Deutschland – aus der Republik
Alle Orte, zu allen Zeiten
Da – Lauf die Oranienburger runter. Windig unter hellblauem Himmel. Eine Frau in roter Lederjacke weiß etwas: „Junger Mann, Sie bluten.“ Tatsächlich, mein Finger. Fühlt sich gar nicht so schlecht an. Bitte an das hübsche Mädchen vor der Pizzeria: „Hältst du mal?“ Ihre Hand funktioniert, greift nach meiner Zigarette. Ich rein, Serviette um die Wunde. Danke. Raus, Mädchen erlösen. Hallo, die Aktion versteht doch keiner. Ist doch nicht mehr US-Amerika.
DaDa – Wieder in Berlin. An dieser Stelle ab jetzt alles über Deutschland – so lange, bis es gut wird, oder ich ins Exil gehe. Sitze in meinem Apartment über dem Alexanderplatz, Nordseite. Ist Deutschland ein kaputtes Land? Der Kaufhof sieht aus wie nach einer Bombe. Aber wird ein „kleines KaDeWe“, wie der Sicherheitsmann gestern sagte. Mit Lichtkuppel, „dann können Sie den Himmel sehen“. Schlecker hat mehr harten Alkohol im Angebot. Manchmal läuft noch eine kleine Hartz-Demonstration zum Roten Rathaus.
In ganz Mitte junge Gesichter aus Spanien, Italien, in Gruppen. Sie tragen alle schöne Sonnenbrillen. Multikulti-Land wegen Billigfliegen. Das Telefon klingelt. Es ist mein Freund Valtin, der wohnt auch am Alexanderplatz, Südseite: „Hallo!“ „Hallo!“ Er ist gerade aufgewacht, das sagt die Stimme. Von seinem Bett am Fenster sieht er den Fernsehturm, Berlins hübscheste Leuchte, die uns immer nach Hause führt. Jetzt fragt er mich: „Was, wenn der Turm irgendwann nicht mehr da ist, das wird ja passieren?“ „Dann werden wir auch nicht mehr da sein“, sage ich schnell. Vor dreißig Jahren wurde angefangen zu bauen. Walter Ulbricht hat den Auftrag gegeben. 365 Meter Beton, so viele Meter wie Tage im Jahr. „Damit es keins meiner Schulkinder vergisst“, soll Margot Honecker gesagt haben. Heute ist er das höchste Bauwerk Westeuropas.
„Wovor hast du Angst“, frage ich Valtin. Er weiß es nicht und spielt mir lieber was vor. Du hast den Farbfilm vergessen, singt Nina Hagen, und ich denke, wie lange hält Beton? Die Furcht vorm arabischen Terror ist ja angenehmerweise schon wieder vergessen. Gibt es nie wieder Krieg auf deutschem Boden? Die Frage ist schon ein totaler Nazi. Alles an Deutschland ist so schrecklich kompliziert. Was wünscht man sich für dieses Land? „Viel, aber eigentlich nichts“, sagt Valtin, denn: „Wenn wir kaputt gehen, dann bestimmt nicht wegen Deutschland.“ Ja, es liegt an uns, an allen Orten, zu allen Zeiten. Dann kommt Valtin rüber und wir malen an meine Fenster.
28 neue Nachrichten
Was ist noch da von letzter Nacht? Rote Stempel auf der Hand, in den Fingern leichte Lähmung. Ein paar Stunden gedämmert, nicht geschlafen. Da war die Eröffnung einer Ausstellung. Ein Essen. Dann weiße Schmetterlinge in Carlos Depot. Alte Pulp-Lieder, angefangen zu tanzen. Schwarze Schmetterlinge, im Watergate dann.
Die Situation ist doch: An den Staat glauben nur noch Träumer. Deshalb funktioniert einzig und so gut die Nacht in dieser Hauptstadt. Die Reden. Wir sind wach und unterwegs. Unser Staat sind die Toiletten. Anfassen und auftauchen, mit blühenden Augen. Tanzen, immer wieder tanzen. Der Staat war ruiniert, dann reformiert, zum Ersten, Zweiten, Dritten, und ist immer noch ruiniert absurd und ohne Hoffnung l-a-n-g-w-e-i-l-i-g. Immer wieder sehe ich diesen bekifften bleichen Engel. „Wollen wir beten?“, fragt der Engel. Dann sitzen wir lange am Wasser.
Bei der Fahrt durch die leeren Straßen dämmert es schon. Das Radio meldet die neuen Arbeitslosenzahlen. Kein Mensch ist arbeitslos. Das ganze Leben ist Arbeit, harte. Wer im Fernsehen drüber redet, weiß: Nichts verkauft sich teurer als Dummheit. Ich gewinne einen Hasen aus dem Automaten. Zuhause: 28 neue Nachrichten. Eine spielt die Internationale. Ich raste. Dann, es ist Zeit, und ich muss in die Schweiz.
Uta, die Gute, fährt mich. Sieht sehr himmelhellblau aus, sagt: „Du stirbst, wenn du so weitermachst.“ Das macht mir viel Angst, bis nach Zürich. Dort beginnt eine andere Welt. Das Deutsch gesungen. Der Weg vom Flughafen direkt in die Kaviar-Bar. Alles schwarz und Marmor. Seid ihr jetzt unsere Helden?
Hitler, untot und überall
Vor kurzem in New York: Ich saß mit einem Fotografen und Clubmanager – überlebende Party-Prominenz der späten Siebziger – im Chelsea Hotel. Er wollte über Berlin sprechen. Im Sommer soll ihn seine erste Reise dorthin führen, „mich, den jüdischen Jungen“. Er hatte gerade Der Untergang gesehen. Und verstanden. Bruno Ganz ist ihm ein herausragender Schauspieler. Bernd Eichinger kennt er nicht. Ich will Hitler als Mensch nicht sehen. Mir reichte Im Toten Winkel, das Interview mit Traudl Junge, auf dem der Film basiert. Auch Speer und Er oder andere Altherren-Themen interessieren mich nicht. Hier ist nicht Amerika, wo die Droge Crystal Meth, das angeblich auch Hitler und Göring angefixt haben soll, als „Hitler Tina“ glamourisiert wird. Auch sieht man hier keine Mädchen wie im East Village, die Rastas auf dem Kopf und Hakenkreuz über den Brüsten tragen, stolz auf ihre Hässlichkeit.
Aber dann passiert so etwas wie letzten Sonntag. Ich eile aus der Wohnung, es sind nur noch wenige Minuten für den Zug zum Flug. Auf dem Alex stehen tausende Polizisten, sollen die Nazis lenken. Aber dem trainierten Sachsen macht es jetzt erst mal Spaß, „Taschenkontrolle“, durch meine Wäsche zu wühlen. Nachdem ich am Tag zuvor den Flug bereits verpasste, reicht es doch noch knapp nach Krakau. Dort weiß-rote Fahnen zum Tag der Befreiung, aber auf dem Marktplatz auch groß im Wind und erster Reihe: die Fahnen der Deutschen Bank. Komisch und schrecklich sieht das aus.
Durch die Stadt gehen alle zu Fuß. Seit dem Mittelalter wurde Krakau nicht mehr zerstört, die Küche steht angenehm unter österreichischem Einfluss. Weg vom schick renovierten Marktplatz, wo englische Jungs im Lacoste-Store kaufen, wird es schnell auch ganz Wien. Dann kommt man durch staubige Straßen. An der Ecke steht ein schwindsüchtiger Speed-Schüler und malt sein Bild an die Wand. Es dauert nicht lange, dann sprechen wir wieder über Hitler.
