Wilder Osten
Drei Freunde in Moskau. Schüler des Kapitalismus. Der Schnellste Mercedesfahrer, der größte Frauenheld, der härteste Zocker. Und einer, der zurückkommt in die Stadt seiner Träume, nach sechs Jahren und einer halben Ewigkeit.
Beim letzten Mal hat Ilja noch gelebt. Und Tigran hatte diesen gelben Mercedes 230 T, mit dem wir jeden Abend ins „Night Flight” fuhren. De la Soul hatten mit „Ring Ring Ring” einen Hit. Und Wassilij war noch mit Violetta zusammen. Ich hatte mich in Olga verliebt und in ihr rotes Kleid. Der Winter kam. Und ich wollte nie wieder weg aus Moskau. Fünf Tage im Oktober 1992. Ich war nur zu Besuch in der Stadt, die drei Jahre lang mein Zuhause gewesen ist. Mit Tigran war ich dort auf die Schule gegangen, danach habe ich ihn noch einige Male gesehen. Zuletzt aber haben wir nur noch an den Geburtstagen telephoniert, und als er vor einigen Wochen anrief, einfach so, kam das völlig überraschend. Jetzt bin ich wieder in Moskau: fünf Tage im Oktober 1998.Für dieses Jahr sagen die Meteorologen einen harten Winter voraus. Und der Winter in Moskau kann verdammt hart sein, das war schon immer so. Wenn der Wind weht, ist es, als schnitte eine Fräse ins Gesicht. Jedes Lachen gefriert. In der Zeitung steht, daß in diesem Winter eine Hungersnot droht. Primakow, der Ministerpräsident, hat angekündigt, für 600 Millionen Dollar eine Lebensmittelreserve zu schaffen. Sie soll für ein Drittel der Bevölkerung reichen – zwei Wochen lang. Es habe schon ein bißchen geschneit, sagt Tigran im Auto, auf der Fahrt vom Flughafen. Es ist wieder ein Mercedes, ein silberner. Und Tigran fährt das Automatik-Getriebe wie früher im S-Gang, auch wenn das mehr Benzin kostet. Das Radio steht auf 106,8. Der Sender, der nur Techno spielt. Tigran ist teuer gekleidet, wie früher. Jeans von Armani, Mantel von Boss. Und auch mit 27 sieht er darin eigentlich zu jung aus. Auf der Gegenseite, Richtung Flughafen, stehen Hunderte von Autos im Stau. Beim letzten Mal waren wir zu spät, und Tigran fuhr rechts vorbei, über den Bürgersteig. Und die Fußgänger machten Platz, einfach so, ohne zu fluchen, als hätten sie sich längst daran gewöhnt. Nirgendwo lassen sich Fußgänger so viel gefallen. Kaum einer traut sich bei Grün über den Zebrastreifen. Oder nur zögerlich, und dann ganz schnell, aus Angst vor verrückten Autofahrern. Heute fährt Tigran anders. Nicht mehr mit 150, nicht mehr in entgegengesetzter Richtung durch Einbahnstraßen. Normal eben, kaum zu glauben. „Die Bullen stressen ab”, sagt er. Und das kostet einige hundert Rubel, je nach Laune des Bullen. Bis zum 17. August waren das noch rund dreißig Dollar. Dann hat die Regierung den Rubel abgewertet, und binnen eines Tages hat das Geld ein Drittel an Wert verloren. Die Preise aber stiegen. Eine Cola-Dose kostet 4,50, ein Brot drei Rubel. Rußland ist in der tiefsten Krise seit 1991, als gegen Gorbatschow geputscht wurde und danach die Sowjetunion zerfiel. Die Wirtschaftsleistung hat noch die Hälfte des Niveaus von 1990. Die russischen Betriebe schuldeten bereits im Juli ihren Beschäftigten 67 Milliarden Rubel, auch das steht in der Zeitung.Tigran hat ein Geschäft, das nicht läuft. „SB Fond”, die Firma, die er mit drei Freunden leitet, hat seit August kaum