Der Weg zur Formel-1: Gas geben, Geld geben

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Reportage
zuerst erschienen im Oktober 1999 in jetzt-Magazin

Marvin Bylitza, 16, ist der jüngste Formel-Fahrer Europas. Er will Berufsrennfahrer werden, unbedingt. Ob das jedoch klappt, liegt aber nicht allein an Talent und Glück. Genauso wichtig sind in diesem Sport die Eltern – Marvins größte Fans und wichtigste Sponsoren. 70 000 Mark geben sie in diesem Jahr aus für den Traum ihres Sohnes: eines Tages in der Formel-1 zu fahren.

Nicht, dass ihn einer von der Strecke gedrängt hätte und er im Kiesbett gelandet wäre. Oder dass sein Getriebe kaputt war, so wie gestern, als er nur mit Mühe in den dritten Gang schalten konnte, auf Platz acht zurückfiel und dann am Schluss noch Dritter wurde. Dieses Mal war er selbst schuld: er, Marvin Bylitza, ganz allein. Beim Start einfach zu viel Gas gegeben, bis die Reifen durchdrehten auf dem nassen Asphalt und er nicht richtig wegkam. Damit war das Rennen von Anfang an so gut wie gelaufen, am Ende wurde er Sechster – von zehn. Ein Desaster, weil es nur noch zwei Rennen gibt un die Saison dann vorbei ist.

Dabei hätte Marvin Bylitza alle Chancen gehabt auf den Gesamtsieg. Jetzt, nach 18 Rennen, ist er Dritter und der Tag für ihn gelaufen. Seine Eltern warten vor der Box, der Vater auf einen Regenschirm gestützt, die Mutter daneben. Fünfzig Meter entfernt, auf dem Hockenheim-Ring, läuft schon das nächste Rennen, die Wagen jagen vorbei und im Minutentakt weht ein Surren herüber, als würden 20000-Watt-Wespen ihre Runden drehen. Es ist nicht so, dass Marvins Eltern ihm Vorwürfe machten, sie blicken eher ein bisschen mitleidig. Aber Marvin, der sich die rote Schirmmütze ins Gesicht gezogen hat und gerade aus der Box kommt, hat keine Lust zu reden. Mit niemandem, nur „Scheiße” sagt er. Scheiße – immer wieder leise vor sich hin. Die Mutter sagt: „Ich sag” gar nichts mehr, ich traue mich gar nicht, ihn anzusprechen.” Der Vater lächelt mit verspanntem Kiefer und sagt: „Marvin ärgert sich über sich selbst, weil er nicht gezeigt hat, was in ihm steckt.”

Marvin steigt aufs Fahrrad und fährt die 200 Meter zum Wohnwagen, er will nur raus aus dem weißen, feuerfesten Rennanzug, dessen Schuhe er vor dem Start extra trocken gewischt hatte, damit seine Füße nicht von den Pedalen rutschen. Jetzt will er sie loswerden, so als könne er damit auch das Rennen einfach in den Schrank stellen. Und Tür zu. Derweilen inspiziert ein Mechaniker in der Box den Wagen, schaut, ob etwas ausgewechselt werden muss, macht das Auto fertig für den nächsten Lauf auf dem Nürburgring. Der Wagen ist ein sogenannter Formel-Wagen, von der Form her eine Zigarre mit Rädern dran: BMW, 110 PS, 200 km/h schnell, das Cockpit so eng, dass man vom Hineinschauen schon klaustrophobische Zustände bekommt, ein Lenker, ein Drehzahlmesser, eine Anzeige für die Wassertemperatur, ein Knopf zum Anlassen, rechts an der Seite die Gangschaltung. Einer von zehn Wagen des Formel-Junior-Cups, der Einstiegsklasse in den Formel-Sport.

