Ist Sharing Caring?

von 
Essay
zuerst erschienen Oktober 2012 in Vitra Workspirit Nr. 1
Über den Rückgang menschlicher Herrschaftsbedürfnisse

Ich erinnere mich, dass ich 2006 das erste Mal meine Wohnung auf Craigslist stellte, um sie parallel zu einem längeren Auslandsaufenthalt vermieten zu können. Damals kamen die ersten Easy-Jet-Touristen nach Berlin und ich finanzierte über die Vermietung meinen gesamten Urlaub. Dass ich überhaupt acht Wochen durch die Welt reisen konnte, lag an meiner spontan ausgesprochenen Kündigung, die durch das Lesen von Holm Friebes und Sascha Lobos´ Buch „Wir nennen es Arbeit“ initiiert worden war. Darin beschrieben sie eine Zukunft, die - auf Basis der neuen Technologien – den Traum vom selbstbestimmten Arbeiten verwirklichen würde.

Sechs Jahre ist meine persönliche Befreiungsgeste mittlerweile her. Aus den anfänglich kritisch beäugten Theorien der beiden Vordenker, Friebe und Lobo, ist Realität geworden, Airbnb hat Craigslist abgelöst und ein ganzes Untervermietungsimperium geschaffen. Vor meiner Haustür werden meterweise Parkplätze an Car-Sharing-Unternehmen vergeben und auf dem Tempelhofer Feld in Berlin teilen sich Stadtmenschen Ackerland, um dieses gemeinsam zu bewirtschaften. Solche Tendenzen wirken im Angesicht des existierenden Turbokapitalismus und Individualitätsterrors irritierend und surreal. Schließlich rechnet man mit einem altruistischen Teilungsbedürfnis während einer wirtschaftlichen Krise doch als aller Letztes. In einer Zeit, in der man instinktiv ans Horten denken könnte und den letzten Pfennig umdrehen will, entwickelt sich, entgegen aller kulturpessimistischen Ausführungen unserer Gegenwart, ganz offensichtlich eine große Bereitschaft seinen Besitz zu teilen.

Dieser scheinbaren Widersprüchlichkeit soll sich dieses Essay widmen. Es soll die Begriffe „Besitz“ und „Teilen“ gegenüberstellen und den Menschen in seinem Verhältnis zu beiden Dingen verorten.

In der juristischen Fachsprache bezeichnet der Begriff „Besitz“ eine tatsächliche Sachherrschaft. Er sagt noch nichts darüber aus, ob der „Besitzer“ jener Sache Eigentümer ist. Somit kann ein Eigentum mehrere Besitzer haben, zum Beispiel durch Leihgabe oder Diebstahl.

Sharing ist nichts anderes als eine kontinuierliche, immer wiederkehrende Leihgabe unter unterschiedlichen Besitzer. Der einzige Unterschied ist, dass das natürliche Bedürfnis Herrschaft über einen Gegenstand ausüben zu wollen, beim Prozess des Sharings gegen Null geht. Der Akt des Sharings und das Bedürfnis zu besitzen, schließen sich prinzipiell aus. Aber was bedeutet diese Tatsache für den Menschen? Wohnt ihm das Bedürfnis nach Herrschaft nicht inne? Ist der Wert eines Gegenstands nicht eng verknüpft mit dem Gefühl ihn zu besitzen? Was kann uns der Endowment-Effekt über unsere Sharing-Qualitäten verraten und brauchen wir nicht Objektbeziehungen für den sicheren Ausbau unseres Selbst?

Du bist, was Du besitzt

Der Künstler Michael Landy zerstörte 2001 seinen gesamten Besitz. Mehr als 7000 Dinge, darunter seine Geburtsurkunde und der Schaffellmantel seines Vaters, wurden in einem Schredder zerkleinert und anschließend pulverisiert.

Diese Idee hätte von mir stammen können: Auch ich träume manchmal davon vor meiner brennenden Wohnung zu stehen und alles in Flammen aufgehen zu sehen. Dieses Gedankenexperiment habe ich bereits an die hundert Mal in meinem Kopf wiederholt. Immer mit ein und demselben Ergebnis: Ich werde nichts vermissen. Mein Leben ist an keinen einzigen Gegenstand gebunden. Meine Mutter nennt diese Charaktereigenschaft gerne kaltherzig. Ich nenne mich frei.

Nach wie vor vermiete ich meine Wohnung, sobald ich in den Urlaub fahre. Wenn mein Umfeld davon erfährt, muss ich immer ein und dieselbe Frage beantworten, nämlich, was ich mit meinen „persönlichen Gegenständen“ machen werde. Meistens sage ich, dass ich vorhabe sie in eine Kiste zu packen – aber eigentlich ist das gelogen. Denn ich habe keine „persönlichen Gegenstände“ und was vielleicht gravierender ist: ich weiß nicht einmal, was das genau sein soll. Sind es Bücher, Handtücher, Unterlagen, Kleidung oder ist es die Haarbürste?

