichts. Und dennoch enthalten die über fünfhundert Seiten mehr von der Welt als nur irgendein Buch, gar ein „Wenderoman“. Handke war in jenen Jahren viel gereist, die eingestreuten Ortsangaben lassen auf eine Route schließen, die ihn von Europa über Ägypten nach Alaska und Japan und von dort aus wieder durch Europa bishin nach Amerika  führte. 

Doch es ist kein Spot-Hopping, es ist ein langsames Reisen, von dem hier berichtet wird. Die Wege werden, so gut es geht, zu Fuß zurückgelegt. Und es ist seltsamerweise bald egal, wann genau diese Reise stattgefunden haben soll. Nicht einmal das zwanzigste Jahrhundert scheint seine Rolle zu spielen. Was Peter Handke auf seiner Reise vorfindet ist scheinbar immerdar. Die Langsamkeit und die Stille seines Gehens lassen die Nebensächlichkeiten hervortreten, sie kommen zu Wort: „Der weich siedende Bambuswald von Morioka, ein ungeheuer weiches Sieden wie in einem großen Bottich, von tief unten herauf, sich stetig noch steigernd, himmelwärts dazwischen das leichte Klicken oder Raspeln der Schäfte und Stämme, ein Sieden und Wallen, das mir noch zwischen den Häusern jetzt nachgeht.“

Aber es sind zweifelsohne nicht bloß die Sätze, die Handke macht, die manchmal auch lang sind und trotzdem – auch bei strengster Kürze – stets elegant; es sind eben auch nicht die sogenannten Erlebnisse – draußen passiert ja kaum etwas. Das – leider hilft hierzu kein originelleres Wort – geniale an Peter Handkes Prosa findet sich gerade nur in seiner Entscheidung, zu dem Wortführer der als nicht erwähnenswert befundenen Nebensächlichkeiten zu werden. Eine tatsächliche Verwandlung durchzumachen von einem, der in seiner Jugendphase rein die sich vorstülpende und sich aufdrängende Oberfläche der Welt beschrieben hatte und der eben mit seiner „Langsamen Heimkehr“ mehr und mehr eingedrungen ist in diese vermeintlich sekundäre Welt, die sich wölbt hinter all den Dingen, die wir als Hauptsächlichkeiten gewohnt sind anzuerkennen.

Und so kam es, und wird, so läßt es „Gestern Unterwegs“ zumindest ja hoffen, noch vielmals kommen, daß Peter Handke uns von Zeit zu Zeit ein Buch überläßt, mit dessen Hilfe wir unsere Welt so erkennen können, wie wir sie nie gelernt haben werden zu erkennen. Das Lesen dieser Bücher ist gewöhnungsbedürftig. Wie Christian Kracht es einmal ähnlich von dem Schießen mit der Panzerfaust behauptet hatte, gleicht die Handke-Lektüre dem Essen feucht gewordener Kartoffelchips: Man hört entweder schlagartig und beinahe gleich nach Beginn damit auf – oder eben niemals wieder mehr. 

Wie schreibt es gleich Handke?: „‘You cannot get lost in Japan‘, lese ich gerade im Reiseführer und denke: Schade“.