Hindukusch, Kohlroulade und Kraut
Der deutsche Soldat landet blind in Afghanistan. Über die Schlaglöcher der so genannten Landebahn in Kundus hüpfen die Reifen der Transall. Es ist früher Morgen, kurz nach sechs. Der Soldat betritt den Boden über die Ladeklappe. Er sieht sandige Berge, ein angeschossenes blassblaues Haus, das Terminal. Nach einem kräftigen Ja für die Anwesenheit legt er die Splitterschutzweste an und steigt in einen der bereitstehenden Mungos. Dann geht die Fahrt los, über eine sandige Piste hinunter in die Stadt. Erster Eindruck: Sieht ja aus wie im Mittelalter, sagt der Soldat mir gegenüber. Er hat eine Glatze, ist in den Vierzigern, auf seinem Unterarm eine Tätowierung in Runenschrift. Jetzt macht er ein paar Schüsse mit der Digitalkamera.
Kundus ist eine Provinzhauptstadt, 250 Kilometer nördlich von Kabul, etwa 120 000 Einwohner. Das größte Geschäft: die Maut an der wichtigsten Transitstrecke der Opiumindustrie. Wir sehen Lehmhäuser, Pferdekutschen, deren Räder weit eiern, und angedellte gelbe Taxis aus russischer Produktion. Am Straßenrand laufen Kinder, unendlich viele. Einige Gestalten verhüllt in Burkas und Männer, die älter aussehen, als sie vermutlich sind. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 44,5 Jahren. Der Mungo, in dem der deutsche Soldat sitzt, ein von Krauss-Maffei hergestelltes Fahrzeug, sieht aus wie ein Geldtransporter. Es ist ein ausgesprochen lächerlicher Wagen. Die Kinder am Straßenrand halten sich den Bauch vor Lachen. Dann sind wir im Camp.
Der deutsche Soldat kann sich jetzt etwas entspannen, eine Zigarette rauchen, dann zum Frühstück gehen und durchs Einschleusungszelt, seine Waffen, Munition, ID-Card empfangen, Reisekosten beantragen, zur Sicherheitseinweisung erscheinen, um 17.45 Uhr vom Kommandeur begrüsst werden. Er wird vier Monate hier sein.
Der deutsche Journalist raucht jetzt auch ein paar Zigaretten, wird dann von zwei Presseoffizieren in Empfang genommen und beeinflusst. In Kundus und den benachbarten Provinzen Takhar, Baghlan und Badakschan erprobt die Bundeswehr ein neues Konzept, so die offizielle Information. PRT nennt sich das und steht für Provincial Reconstruction Team, was heißt: zivil-militärische Zusammenarbeit. Was heißt: Die Soldaten kämpfen hier nicht und bauen auch keine Brunnen. Sie fahren durch die Gegend, zeigen Präsenz und protokollieren. Wird ein neues Klassenzimmer benötigt, stellen sie den Kontakt zu einer NGO her, die dann mit deren Geld baut. So weit die Theorie.
Das Wort, das der Presseoffizier tunlichst vermeidet, aber mit dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass im Wahlkampf für den „Friedenskanzler Schröder“ erklärte, warum der Einsatz in Afghanistan gut, der im Irak aber schrecklich wäre, heißt: „Friedenssoldat“. Unter Rot-Grün wurde das Militär wiederentdeckt. Kann man ganz nüchtern feststellen. Bosnien, Kosovo, Afghanistan, Konjunktur im Dienst der guten Sache. An einem Kühlschrank im Bundeswehr-Camp hängt die Schrift: Friede ist nicht Abwesenheit von Krieg, Friede ist eine Tugend, eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen und Gerechtigkeit.
Klingt nach Panzer fahren und Gedichte rezitieren.
Ich darf mich am Nachmittag frei im Camp bewegen. Eine alte Obstplantage, wohnen im Container. Zurzeit 330 Deutsche, knapp hundert Österreicher, ein paar Belgier und ein Schweizer. Im Versorgungszelt lauscht der deutsche Soldat der Sicherheitseinweisung. Zunächst das Unappetitliche: Feinstaub, genauer Fäkalstaub. In Kundus fliegt die Scheiße durch die Luft. Das Geschäft des gemeinen Afghanen landet im Graben, trocknet dort und wird vom konstant flackernden Wind über die Stadt verteilt. Mundschutz empfohlen. Außerdem, bitte, nichts von Einheimischen essen, Durchfallgefahr. Bitte auch keine Digitalfotografie von Burka-Frauen, da diese glauben, das westliche Technikwunder könne ihnen unter den Schleier spannen. „Natürlich Quatsch, aber wir sind hier Gäste und respektieren die Landessitten.“ Für die meisten der neu angekommenen Soldaten ist die Fahrt vom Flughafen zum Camp das Einzige, was sie von Afghanistan sehen. Über die Hälfte wird das Camp nicht verlassen.