Kate Moss, irgendwie
Kurz vor Mitte der Nacht. Schon wieder zweimal nicht geschlafen, aber wär’s jetzt nicht auch viel zu schade um die schöne Zeit? Komm, wir fahren raus aus der Stadt. Donnern durch den dunklen Wald, der da steht wie eine Wand. Rechts und links der Autobahn, hier im Süden Berlins. Macht Geschwindigkeit frei? Ja klar, ein bisschen, vom Tag. Mit Julian, meinem Freund und Begleiter der Nacht, ist’s auch zu angenehm. Tauschen hübsche Geschichten über Mädchen und Freunde, und man fragt sich nur: Hat Kate Moss eigentlich wirklich nie einen Fehler gemacht?
Dann durch die Schleuse ins große Schiff, die Dame sagt: „Willkommen im Tropical Island.“ Tatsächlich sieht’s in echt gar nicht so schlimm aus. Warm wie im Bad, das Licht gut gedimmt, es spielen die Töne. Riechst du das Meer? Wo ist die Bambushütte, wo sind die kleinen, harten Hände, die den Schmerz im Nacken wegstreichen? „Wo sind meine Pommes?“, will Julian, der auch ein rasender Romantiker ist, wissen. Hatten beide den ganzen Tag nur Kellogg’s Special K und Red Bull zuckerfrei. Arbeiten an Abgaben. Sitzen jetzt an der Südsee mit Radeberger und Rot-Weiß. Auf der Showbühne macht eine Truppe die Beine lang. Hübsch kommen hier zusammen Trash und Traum. Lachen ja alle über den malaysischen Investor, der unbedingt mehr Millionen versenken will. Aber der träumt schon richtig, sinnig sinnfrei. Danke für den Dschungel.
Hey, große Nichte von Jamie Lee Curtis, wo geht’s nach Thailand? Schaut sie ihre Kollegin an, „Thailand ham wa nich.“ Aber eine blaue Lagune. Liegen im weißen Sand. Fantasieren über Brooke Shields. Tatsächlich ist’s in dieser Nacht ein verlassener Abenteuerspielplatz. Irgendwo verteilen sich keine hundert Leute. Alles und alle sehr entspannt, auch wenn ein paar Badelatschen tragen. Die Security schert sich um nichts. Psychedelisch spielen die Klänge. Kiffen ist okay, Heroin rauchen oder Koffer tauschen würde wahrscheinlich auch niemand stören, Hacienda hier. Das Raumschiff fliegt. Rutschen durch Strobo-Licht ins Wasser, spielen toter Mann. Da hinten raucht Kate Moss, irgendwie. Wann wird’s mal wieder richtig Sommer, auch schon egal.
Später fahren wir zurück in die große, leere Stadt. Der Körper ist noch warm für Stunden. Halb fünf hellt sich der Himmel langsam auf, Azur. Komisch, wie schnell sich die Dinge verändern, ich sing’s noch einmal, sing’s für dich.
Spätzle mit Soße
Es brennt. Ein kleiner Junge mit braunen Locken springt und singt dabei: „Ick will das Feuer sehn, ick will das Feuer sehn.“ Über dem Kaufhof am Alexanderplatz dampft schwarzer Dunst. Die Feuerwehr heult heran. Polizei sperrt ab. Krankenwagen. Passanten stehen schon, essen Eis und fotografieren. Kann es sein, in diesem Land haben zu viele zu viel Langeweile? Gut, dass es da jetzt neben eBay, Gerichtsshow-Mittag und Kaufhausbrand noch einen Zeittöter gibt: Neuwahlen, die Entscheidungsschlacht um Deutschland. „Die oder wir“, so stellen sich das Münte, Gerd und Fischer vor. Könnt ihr aber total vergessen. Hallo, es ist 2005.
Als Helmut Kohl das Land regierte, glaubte ich noch an die Politik. Ich war fest überzeugt, starrsinnig, übergewichtig, geschmackfrei, so kann doch nicht Deutschland sein. Bekanntlich kamen aber mit Schröder nicht die Scotch und Soda-Jahre. Es wurde auch nicht schlechter, einfach egal.
Am traurigsten ist leider die Entwicklung der einzigen Partei, die ich jemals gewählt habe: die der Grünen. Ihr habt alles verraten, was euch und mir wichtig war. Die Trennung von Amt und Mandat – aufgehoben. Das Rotationsprinzip – vergessen. Multikultiland – nicht passiert. Der Atomausstieg – so angelegt, dass er von der nächsten Regierung sowieso kassiert wird.
Das Einzige, was ihr hinbekommen habt: Schwule dürfen jetzt auch Spießer sein – und das Dosenpfand. Jetzt steht ihr da, verlassen und verstoßen von den Genossen, aber ihr seht nicht aus wie eine chinesische Kaiserinnenwitwe. Nein, ihr bemüht euch, auch den letzten Rest an Wert zu reduzieren.
Zum Beispiel Claudia Roth. Sitzt vor zwei Wochen am Samstagabend, das Haar orange gefärbt, bei RTL. Die Sendung heißt Hape trifft…. Roth neben Dirk Bach und Eva Padberg, die mit ihrem Pinscher dabei. Nach einem Einspieler mit David Hasselhoff ist sich Roth nicht zu gut, dessen größten Hit live im Studio zu geben. Singt: „I’ve been looking for freedom“. Spielt die Melodie auf einem Keyboard dazu. Das Publikum klatscht rhythmisch.
Wäre sie ein Tier? Dann: „Elvis, der Glitzerpudel von meiner Mama, der isst so gern Spätzle mit Soße.“ Beim Thema Rio Reiser macht sie eine Armbewegung in den Himmel, meint: „Wo immer er ist, ich glaube, Rio hat heute einen schönen Abend.“ Nein, bestimmt nicht. Müsste er dich sehen, er würde dir die Haare ausreißen. Sag bloß nie wieder jemand W-I-R. Der Kaufhof ist dann doch nicht abgebrannt.
Fahr’n, fahr’n, fahr’n…
Ist nach Mitte der Nacht. Der Fernsehturm am Alexanderplatz knippst sein Licht aus. Ich bin fertig. Der Text jetzt endlich auch. Ein Bier, naja.
Bin ich ehrlich, bin ich zornig. Der Tag hat nicht viel gebracht. Ein voller Ascher. Geld, auch wenn’s noch nicht da ist. Rutsch also runter mit dem Aufzug. Ans Steuer. Immer der großen Straße nach. Hupe an der Humboldt, frisch exmatrikuliert. Auf Wiedersehen, du lahme Institution. Noch mal gehupt am Brandenburger Tor, nach Westen. Anklingeln bei Jake in Kalifornien. Ist auf dem Freeway. Hektik, gerade von einem Vorsprechen zum anderen. Vom Cop zum Clown. Schminkt sich im Auto. Beschwert: „Fahren alle wie Kathleen Turner.“
Aus den Boxen M83, neues Album heißt Before the Dawn Heals Us. Französische Marsmusik, sehr gut jetzt. Die große Straße ist ruhig. Teen Angst. Die Ampeln nerven, endlich die letzte vor der Autobahn. Rauf am Messezentrum, die alte Tribüne der Avus, lauf geradeaus.
Moonchild. Der Mond ein schmaler Schlitz. Über Brandenburg ein blauer Schimmer Hell im Himmel. Bald astronomischer Sommer, dann wird’s nördlich von Stuttgart nimmer ganz dunkel. Blau, Weiß der Schilder, schöne Typografie, einer der wenigen in diesem Land. Can’t Stop.
Draußen auf dem Ring, Losprügeln. Schub in den Sitz. Bei Glindow kleines Rennen mit ‚nem Golf. Genommen. Fahr’n, fahr’n, fahr’n, was bringt’s? Ist das jetzt Schlägerei, Whiskey, Rotlicht? Schön ist’s. Gegen den Zorn.
Es schlägt das Herz. Verbrennt das Geld vom Tag. Heilt, kindisch, rein. Sind ja auch die Babyjahre. Die Optionen: Hamburg, Hannover, die Ostsee. Eineinhalb Stunden nur. M83 macht’s perfekt zu den hohen Fichten an den Seiten. I Guess I’m Floating. Und fahr dann doch wieder zurück.