Marvin ist der jüngste der zehn Fahrer, derzeit bester Deutscher und der einzige, der mit 15 angefangen hat. Marvin ist der jüngste Formel-Fahrer Europas – wird er der neue Schumacher? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist seine Karriere bald auch schon vorbei, denn um im Rennsport weiterzukommen, ist Geld so wichtig wie Benzin. Dass er den Formel-Junior-Cup fahren kann, liegt nicht allein daran, dass er talentiert ist, sondern auch daran, dass er Eltern hat, die ihn fördern, die zugleich seine größten Fans und Sponsoren sind: 70 000 Mark zahlen sie für die Saison, dazu 10 000 Mark als Kaution für eventuelle Schäden. Den Rest übernimmt BMW und der ADAC. Auf Marvin lastet ein ziemlicher Druck, auch wenn es niemand offen sagt. Der Vater musste unterschreiben, dass er für Schäden aufkommt, die der Sohn verursacht. Wie den auf dem Salzburgring, da fuhr er den Flügel kaputt. Kosten: 1900 Mark. Oder in Zweibrücken, da brach die Vorderrad-Aufhängung: 1100 Mark. In Oschersleben dann nochmal der Flügel: insgesamt 8000 Mark.

Der Formel-Junior-Cup besteht aus zwanzig Rennen und jeder der zehn Fahrer darf nur eine Saison mitfahren. Danach kommt die BMW-Formel-ADAC-Meisterschaft mit schnelleren Wagen, 130 PS, 230 km/h schnell. Aber da werden nur zwei Fahrer das Glück haben, gefördert zu werden: der Erstplatzierte dieser Saison und ein weiterer Fahrer, den sich BMW und ADAC aussucht, aber erst Mitte November bekannt gibt. Wäre Marvin einer von ihnen, müssten seine Eltern für die nächste Saison nur 80 000 Mark aufbringen. Die Alternative: Marvin schließt sich einem anderen Rennstall an, aber das kann bis zu einer Viertelmillion Mark kosten – das wäre das Ende von Marvins Karriere, weil sein Vater so viel Geld nicht zusammenkriegen wird. Und auch sonst derzeit nicht viele bereit sind, in Marvins Karriere zu investieren. 400 Firmen hat der Vater angeschrieben und denen, die Interesse hatten, eine Marvin-Bylitza-Bewerbungsmappe zugeschickt, in der Marvin verspricht, „immer sein Bestes, also hundertprozentige Leistung” zu geben. In der sie auch das gesamte Fahrzeug als Sponsorfläche anbieten und Marvin gleich mit: „Falls gewünscht, steht Ihnen Marvin Bylitza als Werbeträger auch persönlich zur Verfügung.“ Bislang unterstützen ihn fünf Sponsoren: darunter eine Entsorgungsfirma, ein LKW-Handel und die Zeitschrift Auto, Motor und Sport. „Solange Marvin vorne mitfahren kann”, sagt der Vater, „werden wir versuchen, das zu finanzieren. Aber wenn wir merken, er kann es nicht mehr – dann ist Schluss.” Die Mutter sagt: „250000 Mark, das schaffen wir nicht.” Und deshalb kann von den Bylitzas niemand mit dem sechsten Platz von heute zufrieden sein. Marvin muss Erster werden, nur das garantiert, dass er auch in der nächsten Saison Formel fährt. Das gilt natürlich auch für die anderen neun Fahrer. Schließlich will jeder von ihnen weiterkommen auf seinem Weg zum Formel-1-Fahrer und deshalb sind sie Konkurrenten, spätestens dann, wenn sie in ihre Wagen steigen. Das Verhältnis untereinander wirkt nüchtern, fast kühl, es ist nicht so, dass sie nach den Rennen miteinander reden oder der eine dem anderen groß gratuliert, ein kurzer Schlag auf die Schulter, das war”s – wenn überhaupt. „Mit zwei oder dreien verstehe ich mich ganz gut”, sagt Marvin, „bis kurz vor den Rennen. Dann fährt jeder für sich und gegen den anderen.”

