Unter dem Totem der drei Hasen
Ich bin nicht ganz sicher, wo diese Geschichte beginnt. An der Bushaltestelle auf dem Rothschild Boulevard, hinter der Kreuzung zur Allenby Street stehe ich. Tel Aviv, Israel. Es ist Sonntagmorgen, halb sieben Uhr in der Früh, der Sabbat ist vorbei, und es sind erst wenige Menschen unterwegs. Ein paar Letzte aus der Nacht, ein paar Frühaufsteher und ich mit meinem Rucksack und den zwei Taschen zu meinen Füßen. Die eine, stabilere ist voll mit Wasserflaschen, in der anderen sind Feigen, Müsliriegel, Oliven, Sonnencreme. Dem Gefühl in meinem Bauch nach geht es jetzt los, da verglühen gerade ein paar Aufregungssternschnuppen. Und da hinten kommt auch schon mein Bus. Ich bezahle dem Fahrer sechs Schekel und will mich setzen, als er mir auf Englisch hinterherruft, wohin ich denn möchte. Zum Hauptbahnhof. Er fährt mich, auch wenn ich der einzige Passagier bin. Während der Fahrt über den Boulevard, auf dessen grünem Mittelstreifen ich in den letzten Tagen oft mit dem Fahrrad gefahren war, zieht vor meinem inneren Auge noch einmal die Zeit seit meiner Ankunft vorbei. Das wunderschöne Terminal von Mosche Safdie am Ben-Gurion-Flughafen, die erste Zimtschnecke, der Balkon bei Shai in der Nacht, mein Freund Patrick am nächsten Morgen, den ich seit Jahren nicht gesehen und dessen Augen und dessen Stimme ich vermisst hatte. Hirnforscher sagen, alles, was man zum ersten Mal macht, speichert sich nachdrücklicher im Gehirn, weshalb einem die dabei vergehende Zeit dann länger erscheint. Dies ist mein erster Besuch in Israel, immer wieder aufgeschoben, bis ich jetzt den guten Anlass gefunden hatte.
An der Savidor Station laufe ich über den Parkplatz, irgendwo hier soll ein Bus abfahren, der mich in die Negev-Wüste bringen wird, aber noch ist davon nichts zu sehen. Nur junge Soldaten und Soldatinnen, so jung. Auf einmal aber sind da zwei wie ich mit Gepäck. Midburn? Ja, genau. Sie kommen aus Hamburg, und es dauert nicht lange, bis einer aus Weißrussland bei uns steht und zur Begrüßung eine innige Umarmung vorschlägt. Dann einer aus den USA, und es kommen immer mehr Burner. Sie alle haben Rucksäcke und Schlafsäcke dabei, Zelte und Taschen mit Wasser. Wir umarmen uns, nicht kurz, lang.
Schon bald fahren wir in einem klimatisierten Reisebus durch die Wüste. Eine riesige Anlage grauer Gebäudeblöcke flirrt in der Hitze, das sieht nach einem Gefängnis aus. Strafvollzug und Militärisches sind Klassiker in Wüsten, das war auch in den USA so. In der Ferne die weißen Hochhäuser der Wüstenstadt Be’er Scheva. Neben mir sitzt Mathieu aus der Nähe von Rennes, er ist ein digitaler Nomade, der für die Kampagne von Macron gearbeitet hat. Es wird sein erster Burn sein. Für mich ist es der zweite.
Vor fast vierzehn Jahren war ich in die Black-Rock-Wüste von Nevada gereist, um das Burning-Man-Festival zu besuchen (und für das taz.mag darüber zu schreiben). Inzwischen gibt es in Israel ein regionales Schwesterfestival, den Midburn (ein Portmanteau aus dem hebräischen Wort midbar für „Wüste“ und burn), das rasant wächst – auf deutlich mehr als zehntausend Besucher in diesem Jahr.
Nach zwei Stunden Fahrt erreichen wir den Stau, der sich vor dem Eingang zu dem umzäunten Gelände gebildet hat. Nach weiteren zwei Stunden steigen in den Bus die sogenannten Greeters, aufgedrehte und fröhliche Gestalten; kostümiert und schon stark verziert vom Wüstenstaub, begrüßen sie uns euphorisch. „Willkommen zu Hause!“ Nachdem die Stimme eines Handhelds mein Ticket für gültig erklärt hat, wird mir ein Band um das rechte Handgelenk geschnürt, und wenig später stehe ich im Staub. Es ist windig, und die feinen Partikel legen sich auf meine Haut. Auch ist es schon heiß, die Sonne knallt vom Himmel.