Über der Stadt rosa Schimmer Hell im Himmel. McDonald’s am Zoo hat offen. Schenkt Bier raus. Zwischen Königs-Tunten, Alkos und schweren Mädchen. Albaner verschicken ihr Zeugs. So ‚ne andere Welt, die Nacht, die Stadt, das Land.
Rufe dann Valtin an. Sitzen bald in seiner weißen Wohnung, Alexanderplatz, Südseite. Sieht aus wie ein Zerstörter für Marc Jacobs, der Junge.
Rauchen ein bisschen, schnell wieder munter. Hat mit ‚ner schicken Frau geschlafen, die wollt‘ er schon lang. Flattert jetzt. „Is doch prima!“ – „Nee, wird wehtun.“ – „Quatsch.“ Dann malen wir Tiere an seine Fenster. Von rechts wird’s schon hell.
Eine Rede halten können
„Wo ist meine ausnutzende Traumfrau nur?“, fragt Valtin und ahnt die Tragödie schon. Also: „Schlafen oder Raven, was meinst du?“ – „Kuscheln mit der Decke natürlich! Sind wir Kinder?“
Wär‘ da nicht vor der nächsten Nacht ein neuer Tag noch. Dann fahren wir zum Neuen Deutschland. Gefroren in der Zeit sieht’s aus, da hinter dem Berliner Ostbahnhof. Lang nicht mehr gestrichen, wo früher die Zeitung für die DDR gemacht wurde.
Jetzt verkaufen Aldi und ein Möbelhaus ihren Kram, steht auch eine Taxi-Girlande. Typen in Tank-Tops und Thai-Transen laufen den Weg. Ganz nach hinten. Schlange vor der Tür. Oben drückt es rot aus den Fenstern. Bass bombt sein Baller. „Nur Verkaufte glauben, gute Regie ist besser als Treue“, spricht Valtin.
Als er mit der Liebe ging, hat sie gleich den Nächsten abgefingert, die Schlange.
„Wehmutsknorpel mit Hassfett“, zischt er, will kein Korrumpierter sein. Wann kommst du nur, Erlöser? Egal, bitte bald. Rein dann ins Berghain, bester Club der Welt. Die Halle hoch, zwanzig Meter. Dicker Beton, alte Stromfabrik. Steigen nach oben, wo der Spielplatz hängt, schwitzt schon.
„Wird mein Leben als Homosexueller besser?“
„Bestimmt, Valtin, bestimmt.“
Vorher schreibt er ihr ein Gedicht. Jetzt sofort. Hier an der Bar. Raucht Menthol dazu. Bekommen Wodka-Bass.
Ganz Deutschland ist hier, Tausende jedes Wochenende. Götzen statt Gucci. Warhols unfertige Sinfonie und die Nacht. Hormon-Theorie. Spucke an den Fingern.
„Ich hätte einen Vater haben können, in der Schweiz studieren, eine Rede halten können … jetzt reite ich ein Pferd“, sagt der. Und der: „Die Welt ist so weltlich, Hoffnung gibt nur die Erweiterung unserer inneren Welt“.
Dunkel hier unter den Treppen. Große unter Gasmasken. Riecht nach Milch und Brombeeren.
Dann in der Panorama-Bar. Draußen wird’s hell. Die Wolken zieh’n schnell. S-Bahn fährt. Geht’s so weiter, weiß man nicht, ob drinnen oder draußen vor oder nach dem Angriff ist. Press die Handgelenke zusammen.
Später am Morgen, Alexanderplatz. Eine Rentnerin schiebt einen Einkaufswagen mit Bier vor sich her.
Vor meiner Tür. Stehen. Schwitzen gleich. Schimpfen jetzt, Fluchen, nein eigentlich eher: Das darf doch nicht wahr sein! Kleiner Schlüssel dreht rum und rum und… Der Zylinder durch, ruiniert. Ruhe, rauchen im Treppenhaus. Wen ruft man an? Niemand, natürlich. Trete dann meine Tür ein. Laut, Hall. Auf ist sie. Hinsinken. In der Glotze die Nazis.
Es wird ein klarer Morgen.
Vom Hoffen
Nach Mitternacht sitzt bei Sonnenklar TV ein Medium. Weiblich, Mittelalter, blondierte Haare, ein Leopardenblazer, am Laptop. 0,49 Cent pro Anruf. Die Frau hat einen Sendung, Sterne der Wahrheit heißt die.
„Kommen Sie, wählen Sie sich ein. Und bitte, bitte auch während der laufenden Beratung. Guten Morgen, wer ist in der Leitung? - Hallo, hier ist die Rita. Es geht um meinen Sohn. - Ja gerne, um wie viel Uhr ist er denn geboren? - 5:30 Uhr früh, am 20. Mai 1960, in Cottbus. - (Medium tippt an ihrem Computer) Und die Frage? - Er hat Probleme mit dem Nachbarn und da wollt ich mal fragen, wie das ausgeht? - Also Rita, die Sterne meinen, dieser Streit wird ihn noch ein ganzes Stück begleiten, aber es wird nicht eskalieren. Man beneidet ihn. - Ja, weil der sacht, eventuell wollt‘ er ihn verklagen. - Ich denke dazu kommt es nicht, vielleicht ein Anwalt. - Zum Anwalt ist er ja schon gegangen, der Nachbar. - Gut, aber es wird sich dabei beruhigen. - Nu‘ gut, wird sich beruhigen. - Gute Nacht, gute Zeit (trinkt Wasser aus Glas). Sie wählen sich bitte wieder ein. Ich bin Ruth Bauer-Wolf, ihre zukunftsorientierte Astrologin. Sie können sich auch gerne in meiner Praxis in Karlsruhe beraten lassen. (0 13 79) 22 00 22. Mein nächster Anrufer ist da. Guten Morgen. - Hier ist Annemarie. Ich habe eine Frage für meinen Sohn. Das Datum ist 13.10.64, 5:30 Uhr, in München. - Ja, und die Frage? - Es geht um geschäftlich, finanzielle Sachen. Computer macht er. - Ist er denn schon selbstständig. - Ja, ja. - Die Gestirne sagen, dass er ab Herbst sehr schöne Möglichkeiten hat. Seinen Finanzen werden ziemlich gut fließen. - Also die Lage würde sich bessern? - Ja, auf jeden Fall. - Ach, das wär‘ schön, Gott sei dank. - Alles Gute. Ja, die Nacht, die ist noch lang. Der heutige Freitag hat es noch in sich. Ich hab’s vorher schon erzählt, am besten stellt man die Öhrchen auf Durchzug, hört gar nicht so genau hin. Vor allem sollten Sie doch immer ein bisschen standhaft Ihre Meinung vertreten. Wenn Ihnen alles zu viel wird, dann machen sie doch eine kleine Pause. Und wenn der Tag dann doch nicht so gut gelaufen ist, kommen sie heute Abend wieder. Um 23 Uhr sind wir wieder für Sie da und Sie können sich entspannen. Guten Morgen. Mit wem spreche ich denn?“
Vom Vertrauen
Triptychon, linkes Bild: Gestern am frühen Morgen, als nur McDonald’s offen hatte. Zwei Schlakse tigern extrem
aufgedreht von einem Fuß zum nächsten. Kommen von einer Abschlussfeier. Haben extrem viel Glitter im Gesicht. „Hatten das gleiche Girl“, grinsen. Der Schwarze an der Kasse packt Cheeseburger ein. Debattieren die Dinger. „Die waren wie Jesus.“ „Alter, und Erdbeerkuchen.“ „Und Maria.“ Geteilt, klatschen sich die Hände. „Nichts über die Freundschaft.“ Halten wieder ihre Hosen. Singt Justin: „I’m lovin‘ it“.
