Interrail

Reisetagebuch
zuerst erschienen 2004 in der taz

Überall blinkt es: Warszawa

Samstag, 15.58 Uhr. Schnell noch eine Wahl: Ein Kreuz auf dem Briefwahlbogen für die Europawahl. Es ist eine Sympathiewahl. Los, jetzt, schnell in siebzig Minuten startet der Berlin-Warschau-Express am Ostbahnhof. Ich stemme den Rucksack auf meinen Rücken, zum ersten Mal, er ist natürlich viel zu schwer.

Samstag, 19.54 Uhr. Langsam rollt der Zug aus Poznan, halbe Strecke nach Warschau. Mir gegenüber sitzt Jarek, ein Elektriker, 55, der die letzten zwei Monate in Deutschland gearbeitet hat und jetzt nach Hause zu Frau und erwachsener Tochter fährt. Durch das Fenster rauscht vorbei eine Volkswagenfabrik, McDonald’s, ein riesiges Lager der Lebensmittelkette Tesco. Jarek sagt: „Wir sind die zweiten Albaner.“ Er malt ein dunkles Bild von Polen. Und liebt doch seine Heimat. Weite Natur zieht vorbei, dazwischen kleine Häuschen, unbeschrankte Bahnübergange. Das Gras steht in sanften Wellen. Jarek sagt, bald ist Sommer.

Samstag, 22.35 Uhr. Warszawa Centralna Station, vor einem Imbiss sitzen drei Jungen trinken Królewskie-Bier, im Hintergrund läuft ein Fernseher. CNN Breaking News, Ronald Reagan ist tot. Ich nehme ein Taxi ins Hotel Metropol. Die Spitze des Palasts für Kultur und Wissenschaft liegt im Nebel. Überall blinkt es, Olympus, Sharp und Agfa.

Sonntag, 10.11 Uhr. Im Metro-Jazzclub, wo das Frühstück serviert wird, läuft J-Lo, Jenny from the Block, und Jana, das Mädchen hinter der Bar, hat dunkle Ringe unter den Augen.

Es wartet der Bonanza-Zug: Krakau

Sonntag, 15.47 Uhr. Letzter Blick auf Warschau: Neben mir steht ein Policija-Auto, darin ein großer Kerl, meinen Ausweis in der Hand. Er prüft genau, notiert jeden Buchstaben in seinem Notizbuch. Ich habe ein Vergehen begangen, aber es gibt Gnade. Next time use Zebra.

Sonntag, 18.20 Uhr. Der Intercity Warschau-Krakow steht auf freier Stecke. Draußen ist es leicht hügelig, die Felder so knallgrün, dass es weh tut.

Sonntag, 20.13 Uhr. Auf dem Marktplatz in Krakow, genannt Rjnek Glownj, spielt eine Band die Beatles, Let it be auf Polnisch. Zwei Kinder tanzen. Das Mädchen will den Jungen zum schönen Walzer führen, der steppt lieber Gabba, allein. Erstaunen in ihrem Gesicht.

Montag, 1.10 Uhr. Mein erstes funny word aus Polen: Ale Jazda. Es ist ein Geschenk von Tadeusz, einem 23-Jährigen, der bald nach Tel Aviv zieht. Die Bedeutung: Etwas, meist ist die Party gemeint, etwas reitet auf einem wilden Pferd. So wie jetzt. Wir sitzen im Klub Kitsch in tiefen Ledersesseln, ein alter Aphex-Twin-Track splittert ins Ohr, Barpek bringt neuen Zubruwka, grünen Wodka aus Gräsern.

Montag, 11.05 Uhr. Am Bahnhof wartet ein Bonanza-Zug, so das Wort für langsame Abenteuerzüge. Meiner fährt nach Katowice, Zwischenstation auf dem Weg nach Prag.

Ein Tyskie-Bier auf die Kokratie: Prag

Montag, 12.05 Uhr. Im Zug wieder das Paar aus Atlanta, das in Krakau im gleichen Hostel war. Er filmt mit einer DVD-Kamera und fragt: Are you also going to the Death Camp of Oswiecim?

Montag 20.09 Uhr. Das Handy zeigt an: Eurotel-CZ, Prelouc a okoli. Tschechisch ist eine ferne Sprache, die Wagen rollen langsam. Ich trinke lauwarmes Tyskie-Bier aus Polen und stelle mir vor, alles was ich sehe, wäre eine Illusion und die Welt regiert von der Pharma Kokratie. Neben mir liegt ein Stanislaw-Lem-Buch Der futurologische Kongress.