Jetzt muss ich zu meinem Camp, „Camp David“. 2.30, Esplanade sind die Koordinaten, das heißt in der ersten Reihe, auf der rechten Seite, der wie ein Halbkreis angelegten temporären Stadt. Eine Stunde später steht mein Zelt neben den anderen unter einem riesigen Schattensegel, und ich bin dabei, die mehr als fünfzig anderen Bewohner von Camp David kennenzulernen. Gerade malt ein Mädchen etwas in mein Gesicht. Ein Burn ist kein normales Festival. Gegründet wurde es 1986 am Strand von San Francisco, und es funktioniert auf der Basis von zehn Prinzipien, von denen die wichtigsten sind: Es gibt nichts zu kaufen (außer Eiswürfel), man bringt mit, was man braucht, und man beschenkt einander. Es gibt keine Zuschauer, nur Teilnehmer. Auch wenn einige der besten DJs auflegen, ist es ein Festival der Kunst, der Fantasie, Selbsterfahrung und eines anderen Umgangs miteinander. Alle sind aufgerufen, sich selbst auszudrücken, sich ihrer selbst bewusst zu sein. Klingt esoterischer, als es ist. Das Gemälde auf meiner Wange ist fertig, und ich darf es in einem Spiegel betrachten. „Ein W“, sage ich. „Hast du eine besondere Beziehung zu W?“, fragt sie. „Ja, schon.“ „Dann passt es doch,“ sagt das Mädchen, dabei hatte sie an einen Kronleuchter gedacht. Schon beginnt die Magie.
„Camp David“ hatte mir sofort gut geklungen. Ich hatte wohl an Maryland und den dort ausgehandelten Frieden gedacht, aber diese Herleitung stellt sich als Irrtum heraus. Der Name geht auf die David Ranch zurück, eine Stunde nördlich von Tel Aviv gelegen, auf der Ethan, Sharon und einige weitere leben, Kunst machen und Pferde halten. Seit einer Woche hatte ein kleine Gruppe das Camp aufgebaut, das man nun durch eine Saloontür betritt. Links eine Bar, rechts eine Bühne, in der Mitte Sofas, hinter einer Sichtschutzwand unsere Zelte.
An diesem ersten Mittag ist das Camp wie ein Ameisenhaufen, und weil ich müde und neugierig bin, laufe ich zunächst hinaus, auf die Playa, wie die Wüste genannt wird, und in die Mitte, den kleinen Hügel hinauf zum Mann, der zentralen Skulptur aus Holz, die am Ende verbrannt werden wird und dem dieses Mal eine Eva zur Seite gestellt ist. Seit meiner Ankunft hat der Wind aufgefrischt, Staub fliegt, ich trage eine Skibrille über den Augen und ein Bandana über dem Mund, es knirscht trotzdem.
Die heilige Negev, von hier oben sieht man alles im 360-Grad-Blick. Die Stadt ist hufeisenförmig nach Norden hin offen, dort geht es weit hinaus, über hundert Kunstwerke sind verteilt. Ich aber gehe zum Center Camp, um dort auf einer Matratze ein bisschen Schlaf nachzuholen. Feiner Wasserstaub regnet aus einer Sprinkleranlage, Depeche Mode singen „Enjoy the Silence“, und von der Seite bläst der Sand herein. Auf dem Weg zurück ins Camp David ist auf einmal lauter Lärm zu hören. Zwei Militärflugzeuge zerschneiden den Himmel, laut explodiert ihr Überschallknall.
Jeden Abend gibt es im Camp ein warmes Essen. Wir sitzen leider nicht an einer großen Tafel, wie ich es mir ausgemalt hatte, dafür aber in der untergehenden goldenen Sonne. Die Nacht kommt, und der Unterschied zum Tag könnte nicht eindrücklicher sein. Überall bunte Lichter, an den einhundert Kunstinstallationen, an den umherlaufenden Menschen. Mit Ethan und Tomer laufe ich zum Leuchtturm, ganz im Norden. Von hier aus sieht man den ganzen Wahnsinn, es sieht aus wie auf dem Mars. All die Lichter, dazu die Klänge der jetzt hochgedrehten Soundanlagen. Wir gehen hinunter zu den cLOUDs, einem großen Feld Schäfchenwolken auf Kopfhöhe, zwischen denen getanzt wird. Alle haben sich Mühe mit ihrem Outfit gegeben. In Tel Aviv hatte man von Schlangen vor Seconhand- und 10-Schekel-Läden gesprochen. Viele Jungs tragen Rock und Tutu, ihre Mädchen Leggins und Stiefel, verkehrte Traditionen, schön verspielt.