Rechtes Bild: Mittags am Strand. Beschmusen sich zwei unter einem Ahornbaum. Er schmal, sie dick, beide nicht
erwachsen. Fährt ein Dampfer vorbei. Glitzert die Sonne das Wasser sauber. Mischen sich die Stimmen. Schreit das Mädchen auf einmal: „Du Arsch!“ Springt sie auf. „Du Schwein!“ Stößt ihre Liebe weg. „Du Verräter!“ Knallt ihre Hand in sein Gesicht. „Du Drecksau!“ Liegt seine Brille am Boden. „Fertig bin ich mit dir!“ Hebt sie ihre Tasche auf, geht weg. Schreit der Junge: „Gafft nicht so!“ Drückt die Schläfen zwischen die Knie.
Mitte-Bild: Steht Schröder am grauen Pult im Parlament. Die Idee mit den Neuwahlen war schlechter Schnaps. Merkt der kleine Mann jetzt auch, King-Kong-Chaos angerichtet. Ruiniert nicht nur ihn und seine Partei, macht auch aus dem Bundestag einen Butterkuchen. Könnte jetzt auch denken, lohnt es sich wirklich, das letzte bisschen Gewissheit aus Bonn-Zeiten aufs Spiel zu setzen, nur weil, ja weil halt. Muss man dafür wirklich im neuen Berlin am Reichstag zündeln? Reicht ihm die Kraft noch für einen letzten rasanten Meinungswechsel. Kündigt in seiner Rede ein Weltraumprogramm an, kämpft, gewinnt und regiert bis nächsten Herbst. Würde uns den Andachtsring eines verdorbenen Sommers mit Guido, Lafontaine und Claudia Roth ersparen. In der Politik, egal ob er oder Frau Merkel, ändert das sowieso keine Monstranz. Oder doch ein ehrlicher Rücktritt und zum Schluss ein großes Konzert vor dem Kanzleramt. Kylie Minogue singt, Schwester in Style Doris Schröder-Köpf moderiert.
Das Tragische nur, die Strategie aus Schrobenhausen geht ihren eigenen Weg. All das Getue um die Abstimmung,
Münteferings Einladung, das Dies und Das und so, ist eine Kriegserklärung an die Sicherheit: Nie wieder Chaos-Deutschland. Kein denkender Abgeordneter kann heute dem Wirrkopf Schröder sein Vertrauen aussprechen. Nach heute gibt es kein Vertrauen mehr.
Von Gut bis Böse
Es regnet ohne Richtung, Flughafen Edinburgh. Auf dem Rollfeld steht ein Supermodel im Wind. Claudia Schiffer lächelt, küsst Campino, dann Barbara Becker, Senait Mehari, Anna Thalbach und ein paar andere Passagiere, die mit einer Sondermaschine zum Finale des „Long Walk to Justice“ nach Schottland gereist sind. Was die größte Völkerwanderung der Moderne werden sollte, endet hier als Pressereise. In den Tagesthemen am Abend sieht man Campino aus dem Privatflugzeug des österreichischen Milliardärs und Red Bull-Erfinders Dietrich Mateschitz steigen, am Arm einer blonden Stewardess die Gangway herunter. Später wird er sich Sorgen machen, dass er dabei ausgesehen haben könnte wie ein Idiot.
Claudia Schiffer sagt: „Die Arbeitsbedingungen sind mir scheißegal. Wir sind hier für eine gute Sache.“ Jeden Tag 30 000 Kinder, die sterben, in Afrika. Alle drei Sekunden eins, schnipp und tot. Daran kommt man in diesen Tagen nicht vorbei. Prominente vom Format eines Gottschalk oder Schuhmacher offenbar schon, und so müssen auch Dr. Motte, Elton und Henning Wehland (das ist der sehr nette Frontmann der Band H-Blockx) den Ruf Deutschlands retten. Im Stadion von Murrayfield beginnt das Abschlusskonzert vor 50 000 Köpfen. Die Musik ist fein, The Thrills, Travis, James Brown und Robbie Williams bestes Stück Guy Chambers am Klavier. Susan Sarandon ist auf der Bühne und auch George Clooney, sehr betrunken. Nelson Mandela verspricht wieder die „Generation Great“. Claudia und Grönemeyer sagen: „Dear Gerhard, wir ermutigen dich.“ Als es dunkel ist, fordert Bob Geldof ein Ende mit „der Pornografie der Armut“. Bono schreit: „Morgen wird Geschichte gemacht.“ So richtig und ehrenhaft das Anliegen, so gespenstisch ist die Ästhetik.
Am nächsten Morgen, zurück in Deutschland. Ihr fiesen Schweine habt es wieder getan. Und wir müssen jetzt Otto Schily ertragen, der auf allen Kanälen erzählt, dass er „mehrfach“ mit dem britischen Innenminister telefoniert hat. Wahr ist leider auch: Freunde in London, denen Blut ins Gesicht spritzt, berühren mich heute mehr als die 30 000 toten Kinder von Afrika. Ein Gefühl, das weh tut. Auch, weil es dafür Rache geben wird. Nur eine Frage der Zeit, bis Bomben auf Teheran fallen.
Palais Ahnungslos
Tun, verrichten, hantieren, so war die Woche. Ruiniert von den späten Zeiten am Rand des Schlafs. Dann ist es fertig, sehr allein zu Haus. Draußen schwitzt, glänzt die Stadt. Rausgehen scheitert aber auch. Auf MTV Pop läuft November Rain. Heule im Hausflur. Verschleudert. „Du brauchst Urlaub“, sagt mein Freund Valtin vom fernen Strand. „Danke, danke, mein Mahatma.“ Mach ich sofort.
An der Ecke Rosenthaler/Münz schneit es. Dicke weiße Pollen-Flocken schweben. Mit kommt Dominic, ein Radikaler mit hübschem Zahn aus Gold. Hat weiße Vogue-Gläser über die Augen, geschützt. Packt den Kofferraum mit La-Le-Lu-Synthetik-Musik. Meint draußen im Rasen: „Nichts würd‘ ich vermissen, außer der Autobahn.“
Es ist schon nach Mittag, die Sonne macht auf Bruder. Wir fahren nach Polen. An der Grenze rastert die Frau unsere Pässe, lang, aber was soll’n die schon haben. „Gute Fahrt.“
In Slubice Geranien am Fenster. Ein Viertel Stadt, für alle Wünsche. Die Menschen religiös geschminkt, schauen.
Mittendrin Aral, deutsche Kennzeichen. Frauen laden NVA-Kanister voll Benzin auf den Rücksitze, fahren Opel Sport. Drei Stangen Zigaretten, so teuer wie eine in Berlin. Die Frau hinter der Kasse hört Oasis.
Über der Straße Intermarché. Stehen noch keine zehn Sekunden, da ist der Typ da. Schwitzt stark, dicklich, alt. Greift nach der Hand, brabbelt, auch das Wort Euro. Will der das Auto bewachen? Sofort kommt man auf Gedanken, nach all den Witzen. Drinnen der Supermarkt leider kein Tempel französischen Geschmacks. Günstig sind Wodka, Red Bull ohne Zucker und Marzipan. Die Erdbeeren matschen schon. Draußen wieder der Typ. Drückt sich so ran, brabbelt, auch das Wort Hero.
Trinken Bier auf dem Deich. Rauchen. Beobachten, wie die Farben blühen. Auge in Auge. Der Himmel gehaucht.
Plattenbau in der Ferne. Vorn Wacholder-Delta, breit. „Ja, die Väter.“ Aufschrei der Frösche. „Und die Mütter.“ Steht einer im Schliff und wartet. Was eigentlich Janosch so macht? Hinten spielen Mädchen gegen Jungs Fußball. Ein Palais Ahnungslos Aufrichtig im großen Palast Entrückt. „Bisschen Sartre und Versace tun’s nicht.“ Einen Schnaps jetzt noch.