etwas verkauft. Sechs LKW- Lieferungen voller Kleister, Tapeten und Laminatböden waren es vorher – jeden Monat. Seit August nicht einmal eine. Sie mußten die Selbstkosten auf ein Minimum drücken: Aus zwei Büros wurde eines, die Sekretärin bekommt statt 700 noch 200 Dollar im Monat. Sie ist geblieben, weil es mehr ist als gar nichts. Der russische Staat hat jahrelang von Krediten gelebt. Er hat Schuldscheine verkauft und den Käufern bis zu zweihundert Prozent Zinsen versprochen. Aber im August brach dann alles zusammen, dem Staat ging das Geld aus. Viele Banken, die mitspekuliert haben, sind pleite. Als das Firmenkonto von „SB Fond” gesperrt wurde, war ein Dollar noch sechs Rubel wert. Mittlerweile sind es sechzehn Rubel. Selbst wenn die Bank wieder funktioniert und das Konto frei gibt, ist das Geld darauf kaum noch was wert. „Früher war noch alles anders”, sagt Tigran, „ da tobte hier noch der Bär.” So wie früher eben. Als das Leben für uns noch ein großer Rave war und mit 180 Beats pro Minute alle Sorgen aus dem Kopf hämmerte. Als wir nicht zum Nachdenken kamen, weil wir uns von Party zu Party retteten, morgens um sechs ins Bett fielen und bis nachmittags schliefen. Diese Zeit hat meine Erinnerungen geprägt, und jetzt, so scheint es, ist die Chill-out-Phase angebrochen. Tigran ist immer noch der Mensch, der nicht sitzen kann. Schon morgens läuft er durch die Wohnung, putzt sich währenddessen die Zähne, schaut auf seinen Pager nach dem Dollarkurs und löffelt seinen Brei im Gehen. Den Haferschleim hat ihm der Arzt empfohlen, weil sein Magen morgens nichts anderes verträgt. Er ärgert sich, weil der Rubel über Nacht etwas gefallen ist. „Hätten wir bloß Dollar gekauft”, sagt er und läuft herum wie der Tiger im Käfig. Der Fernseher flimmert. MTV Russia. Mit Jay-Z. Draußen jault die Alarmanlage irgendeines Autos und hört nach einigen Minuten wieder auf. Es stört nicht weiter. Nur in der Nacht bin ich einmal aufgewacht, weil es Geschrei gab vor dem Haus. Und dumpfe Schläge. Die Polizisten, die ganz in der Nähe eine Botschaft bewachen, haben sich nicht eingemischt. Jetzt, gegen Mittag, kommt uns einer von ihnen entgegen, als wir in den Wagen steigen. Tigran drückt ihm zwanzig Rubel in die Hand, rund zwei Mark. Fürs Bewachen, weil dem Wagen über Nacht nichts passiert ist.Das Restaurant, in das wir fahren, ist weit weg. In der Nowosawodskaia 22, im Nordwesten von Moskau. Es heißt „Proton”. Und es ist billig. Früher wäre Tigran nicht so weit gefahren, nur um billig zu essen. Aber hierher lohnt es sich, weil man genauso viel bestellen kann wie früher. Nicht auf den Fisch verzichten muß oder auf den Kaviar. Hier kann man zu sechst essen für vierzig Mark. Trotzdem ist das „Proton” leer. Es kenne halt niemand, sagt Tigran. Ein Freund gab ihm den Tip. Und seitdem kommt Tigran täglich. Wassilij kommt auch. Erschreckend blaß im Gesicht. Er legt zwei Handys auf den Tisch. Bestellt sich einen Tee und Wasser ohne Kohlensäure. „Das ist der Unterschied”, sagt er, „früher war meine Leber noch in Ordnung.” Früher hatte Wassilij auch noch drei Fahrer, drei Autos und eine gemietete Villa auf Zypern. Und wenn er ins Casino ging, mußte sein Fahrer nicht selten ins Büro, um noch ein paar Tausend Dollar aus dem Safe