Montag, 21.23 Uhr. Ankunft in Praha Hlavni Nadrazi. Ein schöner Bahnhof aus den Siebzigern. Mitten in der Halle blinken Spielautomaten. Auf der Balustrade zeigen kleine Jungen ihre Spitzenunterwäsche.

Dienstag 0.49 Uhr. Im Hof des Golden Sickle Hostel sitzen: Lisa, Rebecca, Ann aus Chicago (16 Tage Europa, Amsterdam, Prag, Barcelona, mit dem Flugzeug) und ich.

Ann: I’ve got roots in Europe. My mother was born in a displaced persons camp. But she is not really calling that her home.

Lisa: Can we talk german? Ich habe gelernt für vier Jahre.

Henning: Hast du vor deiner Reise den Film The rules of attraction gesehen?

Lisa: Is that the one with Pierce Brosnan?

Rebecca: Can I spliff?

Dienstag, 1.55 Uhr. Henning, how old are you?, fragt Lisa im Dunkeln. Ich liege auf meiner Matratze im Schlafsaal, aus dem Kopfhörer, der um den Hals hängt, rappt Kool Savas einen alten Westberlin-Maskulin-Song. Mein Gedanke: Exit Wien.

Deftig schmeckt am besten: Budapest

Mittwoch, 15.50 Uhr. Der Zug nach Budapest steht. Ich sitze im dritten Wagen, Großraum, Nichtraucher. Links neben mir flirtet eine Reisebekanntschaft. Er, Winzer aus Limburg, kurz vor 70, sie, rote Hosen, helle Jeansjacke, spricht schlecht, aber vehement deutsch. Sie: Können Sie kaufen am besten Wurst. Er: Deftig schmeckt mir am besten.

15.55 Uhr. Eine Durchsage. Die Verspätung wird entschuldigt (nicht dafür). Grund war ein Problem mit der Klimaanlage im Speisewagen (aha).

19.25 Uhr. Riesige Schlaglöcher schütteln den Minibus. Der Fahrer rast über rote Ampeln. Wir fahren ins Hotel Forum.

20.08 Uhr. An der Bar. Drei aus Oslo erzählen von schönen ungarischen Mädchen und fragen mich nach meiner Meinung zur Fußball-EM. Ihre Augen sind ganz starr und weiß.

23.25 Uhr. Lobby: Ein Junge aus Boston fragt das Mädchen hinter der Rezeption: Have you ever been out of Hungary? Aus dem Fernseher keift Anke Engelke.

Code Orange: Belgrad

Donnerstag, 18.50 Uhr: Am Horizont trennt ein orangenes Feuer Himmel und Erde. Das Handy lokalisiert: Novi Sad. Endlos lange Güterzüge stehen, Arbeiter laufen auf den Schienen.

19.02 Uhr: Langsam zieht die österreichische Lok die Wagen über die eingleisige neue Donaubrücke. Von der alten hat Top Gun nur die Brückenköpfe übrig gelassen. Angler sitzen am Ufer. Die Erdölfackel ist jetzt ganz nah. Aus dem Kopfhörer flüstert eine Frauenstimme. Auf der neuen Eddie-Richards-Mix-CD: Glow Orange, glow Orange.

19.51 Uhr: Über einem riesigen roten Mohnfeld fliegen Menschen durch die Luft. Sie sitzen in Ultraleichtflugzeugen, die von einem kleinen Grasflugplatz starten.

20.11 Uhr: Der Zug schießt aus dem Tunnel, und da ist Belgrad. Links riesige braune Wohnburgen, die Fassaden bunt verziert mit zum Trocknen gehängter Wäsche. Rechts verknotete Hochstraßen, auf denen Autos rasen. Darunter Slums. Wellblechhütten, dunkle Menschen. Kinder rennen hinter einem Ball her.

22.18 Uhr: Ich liege auf dem Bett und irgendwo explodiert ein Feuerwerk. Im Fernsehen gibt es das Bild dazu. Eine politische Kundgebung, am Samstag ist in Serbien Präsidentschaftswahl. Gesänge, rhythmisches Klatschen. Serbia, Serbia. Die Frau des Kandidaten ist straff geliftet.