Wieder drüben über der Oder in Frankfurt ist keiner zum Schauen. Ritsch, ratsch zurück. Heil war’s. MTV Pop spielt Snoop und Justin. Zeichen? Langsam fallen die Augen.
Ihr habt alle zu viel Zeit
So sollte meine Woche beginnen: einen Gipfel machen. Ich war in der „Stuttgarter Region“, wie alle Schwaben so schauerlich sagen, und dachte, früh am Morgen los, nach Oberstdorf. Dort den Weg hochrennen, Kühe, Puls, Sonne. Matt unterm Kreuz sitzen, in die Wunder der Ferne schauen. An der Hütte ein großes Bier und Jausenbrot. Ein Tag der Gesundheit und Weitsicht. Mein Partner hatte dann Befürchtungen wegen des Unwetters, das tatsächlich am Nachmittag gewaltig losdonnerte, und so lag ich auf dem Bett und telefonierte.
Mein Freund Valtin in Berlin war traurig, weil das Fernsehen zeigt, wie Enten ertrinken. „Alles ist so viel Mühe, manchmal könnte man einfach aufhören damit.“ Ich erzählte ihm vom nicht gestürmten Gipfel und das brachte ihn auf andere Gedanken. Ein paar gut größenwahnsinnige Architekten bauen in den Palast der Republik ein Matterhorn, 44 Meter hoch, über die Decke hinaus. „In Mitte very irony“, meinte Valtin, weil ja sowieso so viele jede Nacht steigen, aufs Matterhorn. Bis dann, wirf einen Schatten in meine Richtung.
Zurück in Berlin, es regnet die ganze Zeit. Im Radio läuft Ich war noch niemals auf Hawaii. Sofort muss ich an Frau Merkel denken. Auf der Internetseite des Bundespräsidialamtes nennt Frau Köhler ihre Hobbys: Wandern und Chorsingen. Ihr Mann hat sich entschieden, auf Angela wartet eine Palme. Unsere Kanzlerin, ein Blumenmädchen am Strand, schrecklicher als Paddeln im Wolfgangsee oder dicke Hose an der Amalfi-Küste wird es nicht. Vielleicht fährt Angela auch nach Angola. Ich höre lieber Adolf Noise.
Das Lokal Dante unter dem S-Bahnhof Hackescher Markt hat seine Bar angeschickt. Weiße Lackfolie, Polsterbarhocker, rosa Deko. Sieht aus wie in South Beach, Florida. Reine Koks-Ästhetik, nicht Scarface, natürlich, aber für Miami Vice reicht es. Alle sind extrem blondiert, extrem gebräunt in weißen engen Kleidern und spielen Hefner-Party.
Wie schön wär’s, käme jetzt Gunter Gabriel aus dem Dunkel des angrenzenden Parkplatzes, würde eine Heckler in den Himmel abfeuern und schreien: „Ihr habt alle zu viel Zeit.“ Aber da drücken sich nur Gestalten mit Stabtaschenlampen durchs Dunkel. Und kontrollieren die Parkscheine. So ist Deutschland.
Das ewige Fest
Durch die Straßen Berlins fahren keine Geldtransporter. Vorm Haus steht ein Totenwagen. Zieht jetzt eine oder einer aus. Immerhin Mercedes.
Ausnahmsweise ist der Spiegel diese Woche ein tolles Magazin, er kennt den Weg aus der Krise. Wie die Arbeitslosigkeit weggeht, weiß er zwar nicht (nur dass es gehen muss, warum eigentlich?). Dafür aber, weiter hinten: Wie das Altern weggeht, die „Abschaffung des Sterbens“. Genauer gesagt, weiß das ein englischer Mann mit New-Age-Bart, 42, Cambridge-Professor, früher Informatiker, jetzt Biotheoretiker. Er sagt, Altern sei wie Lepra, es töte und er wolle es heilen wie Akne. Bald schon, in zehn Jahren beginnend, mit Gentherapie und Austausch der Stammzellen. Das ewige Leben, wie viel würde man dafür hergeben, sein Lachen? Tatsächlich denke ich, 24, das Leben rast, zu schnell, zu knapp, will man mehr als Beruf finden, Familie gründen, Haus bauen, vorbei. Ich würde gerne durch alle Länder reisen, schreiben, Filme drehen, malen, mal Prinz, mal Penner sein. Aber physisch gesund ewig leben, wo doch das psychisch immer kränker wird? Ich würde lieber die Hälfte meiner Lebensjahre gegen eine 100-Gramm-Tafel Glück tauschen.
Also an diesem Abend das schon Angeprobte: raus in die Nacht, das ewige Ausgehen, versucht mit buddhistischer Haltung. Essen bei Spindler am großen Tisch, große Gesellschaft, (fast) alle haben einen einfachen Geschmack, wie Oscar Wilde: Immer nur das Beste. Nett, das Mädchen mit dem Rasta bekommt ein Stevie Wonder. Der Rest schwimmt schnell zum blinden Fleck. Es geschieht dann plötzlich, tauscht sich alles ein. Was ist schon falsch, ein Brett mit der Hand durchzuschlagen und sich stark zu fühlen? Durch die Nase ins Gehirn.
In der alten Zigarettenfabrik feiert ein neues Magazin seinen Anfang. Sind dem Himmel näher auf dem Dach, mit Dominic und Tenzing. Spielen mit, spreng Meister Sehnsucht. Glühen wir. All sisters of mercy. Moses aus Cali, wohnt jetzt hier, nur ein bisschen schwul. Sie, auf XTC-Diät, zündet sich die Zigarette am Filter an. Und die und der und alle. Fertige Freaks, Brüder, Schwestern, gibt ja schlechtere Unterhaltung. Fahr weiter mit Tenzing, in die 25. Vielleicht werden wir Freunde, viel für eine Nacht und später das Beste an ihr. Genug ist es nicht.
Wenig später stehe ich in Frankfurt, glücklicherweise Flughafen. Letzter Aufruf nach Bangkok. Auf Wiedersehen, Deutschland.
Schönheit der Abgase
Nie scheint die Sonne, immer aber ist es warm in Bangkok. Morgendämmer, steh in Unterhosen von Sloggi auf dem Balkon, 28. Stock Boss-Tower. So sieht’s aus: Weiter Wucher, erster Stau auf der über Wellblechhütten gebauten Schnellstraße. Im Nebel die Gerippe unsymmetrisch abgestellter Hochhäuser. Lieb getrunken, tanz einen Schritt zu Prince.
Angenehmst ist hier die Ferne und: Der Ort zerstört den Zombie Zeit. Die, den Körper zerstören wollte, ist bedeutungslos. Wach, wenn’s geht, zu allen Zeiten. Kaum draußen, die ganze Woche. Kann sich alles liefern lassen. Gelesen, geschrieben, nachgedacht und gebetet. Alles ist schrecklich gesund, der Reis, Diät-Coke, weniger als eine Kalorie. Get Skintight, singen die Donnas.
Dann wird das Internet geliefert, und Deutschland schleicht sich rein. Verzweifelt im Sommerloch die Nachrichten, aber ist es nicht immer so?
Auf CNN schnippelt ein Astronaut mit Fugenkleber zwischen den schwarzen Kacheln rum. Trotzig wehrt sich die Zeit im Jetzt gegen den Fortschritt.