Schon habe ich Ethan und Tomer verloren, aber Vaki, den jungen Weißrussen, von heute morgen, wiedergetroffen, und zusammen gehen wir auf den nächsten Augenreiz zu, einen wechselnd rot, blau, grün illuminierten Dom, aus dem härterer Techno brettert und der ironischerweise Tech(no)Drome genannt werden und von den Ninja Turtles inspiriert sein will. Das ist Vaki zu viel, und wir verabschieden uns leichtherzig. Ein anderer nimmt mich mit ins Cookie Kingdom, auf dessen Dancefloor die Jungs und ihre Augen wie zu guter Stunde in der Panorama Bar glitzern.
Nach ein bisschen Schlaf, ein Frühstücksbrot mit Tahini, Avocado und Tomate. Michael, dem ich das Camp David verdanke, erzählt mir von seinem Job als Lehrer für die Kinder Geflüchteter, in Israel kommen die aus Eritrea und Somalia, wenig Perspektive. Auf einer Holzkonstruktion, die an Baywatch und Malibu erinnert, finde ich Shai wieder. In dem Zelt nebenan turnen Artisten. Bei Shoobi Doobi mache ich zwischen riesigen Teddybären ein Nickerchen. In einem Boxring findet eine Kissenschlacht statt. Bald ist es schon wieder Abend, und mit Tom, Monkey und den anderen vom Camp Radi-Cali, unseren Nachbarn, sind wir die Fünfminutenparty. Wir gehen von Camp zu Camp, von Party zu Party, als immer größer werdende Gruppe, die nach spätestens fünf Minuten weiterzieht und dabei immer mehr mitnimmt. Ein schöner, lustiger Prank.
Mit Eyal, den aber alle Markus nennen, spaziere ich in der Morgensonne zu einem Kunstwerk, das gerade aufsteigt und mich an den Lichtkünstler Otto Piene erinnert. Für Markus ist es der vierte Midburn, er war von Anfang an dabei. Schon ein Unterschied, ob sich alle kennen oder ob es zehntausend sind, sagt er. In Relation zur Größe des Landes (in etwa so wie Niedersachsen) kommen viele zum Midburn. „Ja“, sagt er, „wir wollen anders leben.“ Das schließt aber nicht unbedingt die Nachbarn ein. Zu den lustigen Ägyptern, die ich ihm als mögliche Gäste für die Zukunft vorschlage, meint er nur: „Schwierig.“ Tatsächlich sind die Teilnehmer zum Großteil Israelis, es gibt ein paar Europäer, Franzosen und Deutsche und auch US-Amerikaner, aber das hier ist kein Easyjetset.
Im Camp lerne ich immer mehr Leute kennen. All die ungewohnten Namen, das ist gar nicht so einfach, auch meinen muss ich oft buchstabieren. Berlin aber erweist sich als großes Glück. Bei jedem, mit dem ich spreche, ist die Stadt positiv besetzt, egal ob sie schon da waren oder nicht. Bin ich darauf sogar ein wenig stolz? Es freut mich auf jeden Fall. Mit Amit, Doobo, Matan, Hotam und Ariel muss ich das Abendessen zubereiten. Gemüse schneiden für über fünfzig Hungrige ist eine Arbeit, und ein Sandsturm behindert uns, aber wir schaffen es.
Ich nehme meine erste Dusche. So viel Komfort gibt es im Camp David, aus einem Sack tröpfelt das mühsam herangetragene Wasser. Noam erzählt mir von seiner Plato-Lektüre am Nachmittag mit seinen Freunden Ron und Jacob im Tempel, unterhalb des Leuchtturms, dessen Wände von den Besuchern mit ihren Gedanken vollgeschrieben werden. Mit Shaqed besorge ich Eiswürfel. Auf unserer Bühne hat die Band The Flaming Sattles ihren Debütauftritt. Markus singt in seiner gelben Badehose. Auf der anderen Seite der Stadt findet eine Drag Show statt. Schließlich habe ich Heimweh und Sehnsucht, und ich wandere durch die Wüste auf der Suche nach einem Funknetzwerk. Muss es doch geben. Ausgang Cyberspace, die Welt der sozialen Medien, die sich – das ist ein Unterschied zu 2003 – wie Watte als zweite Realität über das reale Leben legt. Gibt es aber nicht, kein Empfang. Es bleibt nur der Burn, die dritte Realität. Auf einmal ist mir alles zu laut und zu viel. Erschöpft verkrieche ich mich in meinem Zelt.