Die goldenen Limonen: Athen

Samstag, 23.58 Uhr. Das populärste funny word in Griechenland: Malaka, ein schmutziges Wort an einen Freund gerichtet, aber in einem netten Sinn. Sagt zumindest Jannis, der in einer Bar in Plaka arbeitet und angenehm starke Gin-Tonics mixt. Die Akropolis glänzt golden.

Sonntag, 0.35 Uhr. Jannis lässt eine Flasche Sekt mitgehen, die wir im Laufen trinken. Er wechselt sein schwarzes Comme-des-Garçons-Arbeitshemd gegen ein orangenes T-Shirt mit Sonic-Youth-Print.

Sonntag, 1.31 Uhr. Fünfzehn Euro Eintritt, Trink-Tickets. Eindrucksansturm. Amerikaner tanzen sich wild die Limonen von der Seele. Der DJ wechselt die Eminem-CD gegen Sirtaki.

Sonntag, 1.45 Uhr. Ma-ri-hu-a-na, singt das Mädchens im pinken Tüllrock, ihre Brüste tanzen gegen meine. Ich schüttele den Kopf. Do you have ecstasy? Give some pot please. Ihre Hände umklammern meinen Arm. Sie sind weltallhaft kalt.

Sonntag, 11.47 Uhr. Ich sitze im Innenhof des völlig unerträglichen Jugend- und Travelers-Inn und trinke Sprite. Auf einer Großbildleinwand läuft CNN, ein Nancy-Reagan-Special. Ich muss ans Meer – sofort.

Ein mythisches Bier aufs Meer: Patras

Samstag, 15.46 Uhr. Kurz nach Athen, der Intercity nach Patras rumpelt sich über kurvige Schienen, zur Linken der erste Blick auf das Meer. Blaugrün schimmert tief unten das Wasser. Ein Schiffswrack liegt halb versunken auf Grund. Menschenpunkte strampeln im Wasser. Zwei Düsenjäger zeichnen Kondensstreifen an den Himmel.

Samstag, 23.10 Uhr. Ich sitze auf dem Balkon meines Zimmers in der Pension Nikos, trinke Mythos-Bier und lese im gelben Licht der Straße Georges Bataille. 100 Meter weiter ragen die blauen Wände einer Fähre hoch in den Himmel. Es riecht nach Meer. Die Kreuzung unten gehört dem Car-Cruising. Robbie singt aus dicken Polo-Boxen Rock-DJ.

Sonntag, 23.15 Uhr. Auf dem Nachbarbalkon zündet sich Jack aus Sidney eine Zigarette nach der anderen an. Er fragt nach der German-Autobahn und ist nervös, weil er morgen zu seinen Großeltern nach Korfu fährt, die er zuvor noch nie getroffen hat. Unten wummert Sean Paul aus einem verspoilerten Fiat Punto.

Montag, 13.03 Uhr. Der Strand von Patras ist schmal und steinig, kein Zeigen, Sehen, Haben. Ein dicker Junge mit Schwimmflügeln kämpft gegen die Wellen, die kleine Schaumkronen tragen. In der Ferne: die rote Superfastferry, die mich heute Nachmittag nach Italien schieben wird. Aus meinem Kopfhörer singt Johnny Cash A Satisfied Mind.

Alle Gleise führen nach: Rom

Dienstag, 19.15 Uhr. An der Stazione Trastevere wartet meine Freundin Anna. Sie trägt ein schwarzes Kleid mit schwarzen Punkten und eine riesige Sonnenbrille.

Dienstag, 23.09 Uhr. Spacecowboys auf Zweirädern rasen um das Colosseum. Matteo, Annas Cousin, tritt den Fiat Uno. Aus den Boxen linksradikaler italienischer HipHop. Der einzige, den man hören kann, sagt Matteo und biegt ab in Richtung San Lorenzo. Am Straßenrand tankt ein Ferrari.

Mittwoch, 0.31 Uhr. Das Bild vor einem besetzten Haus, weit draußen, nahe Cinecittá, verschwimmt in hinunterkullernden Tränen. Das Tolle an italienischen Jungs: Sie weinen, wenn sie ihre Freunde sehen. Wir trinken Bier aus Plastikbechern, alle haben lange Haare oder Rastas und sind sehr stolz, Linke zu sein.