Dann bin ich zum ersten Mal draußen, also weiter wie Au Bon Pain im Esso-Tower gegenüber. Gezogen von der Dunkelheit meine Straße Rama IV runter, bis die sich mit Ratchadaphisek kreuzt. Steh auf der Fussgängerbrücke oben, schau auf die Fahrbahnen, die Autos rasen über zwanzig Spuren. Das Atmen ist schwer, Schönheit der Abgase. Weiter, wo’s dichter wird, sieht man den Himmel nicht mehr. Straßen auf drei Ebenen, darüber die Betonröhre des Sky Trains, darüber Häuser in den Himmel. „N.Y. Style“, wirbt die Wand. Im California Fitness rennen die Menschen gegen Maschinen. Bangkok ist die Kapitale des Cyberpunk.
Spiele hinter der philippinischen Botschaft mit Hunden, dann renne vor ihnen. Ein Taxi sucht den Weg zurück zu meinem Turm. Im Netz: Die tote Kinder von Frankfurt Oder. Im Bertelsmann-Palast zu Berlin feiern sie derweil eine Sperma-Party. Es ist schön, so außerhalb der Zeit zu sein.
Kampf. Sex. Geld.
Fuck the poor, brüllt es in mein Ohr, geshuffelt, vom britischen Künstler Selfish Cunt. Über Bangkok brettert gerade ein Regensturm, und das sieht so aus wie in einem Schweizer Bergdorf im Dezember, ganz angenehm also. Doch keine Zeit für weitere Naturbetrachtungen, verabredet mit Alexis, meinem sehr guten Freund, der mir seit dieser Woche Gesellschaft leistet.
Im großen Regen unten auf der Straße, schon angenässt, dann Glück. Es hält ein Taxi mit dem „I love Farang“-Aufkleber. (Farang ist das Thai-Wort für alle Westler). Der Fahrer sagt: „Hello Mister, where are you going today?“ Er hat Locken und seinen Wagen mit Schwarzlicht, leuchtenden Sternen, wippenden Plastikfiguren und verschiedenen Soundeffekten aufgerüstet. Gibt er Gas, klingt das wie der Soundtrack zum Fünften Element. Macht sehr gute Laune, auch weil der Typ gekonnt Lücken dicht fährt.
Doch dann geht es los. Mit der im Fernen so typischen Reduzierung der Welt aufs Wesentliche. Nach hinten gereicht wird eine abgegriffene Karte mit leicht bekleideten Mädchen. „You like fuck?“ Es beginnt eine anstrengende Verkaufsshow. Immer neue Karten, jetzt auch Jungen, Großmütter, Hunde sowie die langweilige Verkehrsministerdroge Viagra sind im Angebot. Der Mann kennt seine Kundschaft und versteht meine Ignoranz nicht. Erhöhe die Lautstärke, Selfish Cunt schreit: Coming of the White Man. Und ich schäme mich für die weißen Männer, die das Land des Lächelns mit ihrem Samen vergiften.
Vor dem Lumphini Boxing Stadium, bröselige Betonfassade, schäbige Gegend, steht schon Alexis, strahlend, in weißem Poloshirt, wie immer Kette rauchend. Drinnen, wir auf Holzränge im Schummerlicht um den grell beleuchteten Ring herum. Von der niedrigen Wellblechdecke hängen Ventilatoren, Wasser tropft. Zwischen Thai-Männern, Frauen sind kaum geduldet. Viele haben einen lang gepflegten Fingernagel mit dem sie sich Ampethamin unter die Nase halten, Nackentätowierungen.
Im Ring prügeln zwei extrem minderjährig aussehende Jungen aufeinander ein. Knie hoch, Ellenbogen. Pinkes Höschen gegen Blau. Blau knockt Pink aus. Blut spritzt. Schreie. Musik die nach Dudelsack klingt. Geldscheine wechseln ihren Besitzer. Ich denke, Menschen sind Monster, und habe das sehr starke Bedürfnis, eine Maske zu tragen.
Gehen schnell zurück in den Bosstower, trinken Whiskey, viel. Schreibe einen Text. Alexis baut ein Haus. Und gesunder Morgen.
Insel der Idioten
Alles beginnt, als mein Begleiter Alexis strahlend ins Zimmer stürzt: „Abflug zum Crystal Beach, morgen Früh, hab uns Flüge gebucht.“ Meine Einwände räumt er mit Euphorie auf: Das Meer! Die Wellen! Das Licht!
Wir gehen am Morgen also nicht schlafen, sondern fahren zum Flughafen. In der 717 der Bangkok Air sitzt der Westen in Flip-Flops. Mieten ein Auto, fahren über Schlaglochstraßen und checken am stillen Coral Crove Cliff ein. Alles sehr idyllisch, das Meer, die Wellen, das Licht.
Dann merke ich, wo wir sind: auf einer Insel, auf die 1971 der erste Tourist kam, die seit The Beach weltberühmt ist. Verfahren uns am Abend in Chaweng, dem größten Ort der Insel. Hören mein aktuelles Marc-Bolan-Lieblingsalbum You Scare Me To Death. Mit dem verspiegelten Scheiben-Suzuki-Jeep in eine Seitenstraße, alle Neonfarben blinken. Ein deutlich unter 14-jähriges Mädchen mit weit aufgeblühten Pupillen versperrt den Weg, tanzt ihren Slip nach unten. Springt zur Seite, greift durch das offene Fenster in mein Gesicht, schnapp meine Basecap, gibt es auf Anweisung des so dastehenden Polizist zurück. Willkommen im Ghetto der westlichen Sehnsucht, Heimat Hölle.
Halten eine Straße weiter, Rauchen, trinken ein Bier gegen den Schreck. Steigen aus zwischen Ständen voll Trash: Nike, Rolex, Louis Vuitton, DVDs, Chagall-Bilder, alles raubkopiert.
Adolf Hitler hängt eine Ecke weiter, als Gummimaske. Neben Dr. Helmut Kohl. Deutschlands berühmteste Köpfe kosten 250 Bath, ungefähr fünf Euro.
Kaufe dann doch ein Drachen-Schwert. Auf der Insel der Idioten musst du dich schützen.
Kraft der Krankheit
Vorgestern denke ich übers Sterben nach. Es ist früh am Morgen, die Sterne stehen noch stark im Dunklen. Sitz zwischen ein paar Anderen in der 25 am Strand der Spree. Alle zittern und zeigen eine Ecke Seele, aber es ist egal.
Ich bin keine 40 Stunden zurück in Berlin und schon wieder rasant ratlos zwischen all den gelösten Aggregaten meiner Schuld, oder Unschuld. Das bisschen Thai-Glück ist tapeziert. Und jetzt, was machen wir? Sich ein Ekzem kratzen, zum vierhundertsten Mal auf Toilette oder in den Schlaf schubsen? Würde gern meinen Berater Valtin anrufen, aber es geht nicht. So denke ich an Erlöser Ende und wie wenig es mir ausmachen würde, nämlich nichts.
Lalala, aus der Hütte spielt die Musik, Judy Garland oder einfach ein anderer Elektro-Bass. Jemand erzählt was vom Gefängnis, lacht. Es geht um seinen Vater und dessen Republikflucht. Jan baut einen Joint. Denke dann an die zwei, drei echt Traurigen und es kümmert mich.
Sitz dann am nächsten Morgen im nächsten Flucht-Flieger, die Stimmung gedreht. Blättere durch die Zeitungen und lese über den Piano-Mann. Der sich im Eurostar nach Großbritannien treiben ließ, um im Wasser zu treiben. Der in eine Klinik kam und statt zu sprechen malte. Der nicht tat, was er nicht wollte. Obwohl die Öffentlichkeit gierig an seiner Identität rätselte.
Jetzt hat er das Sommer-Thema einfach wieder weggenommen. Gesagt, dass er 20 ist, aus Waldmünchen, Oberpfalz, sein Vater einen Bauernhof hat. Sein halbes Gesicht ist in die Zeitung gedruckt. Ich bewundere die Entschlossenheit des Piano-Manns zum Fuck-off ohne ein schmutziges Wort. Aus der Ratlosigkeit ein Rebell, das ist toll. Beweist mal so eben: Dass die Besten jung sterben, ist eine Legende. Krankheit gibt Kraft.