Aber schon als es noch dunkel ist, bin ich wieder wach und draußen. Von Norden kriecht bereits Helligkeit heran. Sunrise Kingdom heißt das Camp mit den großen Boxen. Dort tanze ich in einer Menge, während auf einmal die Sonne aufgeht und uns mit ihren Strahlen überflutet. Auf der Skatebahn herrscht schon Hochbetrieb. Mit einem Jungen im Pelzmantel spiele ich Dame auf einem großen Feld. Seine rosa Eimer schlagen meine blauen. Im Tiefflug taucht ein kleines Flugzeug auf, das über der Stadt kreist. Mit Russo, Sergio und deren Freunden tanzen wir im Jerusalemer Markt. Nisan, der sich als Reporter für Fake News vorstellt, interviewt mich, und ich fotografiere ihn. Mit Ariel, der letzte Woche aus der Armee entlassen wurde, trinke ich ein Bier. „Ich bin so froh, hier zu sein“, sagt er. Wenige Tage vor seiner Entlassung war er unter Beschuss geraten. „Oh nein, Scheiße, habe er gedacht, das ist so ein Klassiker, der Soldat, der kurz vor seiner Entlassung erschossen wird.“ Und jetzt? „Ich will anderen Menschen helfen.“ Aber erst mal muss er sich selbst erleben.
Obwohl ich eigentlich auch ohne Uhr ein Zeitgefühl entwickelt habe, ist der Moment überraschend und zu schnell gekommen: Am vierten Abend sitzen wir um den Mann, der angezündet wird. Hell frisst sich das Feuer in ihn und seine Eva hinein. Dann aber dauert es lange, bis die beiden fallen. War es damals in der Black-Rock-Wüste von Nevada der Höhepunkt, so bin ich in der Negev so müde und erschöpft, ich schlafe im Sitzen ein.
Auch am nächsten und letzten Abend, als der Tempel brennt, kommt es mir seltsam vor. Aller Reinigung zum Trotz. Das Hypnotische des Feuers und wie die Menschen darauf reagieren, selbst wenn es so nette sind wie hier, ihr wölfisches Geheul, als ein Teil des Tempels in sich zusammenstürzt. Um diesen Eindruck wieder auszuradieren und auch weil es die letzte Nacht ist, gehe ich feiern, noch einmal an allen Orten und immer noch weiter, und es gefällt mir dann doch ziemlich gut, auch am Schluss, als schon alles leiser und weniger wird, noch bei der letzten und blödesten, kaputtesten, aber auch besten Party dabei zu sein.
Unter dem Totem der drei Hasen wirbelt noch einmal eine Gruppe chemisch Verschworener Staub auf. Die DJane sieht verzweifelt aus, aber sie treibt ihre Musik hart an und verspult doch gekonnt. Mir gefällt auch, dass alle Freunde und Bekannten schon ruhen. Ich bin allein hier zwischen denen, wie ich es früher schon war, auch ein Gefühl von Heimat. Dann aber entdecke ich ihn – Shai –, der anmutig und ganz innig mit einem weißen Tuch tanzt. Ganz fern. Auch der tolle Vincent aus Berlin taucht noch auf.
Was ich nur nicht wusste: Wenig später beginnt der Abbau von Camp David. Er wird den ganzen Tag dauern, den wegen eines anhaltenden Sandsturms (und der Erschöpfung) anstrengendsten Tag überhaupt. Mittags stehle ich mich einmal weg, um mit Nir Adan zu sprechen. Der einstige Präsidentenbodyguard steht der NGO vor, die Midburn organisiert und veranstaltet. Auch er war Anfang der nuller Jahre zum ersten Mal zum Burning Man gefahren. Heute sagt er: „Es hat einige Zeit gebraucht, bis ich verstanden hatte, welches Potenzial diese Idee hat, wie aus dieser Kultur eine bessere Gesellschaft erwachsen kann.“ Ich frage ihn nach seiner Bilanz, und die gute Nachricht ist: Es fahren alle wieder gesund nach Hause. Niemand ist gestorben, wie es manchmal in den USA passiert. Auch gab es im Vergleich zum Vorjahr bei den Ärzten weniger Behandlungen. Allerdings soll die Teilnehmerzahl in den nächsten Jahren langsamer steigen. „Vielleicht sind wir zu schnell gewachsen.“ Langfristig, sagt Nir Adan, habe er einen Traum. „Ich träume davon, dass Leute unabhängig von Religion und Politik zum Midburn kommen.“ Auch aus den Nachbarländern.
Auf dem Weg zurück denke ich über meine Bilanz nach. Gut war es. Tolle Menschen getroffen, das vor allem, und überraschend viel gefeiert, und wieder nicht mit Yoga angefangen. Spätestens nächstes Jahr dann.