Mittwoch, 0.55 Uhr. Drinnen macht allein die Luft ganz piefig bekifft. Zum Reggae-Jam der Bühnenband steppt das Publikum wilden Pogo. Überall die bunten Farben des Regenbogens. Pace, Bob Marley, Hanfblätter.

Überall is Rom, heute hier: noch mal Rom

Mittwoch, 17.05 Uhr. Stazione Termini. Drei geöffnete Schalter für International Travel. Davor eine 50 Meter lange Schlange. Nervöse Füße, gestresste Gesichter. Eine junge Französin, Louis-Vitton-Tasche über der Schulter, weint bitter, laut. Ihr Begleiter erklärt, der Vater ist gestorben. Ein Schalter schließt.

Mittwoch, 17.55 Uhr. Kurz vor dem falling down: Ich bin der Nächste, geöffnet hat noch ein Schalter, davor steht seit fünfzehn Minuten eine Grazie, der silberschläfige Verkäufer hinter Glas sucht in dicken Büchern.

Mittwoch, 18.14 Uhr. Die Grazie ist weg, und mein Mann hat schlechte Laune. Una seat, no bed, im Nachtzug nach Barcelona. So schwer kann das doch nicht sein. Wir starren uns an. Psycho.

Mittwoch, 22.25 Uhr. Große Abendschau vor der Bar Calipso in Trastevere, Style Guide Italia. Jungen, Mädchen mit ständig flatternden Beinen, Armen, Händen stehen dicht zusammen. Alle tragen diese neue Insektenaugenbrille, original design by Dior, beim Händler auf dem Platz ab fünfzehn Euro.

Schlafende, wie geschlachtet: im Nachtzug

Donnerstag, 20.08 Uhr. Das Setting des Trenhotels, mein Aufenthaltsort für die nächsten dreizehn Stunden, Mailand-Barcelona: Niederflurwaggons, schmutzige Ruhesessel in antikem Businessclassdesign. Ich schwenke die Fußstütze nach oben, mir gegenüber Court, Bob und Jerry aus North Dakota, italienische Strohhüte auf den Köpfen, kurze Cargo-Hosen, Camel-Schuhe. Sie gleichen ihre Tagebücher ab. Florence was good, nice girls, we got really drunk. Ich nicke starr und lese im Buch des Lebensfanatikers Dennis Cooper.

Donnerstag, 23.06 Uhr. Der Zug steht in Modane, der Grenzstation zu Frankreich. Aus einer Schlafkabine dringt fremdsprachiger Streit. Ich rauche erschöpft, was nur zwischen den Wagen erlaubt ist. Die Suche nach einem hübschen Gesicht ist unterbrochen, eigentlich schon aufgegeben. Meine Beine stehen im falschen Zug, und es bleibt nur, den Körper auf Roboter zu schalten. Zwei, drei Bier noch, dann schlafen.

Freitag, 5.37 Uhr. Das kleine Mädchen stößt im Schlaf schreckliche Schreie aus. Ich wache auf. In den Sitzen liegen verdrehte Körper wie geschlachtet. Der Blick durchs Fenster gleicht einem heilenden Schuss Vitamin B12. Er geht direkt aufs Meer. Nur ein paar Meter feuchter Sand dazwischen. Über dem schwarzblauen Wasser braunhelles Morgenlicht. Angenehmer Flimmerkontrast. Noch dreieinhalb Stunden bis Barcelona.

Kaviar für die Iris: Barcelona

Samstag, 19.36 Uhr. Dicke Tropfen, schwer wie kleine Geschosse, fallen auf die Straße. Es regnet. Zum ersten Mal auf dieser Reise. Ein schmaler Spielzeugladen ist die Schutzhütte. In der Mitte eine Autorennbahn, sechs Spuren, zwölf Kurven. Meine Finger steuern einen Silberpfeil auf der langen Geraden, anbremsen, enge Kurve, die Zeit spult vor. Lieblingssport, denke ich.

Sonntag, 0.08 Uhr. Ankunft vor dem Raumschiff, eine blaue Blume leuchtet über dem Messezentrum, Rave Planet des Sonar by night. Ein Junge, Sternenschönheit in der Milchstraße ferner Amigos, sieht aus wie der kleine Cousin von Justin Timberlake, Body, Bart und Hut - klar verwandt. Die Freunde schubsen und liebkosen sich, der Hut fällt auf den Boden, 101 Ecstasypillen rollen über den Asphalt.