zu holen. Wassilij ist mittlerweile 31. Wir waren keine Freunde, eher Bekannte. Und es gibt einfach Dinge, über die redet man nicht mit ihm. Womit er sein Geld verdient, zum Beispiel. Er spekuliert, tauscht Rubel in Dollar und Dollar in Rubel. Das war”s, mehr muß man nicht wissen. „Geld”, sagt Wassilij, „ist das Fundament für ein gutes Leben.” Und daß man in Rußland den einen Tag reich, den nächsten Tag arm sein könne. Richtig mit Geld umgehen, das habe hier niemand gelernt. Das Lebensmotto lautet: Lebe den Tag, weil du nicht weißt, was morgen kommt. Und sparen, das beweist die Krise, bringt auch nichts. Wassilij versucht sich zu erinnern, wo er die Kohle der letzten Jahre gelassen hat. Dazu sagt er nichts mehr. Stattdessen reden wir wieder über Frauen. Tigran hat Olga vor einigen Wochen gesehen. Zum ersten Mal seit damals. Aber geredet haben sie nicht, sich nur zugenickt. Sie habe eine komische Brille getragen und nicht wirklich gut ausgesehen. „Und das rote Kleid?” – „Nein”, sagt er, „kein rotes Kleid.” Ich überlege, wie alt Olga mittlerweile ist. 27, vielleicht. Oder 28. Ich habe von ihr weder Adresse noch Telephonnummer. Der Zufall könnte es wollen, daß wir uns wieder begegnen.Als wir auf der Rückfahrt die Twerskaja entlangfahren, liegt rechts das „Night Flight”. Aber hier geht man schon lange nicht mehr hin. Früher sind wir hin, weil es neu war und einer der ersten Clubs in Moskau. Mittlerweile gibt es so viele, daß ich mir nicht einmal die Namen merken kann. Ansonsten erkenne ich alles wieder. Sogar den alten Plattenladen „Melodia” am Arbat gibt es noch. Es gibt auch eine neue Shopping-Mall am Kreml, neue Häuser und viele Reklameflächen, viele teure Autos, aber das alles wirkt nur wie Kosmetik auf einem alten Gesicht.Am Abend fahren wir ins „Titanic”. Ein Club, der heute wiedereröffnet, unter einer Stadiontribüne. Vor dem Eingang liegt ein Fußballfeld, beleuchtet und grün. Drumherum parken Autos, in vielen warten die Fahrer. Ein Ambiente wie auf dem Automarkt. „Wenn es früher zehn Reiche gab”, sagt Tigran, „dann sind es jetzt fünftausend.” Um zu zeigen, was sich getan hat in den vergangenen Jahren: Der Reichtum ist explodiert. Drinnen, im „Titanic”, tanzen schöne Frauen auf der Bühne, die Reichen stehen herum. Sie sind jung. Die meisten wie Wassilij in Anzug und Krawatte. Auch Wassilij hat einen Fahrer, der draußen wartet. Auch er hat ein Blaulicht auf seinem schwarzen Saab. Damit hat er Vorfahrt im Straßenverkehr, kann überholen wie er will und wird nicht angehalten. Das Blaulicht, das Regierungswagen auf dem Dach tragen, hat er gekauft, bei irgendjemandem. Eben nicht offiziell. Man braucht Beziehungen, die sind das eigentliche Kapital. Er will auch nicht, daß die Nummernschilder seines Wagens auf ein Photo kommen. Je unauffälliger man ist, desto ruhiger lebt man. „In Moskau kann man mit Geld alles regeln”, sagt Wassilij, „außer, die Gegenseite zahlt mehr.” Mittlerweile sind die Frauen auf der Bühne nackt, tanzen, und wir schauen zu. Später fahren Tigran und Wassilij noch in einen anderen Club. Ich will schlafen und fahre nach Hause.Am nächsten Morgen sagt Tigran, daß er Olga getroffen hat. Sie konnte sich noch an mich erinnern, und er hat ihre Telephonnummern mitgebracht. Also