Und ich? Bin in einem fernen Land, in dem es Scheiße staubt. Heilung Hölle. Vielleicht klappt’s ja. Bestimmt, morgen weiter, g’scheiter.
Vom Auftauchen
Am Abend werden alle Kinder. Die letzte Lufthansa von Köln nach Berlin: Es gibt noch Männer und auch einige Frauen, die Geschäfte machen. Schwarze Anzüge, bunt glänzende Krawatten, identische Laptoptaschen. Zackige Griffe verstauen Handgepäck, starres Grinsen. Zwischen all denen fühle ich mich sehr angeschwitzt und verstaubt aus dem usbekischen Irgendwo. Wir heben ab, und am Horizont leuchtet der letzte Streifen Abendrot über dem Land im Schatten.
Neben mir ein Mann im weißen Jil-Sander-Anzug, liest lachend ein Satiremagazin, und eine Frau, bei deren Anblick mir der Name Gerda Hasselfeldt einfällt. Auf was das Gehirn alles so kommt. Landen wir dann schon und ich bin bald zu Hause.
Die Wohnung ist verdammt leer, rufe Dominic an, aber er hört nicht zu, hat den ganzen Tag an schweren Maschinen geschichtet. Alexis ist verschollen. Und Valtin sagt: „Glück ist so langweilig.“ Da merke ich den Effekt der Ferne. Wäre jetzt gerne wieder in Kabul, bei einem Tee unter der Spiegeldecke im Mustafa-Hotel.
Bestelle eine Pizza, die nie geliefert wird. Schaue CNN und lese die Nachrichten. Sehe Bilder aus New Orleans und schäme mich für Jürgen Trittin. Was der in der Frankfurter Rundschau geschrieben hat, ist peinliche Wahlkampfwerbung und klingt, als würde er Eltern, die um ihren verunglückten Sohn trauern, am Grab auf die Gefahr von Motorrädern hinweisen.
Fahre runter und kaufe Dosenbier bei dem tollen Türken, der sich konsequent dem Dosenpfand verweigert. Rufe dann noch mal Valtin an. Er gibt schnell zu: „Die Stadt vergiftet mich“, und wir wetten um eine Flasche Jimmy B., ob Angela Merkel am Sonntag zu Gerhard Schröder sagt: „Ich werde mir von Putin jedenfalls kein Kind schenken lassen.“
Steh dann irgendwann vorm Spiegel und überlege, was mit dem Bart in meinem Gesicht werden soll.
Am Ende des Sommers
Erinnerung an eine Woche:
Samstag – Muss einen langen Text schreiben, geht aber noch nicht. Kurzer Autor-und-Alkohol-Versuch. Sitze dann vorm Haus in der Sonne, hektisch rauchend. Springen zwei Jungs in kurzen Hosen über den Platz, schreien: „Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen.“ Ein Mädchen, das Chanel tragen könnte, steht da und klatscht.
Sonntag – Ja, ich hab es auch geschaut, das Merkel-Schröder Gespräch. „TV-Duell“, schon als Wort ein herrischer Mogel. Langweilig war’s natürlich auch. Schröder am Schluss ist wie Kohl am Schluss. Und Ronald Reagan zitierende Kandidatinnen begeistern mich absolut nicht. Auch wenn einige schon von der kulturellen Blüte träumen, die in diesem Land aufgehen soll, wenn die Konservativen an der Macht sind. Ihr wünscht euch Restauration, um kreativer zu sein, also bitte, das ist doch peinlich.
Montag – Im Radio spielen sie I don’t like Mondays und ich denke, wie wenig das mit meinem Leben zu tun hat.
Dienstag – Valtin ruft an, meint sich zu fühlen wie Humphrey Bogart und fragt: „Was hältst du davon, wir fahren nach Fontainebleau?“ Das klingt sehr gut, sage ich. Nur ist der Text noch überhaupt nicht fertig geschrieben, aber das will ich nicht sagen und frage nach der Dame. „Keine Schmerzen, nur Schwäche.“ „Sie hat doch sowieso zu große Brüste“, tröste ich. Er ist ein bisschen irre vor Liebe.
Mittwoch – Sitze und trinke mit Adriano. Der ist angerührt vom „Katrina“-Sturm und möchte ein Kind adoptieren. Oder besser zwei, weil er sich mit seinem in New York lebenden Mann nicht einigen kann, ob Junge oder Mädchen. Gehen dann auf die Straße, und an der Ecke neben der Polizei liegt ein Baby im Hauseingang, Augen weit aufgerissen, in eine Decke gehüllt. Adriano will schon anfangen zu stillen, ist aber nur eine Plastikpuppe in der Dämmerung. Schauen dann Fußball. Ich bin stolz, weil ich schon fast ein ganzes Spiel schaffe. Leider bin ich zwischen der 47. und 50. Minute auf Toilette, und dann kann man ja auch nach Hause gehen.
Donnerstag – An der Tür klingelt es. Lauter, dauernd jetzt. Balanciere aus dem Bett und merke im Flur, es ist kurz nach sieben, am Morgen. „Hallo, sind Sie da?“. Schaue durch den Spion. Typ im Blaumann. „Ich bin nicht zu Hause.“ „Wir wollen den Luftfilter reinigen.“ Herr des Himmels, womit hab ich das verdient? Drehe The Others sehr laut. Schreibe mit dem liegengebliebenen Lippenstift „Fuck off“ gegen das Fenster. Und es geht mir besser. Jetzt muss ich nur noch den Text fertig schreiben.
Ein blühendes Blümchen
Ich mache mir Sorgen um Angela Merkel. Und weiß zwei Tage vor der Wahl immer noch nicht, wen ich wähle werde. Dabei wird das Ergebnis auf mein Leben gar keinen Einfluss haben.
Bis vor zwei Wochen war es einfach: Fällt ihr nicht noch ein Ziegelstein auf den Kopf, wird Angela Merkel die nächste Kanzlerin. Rot-Grün wollte sympathischerweise nie so lang regieren wie Kohl. Die Frau aus Ostdeutschland an der Macht, das wäre eine spannende Geschichte. Wird sie im Amt eine Hillary Clinton? Auch mag ich an Angela Merkel, dass sie sich von den Kameras wegdreht, wenn sie ein Würstchen isst.
Ihr sicher geglaubter Wahlsieg schien mir ein guter Grund, noch einmal Rot-Grün zu wählen. Wegen der unsympathischen Menschen von der Jungen Union. Dann kam das TV-Duell, die Umfragen, die CDU-Ministerpräsidenten. Mein Freund Valtin sagt: „Merkel ist gefährlich, eine Sphinx“, ein trojanisches Pferd: Ist die CDU erst an der Macht, kommt bald der deutsche Durchschnittsmensch Christian Wulff (unterstützt von der ästhetischen Beleidigung Roland Koch und dem Günther „Ich singe gerne die erste Strophe des Deutschlandlieds in Tübinger Burschenschaften“ Oettinger) und mordet die verhasste Merkel. Ich möchte nicht, dass diese Menschen Deutschland repräsentieren.
Gestern saß ich da mit meiner überhaupt nicht schüchternen Freundin Viola, und sie sagte: „Stell dir mal Merkel bei Bush und Blair vor.“ Ja und?, meinte ich, das wird schon. Aber Viola meinte: „Ist dir nie aufgefallen, Frauen werden beim Diskutieren in großer Runde nach einer Weile immer stiller und dann übernehmen die Männer das Wort.“ Ist das der Grund, warum Frauen so viel mehr Vorbehalte gegen Merkel haben als Männer? Ist das ein Grund, Merkel zu wählen?
Vielleicht male ich am Sonntag einfach eine Blume auf den Wahlzettel. Blühende Landschaften fangen ja im Kleinen an.
