Unterwegs 1956

Reisebericht
unveröffentlicht

Mein Studium an der Kunstschule hatte ich beendet, Aussichten auf den Einstieg ins Berufsleben boten sich natürlich nicht. Zumindest nicht nach meinen Vorstellungen, und erst recht nicht dort, wo ich wohnte: in Berlin. Wohl aber im „goldenen“ Westen – glaubte ich.

Spätsommer 1956. Vater lebte und arbeitete in Hamburg und machte mir tatsächlich wundervolle Hoffnungen auf einen Job, den ich dort jederzeit finden würde. „Lass mich nur machen. Bei meinen Beziehungen…“ Was mich denn in der Inselstadt Berlin also eigentlich noch hielte?

Zweierlei hielt mich. Meine junge Freundin zum einen, eine noch nicht erfüllte Zahlungspflicht zum anderen. Die betraf ein auf Raten gekauftes Auto, einen klapprigen Opel Baujahr 1937. Für mühsam in studentischer Stundenarbeit erschuftete 250 Mark hatte ich ihn mir angelacht, aber 100 schuldete ich dem Autohändler noch. Nun, Vater erbot sich, die Sache zu regeln: Ihm lag viel daran, den Jungen zu sich nach Hamburg zu holen.

Es überraschte weder mich noch alle, die mich kannten, dass meine Freundin Antje mich auf der Fahrt nach Hamburg im Opel begleiten würde. Ob dies unseren Abschied voneinander erschweren oder erleichtern würde, blieb abzuwarten. Mein nicht sehr umfangreiches Gepäck, dessen Hauptbestandteil die Mappe mit meinen grafischen Bewerbungsarbeiten darstellte, erlaubte ohne weiteres die Zuladung meines Zeltes und einiger weiterer Übernachtungsutensilien, denn ob wir die Fahrt von Berlin nach Hamburg an einem einzigen Tage bewältigen würden, war nicht sicher. Der Opelveteran schaffte höchstens 75 Kilometer pro Stunde, und mit der einen oder anderen Panne hatten wir unterwegs vermutlich zu rechnen.

Ich verließ also Berlin. „Keine Stadt hat weniger Lokalpatriotismus als Berlin. Tausend miserable Schriftsteller haben Berlin schon in Prosa und Versen gefeiert, und es hat in Berlin kein Hahn danach gekräht, und kein Huhn ist ihnen dafür gekocht worden. Und man hat ebenso wenig Notiz davon genommen, wenn irgendein After-Poet etwa in Parabasen auf Berlin losschalt. Wage es aber mal jemand, gegen Polkwitz, Innsbruck, Schilda, Posen oder andere Hauptstädte etwas Anzügliches zu schreiben! Wie würde sich der Patriotismus dort regen! Der Grund dafür ist: Berlin ist gar keine Stadt, sondern gibt bloß den Ort dazu her, wo sich eine Menge Menschen, und zwar darunter viele Menschen von Geist, versammeln, denen der Ort ganz gleichgültig ist; diese bilden das geistige Berlin. Der durchreisende Fremde sieht nur die uniformen Häuser, die langen, breiten Straßen, die nach der Schnur und meistens nach dem Eigenwillen des einzelnen gebaut sind und keine Kunde geben von der Denkweise der Menge. Nur Sonntagskinder vermögen etwas von der Privatgesinnung der Einwohner Berlins zu erraten… Es sind wahrlich mehrere Flaschen Poesie dazu nötig, wenn man in Berlin etwas anderes sehen will als tote Häuser und Berliner. Es ist schwer, Geister zu sehen… Die Stadt enthält so wenig Altertümlichkeit und ist so neu, und doch ist dieses Neue schon so alt, welk und ausgestorben…“ Das ist nicht von mir, sondern von dem Dichter Heinrich Heine, der sich in dieser Form in einem 1828 erschienenen Buch äußerte, das eigentlich seine Reise nach Italien beschreibt.

Ich vermag die Frage, ob ich für Berlin patriotische Gefühle besaß, nicht mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten. Ganz generell stellt sich die Frage, wo ein Mensch sich zu Hause fühlt, oder wo er sich am liebsten zu Hause fühlen möchte. Die Psychologin Carola Nisch hat einmal gesagt, jeder Mensch habe ein emotionales Zuhause, wobei sie dieses Zuhause nicht als einen geografisch definierbaren Ort verstanden wissen wollte. Sondern als einen Platz, der sich aus anderen Parametern relativiert.