Dort herrscht legere Atmosphäre. Der Zwang zum Gruß ist ausgesetzt. Ob er sich wie ein Friedenssoldat fühlt, frage ich einen Zufälligen vor dem Lummerland, der einzigen Bar. Gegenfrage: „Seh i aus wie a Ossi?“. Aber es gibt sie tatsächlich, die guten Menschen von Kundus. Da ist der Jungsoldat, der Persisch lernt und in seiner Freizeit Beiträge für die Internetenzyklopädie Wikipedia schreibt. Oder der 23-jährige Fußballfan, der sich vorgenommen hat, vier Monate keinen Tropfen Alkohol zu trinken. Joschka Fischers ehemaliger Pressesprecher vertritt das Auswärtige Amt. Ein junger Typ, Wehrpflichtiger, freiwillig länger verpflichtet, zeigt Bilder, geschossen mit der Digitalkamera. „Dit hier is `n Mohnfeld.“ Klatschmohn, blühend rot in einem Tal. „Jetzt rein vom Ästhetischen her, das hat Qualität, wa?“
Was er über die Ästhetik der Ausrüstung denkt? „Na, besser geschnittene Uniformen wär `ne Sache“ - meint dann aber auch, für viele täten es auch bessere Ernährung und mehr Sport. Kohlroulade, Kartoffeln und Kraut jeden Tag ist nicht gerade vorteilhaft für eine verwegene Silhouette. Er hängt sich locker die Ray Ban über die Augen, erhältlich im Marketender zum subventionierten Preis von 49,50 Euro, und zieht das Pali-Tuch auf Terrorhöhe. Besser sah Baader auch nicht aus. Klar wird übrigens auch: Kamerad ist ein genauso leeres Wort wie Genosse.
Die Winde frischen auf am Abend. Der Journalist wird ins Gästehaus gefahren. Das heißt Lapislazuli, nach einem landestypischen blauen Mineral. Hinter hohen Mauern betreiben Boris und Petra das zivile Stück deutsche Heimat. An Biertischen sitzen Entwicklungshelfer und Geschäftsmänner. Es gibt Schnitzel, Becks und harten Alkohol in Massen. Der weißhaarige Bauunternehmer aus Thüringen erzählt von seinem Auftrag für das neue deutsche Camp am Flughafen. Es wird größer als der Vatikanstaat. Zehn Jahre, vielleicht auch 30 will die Bundeswehr hier sein. So lange, bis aus Afghanistan eine anständige Demokratie wird. „Ach, die Bundeswehr, große Klappe, wenn’s drauf ankommt, ein arroganter Haufen“, sagt ein Ingenieur. Dann streift das Gespräch kurz den Straßenstrich von Kundus und die spiegelig polierte S-Klasse, die vor dem Tor parkt.
Am nächsten Morgen hat der Presseoffizier ein „Superprogramm“ für mich zusammengestellt. Mit einem Auftrag nach außen, Mission zivil-militärische Zusammenarbeit. Es dauert keine halbe Stunde bis zur ersten heiklen Situation.
Wir stehen im Hof einer Schule, neuer Bau. Überall springen kleine Jungen umher. Ein alter Mann mit Rute versucht sie zurück in die Klassenräume zu prügeln, wo sie an Holzpulten ohne Bücher lernen sollen. Frische Schulhäuser gibt es im Land immer mehr, ausgebildete Lehrer noch wenig. Wir sind gekommen, um die Einrichtung eines Wahllokals zu überprüfen. Unser Besuch ist das Ereignis des Morgens. Werden ins Sekretariat gebeten, Lehrer tragen Stühle herbei. Marek, der 25-jährige Übersetzer, stellt die Fragen für seinen Chef, Thomas F., 30, Berufssoldat aus Rheinland-Pfalz. Der Direktor teilt Honigmelonen mit einer Machete. Bald sind die Fragen zu Ende. Wir essen Honigmelone. Thomas F. stellte noch ein paar Fragen zur Schule, nutzt dann aber die kurze Abwesenheit des Direktors zum Aufbruch. Wieder treffen an der Ecke auf dem Hof, Wortwechsel. Marek lenkt, Schweißperlen auf der Stirn, die Aufmerksamkeit auf die Zelte, in denen die Mädchen unterrichtet werden. Aber der Berufssoldat schüttelt jetzt den Kopf, er will „grün klassifizieren“, kein Handlungsbedarf. Andere Schulen haben es nötiger. Marek weiß nicht, was er übersetzen soll. „Wir haben doch seine Melone gegessen„, murmelt er. Dem Direktor ist die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Vor den Deutschen waren auch schon die Amerikaner in Kundus. Ein dpa-Fotograf dirigiert noch ein Foto.
Dann sind wir wieder auf der Piste. Die Reifen unseres Wolfs, einer Variante der Mercedes-G-Klasse, wirbeln den Staub der Straße wie in einem Indiana-Jones-Film. Es ist der erste Auslandseinsatz für Thomas F. „Endlich“, sagt er und schließt seinen iPod-Shuffle an die Aktiv-Boxen. Wir hören Motherfucker-HipHop.
Zurück im Camp ein Gespräch mit Oberst Bernd-Otto Iben, dem Lagerleiter und obersten Repräsentanten. Die Fenster in seinem Büro sind zugemauert. Letztes Jahr wurde eine Rakete auf das Gebäude geschossen. Er bewirbt den neuen Ansatz, zivil-militärische Zusammenarbeit. Danke, schon gesehen. „Die Sicherheit ist dabei nur ein Abfallprodukt“, meint er. Zu den Deutschen sei die Bevölkerung glücklicherweise ja sehr freundlich. Irgendwann unterhalten wir uns über seine Jugend. Mit 19 ist er in die Bundeswehr eingetreten. Sein tägliches Geschäft in Kundus sind Einweihungen und Treffen mit Lokalpolitikern. „Gott sei Dank darf ich hier den guten Menschen spielen.“ Er freut sich. „Herr Oberst, können Sie einen Bundeswehr-Witz erzählen?“ Da fällt ihm jetzt keiner ein.
Später als ich auf dem so genannten Marktplatz des Camps sitze und auf das Taxi ins Gästehaus warte, kommt eine Soldatin vorbei. Steht, schaut mit großen Augen und hat einen Witz. „Kennst du den? Wir haben Uhren, die Afghanen haben Zeit.“ Selten in der Sonne so gefroren.