Die Kußräuberin

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Feuilleton
zuerst erschienen am 19. Februar 1906 in Die Fackel, Nr. 196

Aus Tetschen wird gemeldet: „Vor dem hiesigen Bezirksgerichte hatte sich gestern die 18jährige Kellnerin Martha Knebel aus Dresden zu verantworten. Die Genannte hatte in der Nacht vom 25. auf den 26. Jänner auf dem Perron des Bodenbacher Bahnhofes in übermütiger Laune einem fremden Manne einen Kuß gegeben. Der betreffende Herr ließ das Mädchen durch die Bahnhofpolizei verhaften. Der Richter verurteilte die Kußräuberin zu 14 Tagen Arrest, verschärft durch 4 Fasttage. Nach verbüßter Strafe wird die Knebel nach Dresden abgeschoben werden.“

Dies Urteil, das an der Grenze zwischen österreichischer Dummheit und sächsischer Bestialität gefällt wurde, hat sogar die ›Neue Freie Presse‹ beunruhigt. Sie beruhigt nun, nachdem sie in Tetschen „Erkundigungen“ eingezogen hat, die Welt durch die folgende Aufklärung: Die Kellnerin sei „in Wahrheit wegen gewerblicher Prostitution unter den in § 5 des Gesetzes vom 24. Mai 1885 angeführten Umständen verurteilt worden und der von ihr gegebene Kuß nur die Ursache ihrer Anhaltung“. Die Verurteilte „stand schon früher in Dresden unter sittenpolizeilicher Kontrolle“. Nun kann der gute Bürger ruhig beischlafen. Daß die Frauen, die ihm gefallen, dafür „eingespirrt“ werden, muß ihn nicht bekümmern. Es mag ihm gleichgültig sein, ob sie sich post coitum, wo ohnedies alles triste ist, unter den im § 5 des Gesetzes vom 24. Mai 1885 angeführten oder in anderen Umständen befinden. Martha Knebel ist offenbar dem 4. Absatz jenes Paragraphen zum Opfer gefallen: „Wenn solche Frauenspersonen (die mit ihrem Körper unzüchtiges Gewerbe treiben) durch die Öffentlichkeit ein auffallendes Ärgernis veranlassen u.s.w.“ Das auffallende Ärgernis war der Kuß, den der brave Mann auf dem Perron als unerträgliche Schmach empfand. Ohne diesen Kuß hätte Martha Knebel ihr Treiben fortgesetzt oder wäre bloß von der Ortspolizei, welche die Prostitution, die sie nicht bewilligt, straft, für ein paar Stunden in Behandlung genommen worden. So aber mußte der Strafrichter einschreiten, und Martha Knebel bekam vierzehn Tage, verschärft durch vier Fasttage. Ich finde die Sache nach der Aufklärung der ›Neuen Freien Presse‹ beunruhigender. Früher konnte man glauben, daß man es mit einem vereinzelten Tobsüchtigen zu tun habe, der das Richtschwert als Dreschflegel handhabt. Nun sehen wir, daß auch dieses Urteil juristisch begründet ward. Das Mädchen, das geküßt hatte und dafür eingesperrt wurde, ist eine Prostituierte. Und bei dem Klang dieses Wortes hält sich die christliche Nächstenliebe die Ohren zu, und bekreuzigt sich die jüdische Journalistik. Aber man würde irren, wollte man die Zufriedenheit mit dem gegen eine Prostituierte verübten Unrecht für einen spezifisch bourgeoisen Zug halten. Auch die ›Arbeiter-Zeitung‹ hat nunmehr ihre vollste Übereinstimmung mit dem Tetschener Urteil ausgesprochen. Der Gerichtsvorstand teilte der Redaktion höflichst mit, daß der Kuß nicht in übermütiger Laune gegeben und die Geberin nicht wegen des Kusses verurteilt wurde, sondern daß sie „eine öfter von der Dresdener Sittenpolizei abgestrafte Prostituierte ist, die schuldenhalber aus Dresden flüchtig geworden war, sich in Bodenbach bereitsseit vierzehn Tagen unterstandslos herumtrieb und schließlich vor dem Bahnhof ihr Gewerbe auf eine schamlose Weise ausüben wollte, indem sie den ankommenden Reisenden um den Hals fiel und sie mitzulocken versuchte“. Hört, hört! ruft das sozialdemokratische Blatt, bringt die Worte, die das Entsetzen der Gesellschaftsordnung wecken sollen, in Sperrdruck und revoziert die scharfe Kritik, die sie „an die falsche Voraussetzung geknüpft“ hat. Denn der Richter hat „ein formell gesetzmäßiges Urteil gefällt“. Daß ein solches die Kritik mundtot macht, ist eine Auffassung, die im Rahmen der ›Arbeiter-Zeitung‹ überraschend wirkt. Und daß dieser gerade die Berufung auf die Dresdener Sittenpolizei imponieren würde, war auch nicht vorauszusehen. Man hätte vielmehr gedacht, das fürchterliche Proletarierschicksal, das die Tetschener Gerichtsbarkeit noch zur Begründung eines Strafurteils ausbeutet, werde in einem sozialdemokratischen Redakteur einen Anwalt finden, der den Herren in Tetschen antwortet: Für so dumm, zu glauben, daß wegen eines Kusses — Unsittlichkeit oder Ehrenbeleidigung? — einer Frau strenge Arreststrafe diktiert werde, sollt ihr uns selbst in Österreich nicht halten. Wir haben bloß das Urteil nicht verstanden, aber sogleich vermutet, daß der Kuß nur der „Anlaß“ gewesen sein konnte. Jetzt, da wir hören, daß es sich um eine gehetzte Prostituierte handelt, verstehen wir das Urteil und finden es grausam. Ohne den Kuß wäre das Mädchen — vielleicht — für einen Tag in den Polizeiarrest gekommen. Nun wurde aber durch den Kuß das „öffentliche Ärgernis“ gegeben, das hierzulande immer entsteht, wenn ein paar Kerzlweiber es empfinden wollen, und in derart kompliziertem Fall „gewerbsmäßiger Prostitution“ schreitet der Strafrichter ein. Es ist wahr, daß das Strafminimum des blödsinnigen Gesetzes ein Monat ist. Indes, wenn die Praxis nicht Jahre in Monate, Monate in Tage verwandelte, würde die österreichische Bevölkerung den Tag, da ihr ein neues Strafgesetz geboren wird, im Arrest verleben. Aber ein Mörder muß bloß an dem Jahrestag seiner Tat fasten und die Prostituierte — dies blieb unberichtigt — viermal in vierzehn Tagen! Nimmer wird uns ein solches Urteil zur stummen Anerkennung seiner „formellen Gesetzmäßigkeit“, zur Rückziehung unserer Kritik bestimmen können. Die bürgerliche Presse — jene ›Allgemeine Zeitung‹ zum Beispiel, die die gemeine Zeitung ist für Alle — mag von der „Milde“ des Urteils in dem Augenblick zu schwärmen beginnen, da sie erfährt, daß es eine Prostituierte getroffen hat. Wir Schützer der Ausgestoßenen finden die judizielle Schärfe, in der sich der pharisäische Haß der „Gesellschaft“ zu vier Fasttagen geformt hat, verdammenswert. Wir sprechen das Opfer der Dresdener Sittenpolizei frei und klagen eine staatliche Ordnung an, die die Ausbeutung der Weiblichkeit an dem Weib ahndet, die so der „schamlosen Ausübung der Prostitution auf einem Bahnhof“ Vorschub leistet, und die schließlich in ihrer perversen Gerechtigkeit den Hunger mit vier Fasttagen bestraft!