Meine Freundin und ich starteten also an Bord jener alten Cabriolimousine, die sich auf die Reise freute wie wir, in Richtung Avus und Transit-Autobahn. Für die nächsten zwei Tage war erst einmal der Opel unser emotionales Zuhause.

Nervosität kam auf, als der Motor nicht wieder anspringen wollte, nachdem ich ihn am deutsch-deutschen Kontrollpunkt Berlin-Dreilinden ausgeschaltet hatte. Der DDR-Grenzpolizist hatte unsere Interzonenpässe und die Fahrzeugpapiere geprüft und seinen Zeitvermerk in den obligatorischen Durchfahrtsschein für Autobahn nach Helmstedt gemacht. Warum wollte sich denn jetzt der verflixte Motor nicht mehr starten lassen?!

„Nu fahrnse schon, die Leide hindo ihn’n wolln ooch drangomm!“ schimpfte der Grenzer, doch auf meine hilflose Geste hin winkte er zwei Kollegen herbei, und zu dritt schoben sie uns durch den geöffneten Schlagbaum… zweiter Gang rein, Kupplung raus, etwas Gas… schon lief der Vierzylinder wieder. Der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht, überlebensgroß von Plakatwänden hinter uns grüßend, verschwand langsam im Rückspiegel.

Eine weitere ungeplante Fahrtunterbrechung ergab sich nur wenige Kilometer vor Erreichen des Grenzübergangs Marienborn-Helmstedt. Mehrere Male hatte Antje gefragt, was das denn für ein Klappergeräusch sei rechts neben ihr. Das sind die Kurbelfenster! sagte ich. Nee, die sind das nicht. Dann vielleicht der Türgriff? Antje rüttelt an ihm: der sitzt ganz fest. Die Frage beantwortete sich von selbst, als uns plötzlich ein Rad rechts überholte (an Tempo genügte dazu nicht viel) und im Eitertanz rechts im Gebüsch neben dem Seitenstreifen verschwand.

Das im vorderen Kotflügen platzierte Reserverad! Die Drehknebel-Befestigung hatte sich durch das Hüpfen des Wagens auf dem holprigen Belag der Autobahn soweit gelockert, dass es beim Eintauchen in ein besonders tiefes Schlagloch keinen Halt mehr hatte, aus der Kotflügelmulde sprang und zu desertieren versuchte. Ich brachte das Auto zum Stoppen, ließ vorsorglich den Motor laufen und suchte im Gebüsch mein kostbares Rad. Das fand ich auch, befestigte es wieder, wo es hingehörte – und weiter ging die Reise, nachdem wir noch eine Wurststulle verzehrt und etwas Kühlwasser nachgefüllt hatten. Während der Rettungsaktion und der kleinen Brotzeit hatte uns ein gutes Dutzend Lastwagen in gefährlich dichter Vorbeifahrt überholt, Personenwagen sowieso und das auch schon vorher; unsere Fuhre stellte ein Verkehrshindernis selbst im Land der IFA-Zweitakter dar, und wenn wir ein Lächeln im Gesicht der Lkw-Fahrer wahrnahmen, dann galt dies wohl meiner attraktiven Beifahrerin, die, vom Hochsitz eines Lastwagens aus durch das offene Dach meiner Cabriolimousine betrachtet, in ihrem Sommerkleidchen, dessen Petticoat der Fahrtwind aufplusterte, einen erfreulichen Anblick geboten haben dürfte.

Marienborn: Verehrte Reisende, Sie verlassen jetzt den demokratischen Arbeiter- und Bauernstaat, bitte halten Sie ihren Durchfahrtsschein bereit! Mit dem unseren verschwand der diensttuende Stiefelknecht in seiner demokratischen Arbeiter- und Bauern-Baracke. Herzklopfen. Was hatte das zu bedeuten? Ich bat meine Beifahrerin, den Petticoat möglichst weit hinaufzuschieben, um den Kerl, wenn er wiederkäme, durch den Anblick hübscher Mädchenbeine mit Straps-Nylons freundlich zu stimmen, welch schlimme Botschaft er uns auch immer überbringen würde.