versuchen wir uns mit ihr zu verabreden. Rufen sie im Schönheitssalon „Anastasia” an, wo sie mittlerweile als Rezeptionistin arbeitet. Sie hat keine Zeit, später vielleicht. Später will sie dann aber schlafen, noch müde vom Tanzen. Am nächsten Morgen rufen wir nochmal an. Ihre Mutter geht ans Telephon, Olga schläft noch. In einer Stunde. Und dann ist sie wieder am Apparat. Aber sie will nicht. Sie hat keine große Lust, mich zu treffen. Früher hätte es mir das Herz zerrissen. Ich war in sie verliebt, nicht sie in mich, das hatte ich vergessen. Sie wollte nur mal Auto fahren. Ich erinnere mich an die Nacht, als sie fuhr, weil sie gerade den Führerschein gemacht hatte. Sie fuhr holprig und immer zu dicht am rechten Bordstein, und einmal hat sie fast einen Bus gerammt. Und später, beim Aussteigen, sagte sie, daß sie ihre Kontaktlinsen zu Hause hat. Aber das ist schon lange her, sechs Jahre. Die Erinnerungen entfernen sich von der Wirklichkeit. Mit jedem Jahr ein bißchen mehr.Nach vier Tagen Moskau ist mir klar, daß der Rave vorbei ist, zur Zeit jedenfalls, auch wenn es nicht so wirkt. Äußerlich geht es darum, den Schein zu wahren. Aber die Leichtigkeit ist nicht mehr da, und die Sorgen lassen sich nicht mehr richtig wegfeiern. Tigran wird den Mercedes verkaufen. Für 45 Mark. Er sagt nicht 45000, sondern 45. Als würden dadurch die Relationen zurechtgerückt und die Geldsorgen geringer. Er will seine Schulden zurückzahlen. Auch heute bekommt der Polizist seine zwanzig Rubel. Genauso wie die alte Frau, die in der Fußgängerunterführung sitzt. Er steckt diesen alten Menschen immer etwas zu. Aber auch der jungen Frau, die jeden Tag dieselben Lieder auf ihrer Querflöte spielt, obwohl ihr kein Mensch zuhört. Tigran weiß, daß sie es brauchen, zum Leben. Am Nachmittag besuche ich Ilia. Er war der reichste, ihm gehörten das Handelsunternehmen „Pragma” und eine Privatbank. Es heißt, er habe mehr als zehn Autos besessen und ein Flugzeug. Es heißt auch, er habe große Partys geschmissen, auf Yachten im Mittelmeer. Unterwegs, als ich an ihn denke, habe ich wieder diese Nacht im Kopf, damals, als er unbedingt ein Autorennen wollte. Und dafür ein Taxi anhielt und drei gelangweilte Polizisten bezahlte, damit sie ein Stück Straße freihielten. Dann gab er dem Fahrer des Taxis Geld, ließ ihn aussteigen und setzte sich selbst ans Steuer. Es hatte etwas geschneit und die Straße war glatt. Ilia gewann, weil er wie ein Verrückter fuhr. Der Fahrer im anderen Auto hatte Angst. Ich kaufe rote Blumen. Es ist nicht weit und kaum zu übersehen. Das Grab liegt gleich hinter dem Eingang zum Wagankowski-Friedhof: ein großes, steinernes Blatt mit einem Loch. Ein Symbol für die Kugel, die ihn ins Herz traf. Ein Scharfschütze hat ihn erschossen, als er abends seine Bank verließ. Auf dem Grabstein steht nur die Zeit, die er gelebt hat: 27.2.1967–17.9.1993. Offiziell ist sein Tod immer noch ungeklärt.Der Mittag ist eine gute Zeit, um zum Flughafen zu fahren. Kein Stau, den wir umfahren müssen. Geschneit hat es auch nicht. Und dann drückt Tigran aufs Gas. So wie früher. Ich mache meinen Gurt los, und er macht die Musik laut. Am Flughafen, als wir aussteigen, sagt er: „Du hast dich nicht verändert.” Und ich sage: „Du auch nicht”.