Kommt jetzt Krieg?
Es ist Nacht. Valtin und ich sitzen auf dem Holocaust-Mahnmal und machen uns Sorgen ums Land. Es ist irgendwann vor elf. In der Kuppel des Reichstages laufen die Letzten nach unten. Eine Schulklasse auf Wandertag sammelt sich. „It’s still the people, stupid“, sagt Valtin und da ist kein Erstaunen in seiner Stimme.
Im Abstand einiger Tage erklärt sich alles. Es war Samstagabend, als der dämlichste Deutsche zufälligerweise zum Seher wurde: In Stefan Raabs Wahl-Show voteten die Zuschauer alle Überraschungen vorab. Die CDU hart geschlagen, die SPD erstaunlich gut, FDP und Linkspartei zu stark.
Wie es dazu kam? Merkel hätte richtig Arbeit bedeutet. Schröder natürlich auch, obwohl er es kaschierte. Instinktiv wählte das Land die einzige Variante, die ihrer Neigung entspricht. Das Klischee vom Land der Fleißigen ist eine Wirtschaftswunder-Legende, Faulheit ist schöner, also: große Koalition, zur Sicherheit.
Von unten, aus den Gängen der Grafitti-resistenten Stelen, dringen dumpfe Laute: „Uaah, raaw“. Es hallt. Jungs spielen Schrecken. „Das macht mir wirklich Angst“, meint Valtin und zittert sich eine Zigarette an, „dieses Verstummen im Jubel.“
Das saß bei Raab auf den Rängen und war der Nachwuchs der Parteien. Die Zukunft: Jubel-Politiker. Sie schrien, trampelten, streckten Plakate für ihre Idole, für „Guuuido!“, „Gährd!“ oder „Angschie!“. Leider sahen auch die Grünen nicht viel besser aus in ihren zu großen Partei-Shirts. Es war wie beim Fußball, starre Begeisterung und der stumpfe Drang, bei den Siegern zu sein. Und ein Currywurst-Kanzler auf Speed liefert dazu das Unterhaltungsprogramm. Von unten, eine Männerstimme, glucksend: „Roli, die Sau onaniert“.
Klar ist, jetzt in diesem Moment noch krasser als sonst schon: Die Arbeitslosigkeit ist nicht das größte Problem.
„Vielleicht wird es Krieg geben“, meint Valtin. „Vielleicht würde alles gut, verstriche all die schöne Zeit mit lauter Musik statt sinnfreiem Hoffen auf Politik-Heilung“.
Er ist kein Idiot, nur Idealist.
Und was machen wir jetzt? Ein letzter Tanz, Saison-Abschluss in der 25. Dann schnell nach England, Kate Moss besuchen.
Im kurzen Exil
Lieber Leser,
dieser Text entsteht unter dem starken Einfluss von Tetley-Tee, naturally rich in antioxidantes. Zu früher Morgen in so einem angenehm einsamen britischen Hotelzimmer, schräge Decken unterm Dach. Gestern ging nichts mehr, und das war gerade eben erst. Jetzt also etwas Beeilung bitte.
Wie schnell sich doch die Erinnerung aufs Wesentliche konzentriert. Und wie überraschend das dann ist. Vielleicht liegt es auch an meinem - seit einem Sturz von einer Schaukel erschütterten - Gehirn, aber ich denke immer an diese Frau. Sie ist ziemlich hübsch, ziemlich klug, Reihenfolge egal. Sie ist auf eine sehr bestimmte Art die Cousine von Kate Moss. Sie war sich nicht sicher, ob sie meine Haare mag.
Dann reise ich in der Nacht nach Liverpool. Glücklicherweise entscheidet sich Valtin in letzter Minute fürs Mitkommen. Bevor wir in Schönefeld in den Müllsack-Flieger von Easyjet steigen, setzt Valtin eine dieser überdimensionalen alten Damen-Lichtschutzbrillen auf, um seine Augen nicht den schlechten Strahlungen auf dem Flughafen aussetzen zu müssen: „Man muss vorsichtig sein“, sagt er. Haben dann ein kleines Problem mit dem Polizist an der Sicherheitskontrolle. Valtin schnattert ihn konsequent auf Englisch an, und das versteht er nicht. Wehrt sich mit Auspacken, Unterhemden-Angrapschen, Zahnpastatube-Zerquetschen. Menschen mit Oberlippenbart haben immer schlechte Laune. Schnell raus aus Germanistan.
Sitzen dann in Liverpool auf der Straße vor einem der vielen Inder. Essen Erdbeeren und schauen rum. Vorbei laufen zwölfjährige Jungs, mit Pitbulls und Mädchen. Ein Werbeplakat für eine Stadterneuerung mit dem schönen Namen „Paradies Projekt“. Wind weht kalt und klar wird: Gut aussehen ist leicht, glücklich sein schwer, nichts ewig.
Landen in so einer Wettkneipe. Läuft gerade australisches Cricket. Hübscher Typ mit schweren Ringen unter den Augen sagt: „I like your hair“, und es klingt wie „hey“. John, Johnny also, ein Freund vom Freund von Kate Moss. Auf seinem Shirt-Ärmel mit Filzstift: „Balachadha Olé“. Plaudern so und rauchen ein bisschen dahin. Aus den Boxen heult jetzt Kate Bush Don’t Give Up.
„Glücklich?“, frage ich Johnny, und er meint: „Klar, wenn nicht jetzt, dann nie.“ Neben uns rührt ein alter Mann mit Zahnproblemen im Kaffee. Ich denke, Exil ist immer gut. Örtlich oder im Innern, das spielt dabei keine Rolle. Lieber Leser, und wie geht es dir?
Experimente
Gerade ist so hübsches Außerirdischen-Landewetter, es geht einfach nicht vorbei. Angela Merkel ist gelandet und wird Bundeskanzlerin. Es wird spannend, und verdient hat sie es sich auch.
Es ist das größte Menschheitsexperiment der Nachkriegsgeschichte, was da mit Merkel passiert. Sie lernte Autofahren im Trabant und jagt jetzt einen Stern über die sechsspurige Autobahn. Sie trug Pelzmütze auf dem Roten Platz und plaudert jetzt gar nicht so schlechtes Englisch. Nach Hawaii schafft sie es bestimmt auch. Außerdem ist sie erst 51 und hieß früher Kasner. Angie, Äntschi, Angelique, die Welt dreht sich um sie und mit ihr. Wie das alles auf sie wirkt? Miss oder Missy Germany, der Entertainment-Aspekt wird interessant. Schröder dagegen wird zum Schluss wieder, was er die meiste Zeit war: eine große Enttäuschung. Sein Abgang ist unwürdig für einen echten Pop-Rocky. Oder kommt da noch was?
Zu einem anderen, wie ich finde, spannenderen Menschheitsexperiment, traut sich unser Land nicht. Während Spanien jeden Flüchtling, der es auf ihr Territorium schafft, relativ zügig mit einem Pass ausstattet und in Frankreich und Großbritannien verschiedenste Herkünfte zum Straßenbild gehören, warnt hierzulande Otto Schily in der FAZ vor der Afrikanerschwemme: „Uns wird Hören und Sehen vergehen.“ Weiter lässt sich der Anthroposoph zitieren: „Statt 100 000 Asylsuchenden zu Beginn meiner Amtszeit werden wir in diesem Jahr voraussichtlich nur noch rund 25 000 haben.“ Ich finde das ist nichts, worauf ein Mann stolz sein kann.
Es heißt immer, die Deutschen dürften mit der Integrationsleistung nicht überfordert werden. Übersetzt heißt das: Angst, weil in uns allen doch ein Nazi-Gen wohnt, das bei zu viel dunkler Haut ausbrechen könnte. Ich hoffe, das ist Quatsch, und wenn es so wäre, will ich diesen Wahnsinn bewiesen haben.