Wo wir die ganze Zeit verbracht hätten, wollte er wissen, die Darbietung meiner Beifahrerin scheinbar nicht wahrnehmend. Laut Durchfahrtsschein hätten wir bereits vor spätestens 40 bis 50 Minuten eintreffen müssen. Ich erzählte ihm die Geschichte mit dem verlorenen und wieder eingesetzten Reserverad. Ob mir bewusst sei, dass ich damit in drei Punkten gegen die für Transitstrecken bestehende DDR-Verordnung verstoßen habe? Erstens: Verkehrsunsicheres Fahrzeug. Zweitens: Unerlaubtes Anhalten und drittens: Durchführen einer Reparatur auf ungesicherter, freier Strecke. Macht je Verstoß zehn Mark, in Westwährung selbstverständlich. Eine solche Belastung hätte unsere Reisekasse kaum vertragen, das kapierte auch Antje sofort, und sie reagierte fabelhaft. Sie zeigte noch ein wenig mehr Bein… fast ein wenig über die Grenze des Schicklichen. „Ich will Ihnen de Vörwannungsgebihr ausnohmswäse orlassen,“ tönte, genauso wie ich es erhofft hatte, der Uniformierte endlich, nachdem er Antjes Wäscheschau hinlänglich genossen hatte. Zwei Sätze hörte ich ihn noch sagen. Den einen kannte ich bereits: „Nu fahrnse schon, die Leide hindor ihn’n wolln ooch drangomm!“ – und den anderen, etwas leiser zu mir durchs offene Türfenster gesprochen, hörte ich ebenso gern: „Mensch, hasd du ne heiße Braut“ (warum sächselten eigentlich alle DDR-Grenzer?).

Die erlassenen 30 Mark wurden wir wenig später dennoch los, sogar das Dreifache davon: Bei der Opel-Werkstatt Maussner in Celle. Und hier hätte es sicher wenig Zweck gehabt, es an der Kasse mit derselben Masche wie in Marienborn noch einmal zu versuchen, zumal mir die Firmenseniorin persönlich die Rechnung überreichte. Das Ersetzen des gebrochenen Novotex-Stirnrades am Motor unseres Opel schlug mit 90 Mark zu Buche.

Denn auf der Landsraße kurz vor Zelle hatte der Motor plötzlich zu schnurren aufgehört, ein unangenehmes Geräusch der Fahrt ein Ende gemacht. Ein mitfühlender Automobilist war so gut, uns zu Maussner abzuschleppen. In der Werkstatt hatte man bereits Feierabend gemacht. Da stand nun emotionales Zuhause, das wir nach weniger als zwölf Stunden schon wieder verlassen mussten!

Jetzt trat meine bewährte Campingausrüstung in Aktion. Die mitzunehmen war eine Vorsichtsmaßnahme, die sich jetzt bewährte. Denn einen Gasthof aufzusuchen, hätten wir uns nicht leisten können. Der nächstgelegene Zeltplatz nannte sich „Zum Silbersee“, ein Mückentümpel, zu welchem uns ein freundlicher Maussner-Opelaner hinzufahren erbot, um uns am nächsten Morgen dort auch wieder aufzusammeln.

Bei Maussner ließen wir unsere letzten großen Scheine. Das verbliebene Geld reichte danach nur noch für eine Tankfüllung, aber der reparierte Opel lief wenigstens wieder und schaffte es mit dem letzten Tropfen Sprit gerade noch bis zur Gartenpforte meines in Hamburg voller Unruhe wartenden Herrn Papa. Schließlich waren wir 24 Stunden überfällig…

Falls von Interesse: Eine Anstellung als Werbegrafiker verschaffte mir mein Vater, wie er versprochen hatte, tatsächlich. Mein Freundin war nach zwei Tagen nach Berlin zurückgereist, mit der Bahn (die Fahrkarte spendierte ihr mein Vater, weil er befürchtete, das hübsche Mädel würde sonst per Autostopp reisen, was ja so gefährlich sein sollte). Und der Opel Baujahr 1937 tat noch ein weiteres Jahr lang seine Pflicht, ehe er irreparabel auf einem Schrottplatz in Altona landete. Er hätte einen besseren Lebensabend verdient gehabt.