Mittags, das Rennen ist jetzt zwei Stunden vorbei, und es nieselt immer noch, als wollte das Wetter Marvin den ganzen Tag über an das verpatzte Rennen erinnern. Die Bylitzas packen zusammen, machen den Wohnwagen fertig zur Abfahrt. Seit Donnerstag früh ist Marvin schon hier auf dem Hockenheimring. Freitag war Training, dreißig Minuten, Samstag dann Zeittraining und das erste Rennen, und heute Vormittag das zweite, im Vorprogramm der Supertourenwagen-Meisterschaften und zu früh, als dass es viele Zuschauer gesehen hätten. Nicht so wie auf dem Nürburgring vor einer Woche, als die Junioren im Vorprogramm der Formel-1 fuhren und Marvin sogar kurz im Fernsehen zu sehen war, als er das Rennen gewann und dann auf dem Treppchen stand, in demselben weißen Anzug, der jetzt im Schrank des Wohnwagens hängt. Er wurde mit Champagner bespritzt und die vielen Menschen standen auf der Tribüne und klatschten. „Das war bislang das schönste Erlebnis”, sagt Marvin. Das war so ein Moment, den er im Kopf gespeichert hat, den er nicht mehr rausbekommt und der es ihm so verdammt schwer macht, mit dem Rennfahren aufzuhören, überhaupt darüber nachzudenken, dass vielleicht bald schon alles vorbei ist. Umso mehr, weil er nicht weiß, was er sonst machen sollte. Nächstes Jahr ist er mit der zehnten Klasse fertig. Und dann? „Vielleicht Fachabi, irgend so eines mit Elektronik.” Er hat mal ein Praktikum bei einer Lokalzeitung gemacht, musste um elf anfangen bis sechs und da war dann der ganze Tag gelaufen. Nichts für ihn. Aber etwas anderes fällt ihm auch nicht ein. „Die Schule ist das Wichtigste”, sagt der Vater, „das ist der Grundstock für alles weitere”. Er möchte nicht, dass sein Sohn eines Tages dasteht, ohne Perspektive, nur weil es mit dem Rennsport nicht geklappt hat.

Am frühen Nachmittag brechen die Bylitzas dann auf, die Heimfahrt nach Marl, einer 100 000-Einwohner-Stadt bei Recklinghausen, dauert fünf Stunden. Als Marvin das Ortsschild sieht, sagt er, irgendwann müsse er weg hier, es sei ja nichts los, selbst die Indoor-Kart-Bahn sei geschlossen worden. Die Rennen an den Wochenenden sind da eine gute Abwechslung. Schon seit Jahren sind die Bylitzas an den meisten Wochenenden unterwegs. Der Vater hat einen Wohnwagen gekauft, weil Hotels auf Dauer doch zu teuer sind. „An solchen Wochenenden kann ich abschalten”, sagt er. Ihm gehört ein Schweißerei-Betrieb. „Von morgens um acht bis abends um zehn stehe ich da, und das geht an die Substanz.” Die Wochenenden an den Rennstrecken sind Erholung für ihn, er hat Spaß daran, seinem Sohn beim Rasen zuzuschauen und mitzufiebern. Früher ist er selbst Rennen gefahren – im Kart; er war es auch, der Marvin einen Kart geschenkt hat, als der viereinhalb Jahre alt war. Das war noch vor der Zeit, als die „Kartomania” ausbrach, mit den Erfolgen von Michael Schumacher, der wie alle Formel-1-Fahrer so angefangen hat.

„Für mich war immer klar”, sagt der Vater, „wenn Marvin sein erstes Rennen fährt, höre ich auf zu fahren. Dann bin ich nur noch für ihn da.” Marvin war zehn, als er die ersten Rennen fuhr. Mit 13 wurde er Dritter der deutschen Kartmeisterschaften, Dritter der Europameisterschaften und im selben Jahr gewann er den Monaco-Cup, als zweiter Deutscher nach Michael Schumacher. Vor einem Jahr machte er dann ein Renntraining für den Formel-Junior-Cup mit und lernte, wie man beim Start den Fuß gleichzeitig auf Bremse und Gas drückt und den Motor bei 7000 Umdrehungen hält, wie man im Windschatten des anderen fährt und im richtigen Moment ausschert, um zu überholen. Und wie man in einer Kurve möglichst spät bremst, ohne im Kiesbett zu landen. Die zehn Besten des Lehrganges kamen ins Formel-Junior-Team und fahren seitdem gegeneinander, auch wenn sie alle zum selben Rennstall gehören. Sie haben die selben Mechaniker, die Wagen sind identisch und werden nach zwei Rennen getauscht. In den Wochen zwischen den Rennen herrscht sogar Trainingsverbot. Denn Fahren ist wahnsinnig teuer – die Wagen müssen gewartet werden, eine Rennstrecke gemietet, zehn Techniker bereitstehen. Weil sich das nicht alle Eltern leisten können, darf eben niemand trainieren – Chancengleichheit für alle. Deshalb bleibt für Marvin nur das Fitness-Studio, in das er dreimal die Woche geht, um Nacken- und Armmuskeln zu trainieren, so wie es der Physiotherapeut des Teams empfohlen hat. Persönliche Fahrlehrer gibt es keine, nur sogenannte Instruktoren, die mit allen zehn Fahrern gemeinsam über die Rennen sprechen. Erst in der nächsthöheren Klasse werden die Rennen von Computern ausgewertet, eine Menge Statistiken ausgedruckt, anhand derer ein Fahrer sieht, wie schnell er an welcher Stelle gefahren ist, ob er zu früh gebremst hat oder zu spät beschleunigt. Auf den Ausdrucken, die Marvin nach dem heutigen Rennen bekommen hat, lässt sich nur wenig ablesen. Höchstgeschwindigkeit: 163 km/h, schnellste Zeit: 1,19410 Minuten für eine Runde von 2,638 Kilometer. Platz: 6.