In einem ungeahnten Ausmaß definieren wir uns heutzutage darüber, was wir besitzen. Wir generieren Subjektivität mithilfe von Objekten. Selbst die Zahnpastasorte, die wir benutzen, soll etwas über uns aussagen. Alles schreit „Das bin ich!“. Jede Faser an unserem Körper, jeder Gegenstand in unserer Wohnung und selbst die Farbe unseres Fahrrads soll dem anderen vermitteln, was uns ausmacht. Dies alles geschieht aus einem natürlichen Bedürfnis heraus, das nicht per se verurteilt werden darf. William James, der sich schon Mitte des 19.Jahrhunderts mit der Identität des Selbst beschäftigte, definierte dieses wie folgt: „Im weitestmöglichen Sinn ist das Selbst die Summe all dessen, was ein Mann sein Eigen nennen kann, nicht nur seinen Körper und seine psychischen Kräfte, sondern auch seine Kleidung und sein Haus, seine Frau und seine Kinder, seine Vorfahren und Freunde, sein Ruf und seine Arbeit, seine Ländereien und Pferde, seine Yacht und sein Bankkonto.“ (James 1890, 291, Übersetzung der Autorin). Menschen hängen an ihren Besitztümern. Nicht nur, weil sie darüber ihre eigene Identität definieren, sondern auch aus neurologischen Gründen. Bereits vor 32 Jahren entdeckte der Ökonom Richard Thaler, dass Menschen den Dingen, die sie besitzen einen zumeist unangemessenen Wert zuschreiben. Der sogenannte Endowment- oder Besitztumseffekt besagt, dass wir ein Gut, das wir unser eigen nennen, für wertvoller halten als ein identisches oder vergleichbares Gut, das nicht zu unserem Eigentum zählt. 2008 wiesen Neurowissenschaftler den Endowment-Effekt selbst im Gehirn nach. Demnach geht es dabei weniger darum, dass der Wert durch die Anziehungskraft des Eigentums verstärkt wird, sondern, dass der Besitz den Wert der Dinge vor dem Hintergrund ihres Verlustes multipliziert.

Ich kann nichts verlieren, das ich nicht besitze

Mein Endowment-Wert scheint niedrig zu sein, denn, dass ich bei jeder Vermietung mindestens einen Gegenstand verliere – durch Diebstahl oder Bruch – stört mich nicht im Geringsten. Letztens fragte mich ein Freund, was aus meinen Wertgegenständen wird, die ich in meiner Wohnung zurücklasse und ich antwortete: „Wenn jemand das dringende Bedürfnis verspürt, meine Stereoanlage zu stehlen, dann muss er das tun.“ Damit unterscheide ich mich natürlich grundlegend von den meisten anderen. Wichtig anzumerken ist an dieser Stelle, dass moderne Sharing-Programme die Möglichkeit etwas zu verlieren, prinzipiell ausschließen. Denn, was ich nicht besitze, kann ich auch nicht verlieren: Das ist beim Car-Sharing genauso der Fall wie beim Benutzen des Musikportals Spotify. Dort wird der Besitz unter allen gleich verteilt. Meine Herrschaftsansprüche und Verlustängste können demnach gar nicht erst entstehen. Wenn eine Sache also niemals in meinem Besitz war, habe ich auch keine Beziehung zu ihr aufgebaut. Die „Musik-Cloud“ ermöglicht einen besitzlosen und frei zugänglichen Raum, indem es zu keinerlei Herrschaftsansprüchen kommen kann. Anders, als wenn ich meine CD verleihen müsste. Durch den digitalen Zugang beeinflussen die Konsumenten, der von mir hochgeladenen Musik, nicht mein eigenes Verhalten oder Leben. Ich bekomme ja nicht einmal mit, ob meine Musik von einem anderen Menschen gerade gehört wird. Selbst beim Car-Sharing-Unternehmen verschwimmen die Grenzen zwischen besitzen und benutzen. Da sich immer mehrere Autos in Betrieb befinden, kann ich nicht mehr unterscheiden, in welchem Auto ich am Morgen zur Arbeit gefahren bin und in welchem ich am Abend zurückfahre.

Fromm beschrieb 1976 den neuen Menschen, als einen, der „Freude aus dem Geben und Teilen, nicht aus dem Horten und der Ausbeutung anderer {schöpft}“. Haben wir uns vom „Haben“ zum „Sein“ entwickelt? Ist die Shareness-Bewegung ein weiterer Schritt, quasi das Ende der „Sach-Sklaverei“ oder der „Ding-Kolonisierung“?

Offensichtlich ist, dass Sharing-Systeme auf clevere Art und Weise das menschliche Herrschaftsbedürfnis austricksen. In der Gesellschaft spiegelt sich dies vorerst als wünschenswerter Altruismus wider. Ob diese Tendenzen wirklich einem neuen Gutmenschentum geschuldet sind oder viel mehr als Ergebnis einer fehlenden Identifikation mit den zu benutzenden Dingen gewertet werden müssen, bleibt abzuwarten.