Marvins Handy klingelt: Die Lokalzeitung. Wie es lief? „Platz 6. Noch Dritter der Gesamtwertung…ja…nicht so gut.” Er sitzt auf seinem Bett und schaut aus dem Fenster. Auf den Bungalow auf der anderen Straßenseite und die Nachbarn, die dort ihren Vorgarten pflegen. Marvin hat eines dieser Jugendzimmer: Schränke, Schreibtisch und Bett aus demselben Holz, beige. Auf den Regalen stehen Pokale und über dem Bett hängt ein großes Bild von seinem Vorbild: Ayrton Senna, der brasilianische Formel-1-Weltmeister, der 1994 in Imola tödlich verunglückte. Macht ihm das Angst? Marvin schüttelt den Kopf, nimmt seine rote Schirmmütze ab und klopft mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn: „Toi, toi, toi.” Der Vater sagt: „Die Angst sitzt irgendwo dahinten” – und deutet auf seinen Hinterkopf. „Man unterdrückt sie.” Und dann erzählt er vom Straßenverkehr und wie viele Jugendliche dort jedes Jahr so überfahren würden. „Man sollte keine Rennen fahren, wenn man Angst hat”, sagt Marvin. Und das Tolle am Formel-Fahren sei gerade die Einsamkeit im Zweikampf, Fahrer gegen Fahrer, die Unmöglichkeit sich zu verstecken, das Reinknallen in die Kurven und so spät wie möglich bremsen. Nicht wie beim Fußball, wo zwölf Leute einfach nur hinterm Ball herliefen. Oder elf? Fußball hat ihn noch nie interessiert.

Was er sich für die Zukunft wünscht? „Keine Ahnung”, sagt Marvin. Dann eine lange Pause. „Einen Formel-1-Vertrag.” Ein weiter Weg, selbst wenn alles nach Plan läuft. Denn vor der höchsten Rennklasse kommen erst noch die BMW-Formel-ADAC-Meisterschaft, Formel Renault, Formel 3 und Formel 3000 und bis dahin wird Marvin eine Million Mark brauchen – mindestens. Und er wird mehr Menschen als seine Eltern davon überzeugen müssen, dass er es wert ist, gefördert zu werden. Dass er die Balance findet zwischen Wagemut und Leichtsinn. Und dass er stets etwas besser fährt als die Konkurrenz. Marvin zeigt seinem Vater eine Autogrammkarte von einem der Jungs aus dem Team. 500 Stück, von Red Bull bezahlt, und 500-mal der Name falsch gedruckt. Christan Klien, statt Christian. Der Vater schaut sich die Autogrammkarte an. „Wir müssen in die Richtung auch was machen”, sagt er. Gerade erst hat er sich für 360 Mark von DSF zwanzig Videokassetten schicken lassen – mit allen Rennen des Formel-Junior-Cups. Marvin schiebt eine Kassette ein und spult zu der Stelle, wo er im Bild ist. Der Wagen mit der Nummer 30, wie er am Heck eines anderen Wagens klebt, eine Runde lang, so dicht, dass die Mutter ruft: „Wahnsinn, wie dicht beieinander, da krieg” ich ja Angst.” „Du musst in die Mitte rein”, sagt sein Vater, der hinter Marvin steht. „Wenn man so weit außen bleibt, klappt das nicht.” Und dann schert Wagen 30 aus und rast in die Kurve, innen vorbei, und überholt. „Da siehste”, sagt sein Vater. Und Marvin sagt nichts. Er weiß selbst, dass er es kann, ganz vorne mitfahren. Nur heute, das war Scheiße.