Teilen bringt Profit

Als logische Konsequenz aus den Errungenschaften und Entwicklungen der letzten Jahrzehnte deutet sich eine Modernisierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse an. Was Holm Friebe und Sascha Lobo Mitte 2000 proklamierten, ist Realität geworden. Das Internet hat den Menschen aus seiner Ortsgebundenheit befreit. Die wirtschaftlichen und demografischen Veränderungen – besonders in Nord- und Westeuropa – werden zu einer Umwertung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeziehung führen.

Das alte Model der linearen Biografie und der lebenslangen Festanstellung ist nicht nur verstaubt, sondern steht der Kreativität im Weg. Arbeitgeber haben längst erkannt, dass die aus 60-Stunden-Woche und Arbeitsplatzgefängnis resultierende Betriebsblindheit, die Möglichkeiten des Unternehmens unterminiert. Ein Arbeiter, der die Regeln und den Stil der Firma (Friebe, Lobo 2006, 57) so sehr aufgenommen hat, dass ihm der Blick auf Neues und Wesentliches verborgen bleibt, riskiert den Erfolg des Unternehmens. Arbeitgeber können nicht nur von den Erfahrungen der Arbeitnehmer und ihrer unterschiedlichen parallel ausgeführten Tätigkeiten profitieren, sondern sie verhindern eine innere Emigration, die durch eine tiefsitzende Unzufriedenheit ausgelöst wird.

Die Angst davor, dass die Freiheit der Arbeitnehmer dem Unternehmen schaden könnte, wird durch etliche Studien widerlegt. Viel gefährlicher ist der praktizierte „Dienst nach Vorschrift“, der jedweden kreativen Prozess aufhält und das Unternehmen in den Ruin führen kann. Das Teilen der Arbeitszeit- und kraft auf unterschiedliche Arbeitgeber kommt also Beiden zugute – dem Unternehmen und dem Arbeitnehmer.

Dass die Sharing Economy längst kein Nischenthema mehr ist, zeigen weitere Entwicklungen wie zum Beispiel das Crowdsourcing, zu dem auch Crowdfunding und Coworking gehören. Der postmaterialistische Trend ein Projekt gemeinsam zu bearbeiten und so ein schnelleres und besseres Ergebnis zu erzielen, wird insbesondere bei den jüngeren Zielgruppen mittlerweile als Selbstverständlichkeit betrachtet. Die Zeiten, in denen jede Handlung und jeder Gegenstand mit einem Copyright versehen werden musste, um so seinen eigenen Wert zu definieren, gehören der Vergangenheit hat. Eine Generation, die mit Crowdsourcing Plattformen wie Wikipedia oder OpenStreetMap aufgewachsen ist und von diesen täglich profitiert, hat verstanden, dass gemeinschaftliches Arbeiten, ohne Ego-Stempel am Ende jedem nutzt.

Natürlich ist das Teilen an sich kein neuer Zug des Menschen. Die technischen Fortschritte haben lediglich das Potential verstärkt. Wenn früher ein ganzes Dorf gemeinsam an einem „Non-Profit-Projekt“ arbeitete, dann ist heute die gesamte Netzgemeinschaft daran beteiligt. Diese Tatsache wird besonders durch das Crowdfunding sichtbar. Auf Plattformen wie Startnext oder Pling können größere und kleinere Projekte von einer Gemeinschaft teil oder gänzlich finanziert werden. Ein riesiger Gewinn, nicht nur für den Projektinhaber. Schließlich entstehen dank der finanziellen Mittel wieder neue Arbeitsplätze. Der so genannte „KoKonsum“ verabschiedet sich von alten Werten, die altbacken und überholt sind. In den Fokus rücken dafür Dinge wie Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Kreativität

Zukunft mit Ausblick

Ich arbeite mittlerweile für ein zukunftsweisendes Unternehmen in Teilzeit. Diese Form der Tätigkeit hilft mir dabei, meine Erkenntnisse und Erfahrungen aus allen anderen Bereichen meines Schaffens direkt in meine Arbeit einfließen zu lassen. Der Schreibtisch, der zwei Tage in der Woche frei bleibt, wird von einer Freelancerin benutzt, die sich um den Social-Media-Bereich kümmert.

Ich bin nicht mehr der Besitz einer Firma und dieses Gefühl gibt mir möglicherweise den Freiraum auch selbst nicht mehr besitzen zu müssen. Schließlich muss ich mich nicht mehr „Freikaufen“.

Vielleicht ist diese stattfindende Gegenreaktion auf den Turbokapitalismus wirklich der Beginn einer neuen Zeit, in der das „egomane Besitzen“ dem „gemeinschaftlichen Teilen“ weichen muss.