Sonntag, 2.33 Uhr. Kaviar für die Iris. Lichtpunkte explodieren, Speed treibt meinen Körper. Marek und ich treten aufs Gaspedal des Autoscooters, der im hinteren Teil der Halle aufgebaut ist. Marek, verwaschenes T-Shirt mit Buttsters United-Print, ein Tourist der Euphorie, zu Hause auf der Isle of Wight, hat ein Ziel in seinen wolkigen Augen: zwei Mädchen mit Zwillings-T-Shirt (Born to perform). Wir knallen ihnen lachend in die Seite, sie lachen mit. Über den Drehort flimmert das liebe Böse.

Im spanischen Manhattan: Benidorm

Sonntag, 16.05 Uhr. Geschafft! Als letzter in den Zug nach Alicante gestiegen. Auf dem Bahnsteig wurde das Gepäck durchleuchtet, jetzt reicht der Bordservice ein Glas Champagner, auf den Monitoren flimmert ein Film mit Sidney Poitier. Eine Fahrt mit der spanischen Bahn Renfe ist fast so angenehm wie eine Lufthansa-Kurzstrecke.

Sonntag, 23.05 Uhr. Der Bus rollt langsam durch Hochhausschluchten. Drei Jungen ziehen ihre kurzen Hosen nach unten und zeigen ihre Spielzeugärsche. Hier ist Benidorm, das Manhattan der Costa Blanca, aktuell etwa hundertausend Touristen, Ferienbatterie der europäischen Workingclass. Zwei Polizeiautos mit rot-blauen Lichtorgeln kämpfen sich durch das Verkehrschaos. Aus unsichtbaren Boxen swingt laut Jamelia, Superstar.

Sonntag, 23.37 Uhr. Auf dem Bett liegt Seide. Im Fernsehen schießt Arnold Schwarzenegger einem kleinen rothaarigen Mann in den Kopf. Ich habe ein Zimmer mit Aussicht auf die Skyline. Das Hotel Belroy Palace, Valium sanft. Ich bin sehr müde und fotografiere meine Füße, Blasen an den kleinen Zehen.

Montag, 12.37 Uhr. Auf der Terrasse des deutschen Hauses (Bei Gabi und Hartmut) sitzen außer vier englischen Lads und dem Autor nur Niederländer. Die Kellner sprechen Spanglisch. Dreiunddreißig Grad wärmen die Luft. Das Standardmenü: Bockwurst, Erdinger, Erdbeersahnebecher. Ich lese die ersten Sätze von Paul Bowles. Einstimmung auf Marokko.

Auf der Straße nach Afrika: Gibraltar und Tanger

GIBRALTAR, Dienstag, 9.45 Uhr. Vor dem Bahnhof Algeciras warten drei britische Ladys, eine Koreanerin und ich auf den Bus nach La Linea. Von dort kann man zu Fuß über die Grenze nach Gibraltar. Ein obdachloser Hund versucht an meinen Schuhen zu schlecken. Nach der wachen Nacht im Liegewagen fühlt sich mein Rücken an wie genagelt.

Dienstag, 10.52 Uhr. Der offene rote Doppeldeckerbus fährt über die Winston-Churchill-Avenue und überquert die Landebahn des Flughafens, deren Horizont im Salznebel verschwindet. Vorne ragt hoch in den Himmel: The Rock. Willkommen in Gibraltar, kurz Gib, genau seit dreihundert Jahren Land der britischen Krone. Im Reiseführer steht: Jerusalem of Anglophilia.

Dienstag, 11.20 Uhr. Gibraltar City, Mainstreet, Fußgängerzone, Munchie’s Cafe. Ich kaue an einem appetitlichen Thunfischsandwich, frischen Orangensaft in der Hand. Britisches Produktdesign. Am Nachbartisch teilen sich zwei Damen die Sun und rauchen Silkcut-Zigaretten. Alle haben türkisene Marks-&-Spencer’s-Gibraltar-Tüten in der Hand. Zwei verschleierte Frauen schlendern vorbei, die Dame bemerkt: It must be so hot.

Dienstag, 11.38 Uhr. Die Blokes tragen Schuluniformen, dunkelblaue Stoffhosen, weiße Polo-Shirts. Vor dem Covent-Garden-Room reiben zwei Jungen silbern glänzende Kanonen. Ich höre das neue Beastie-Boys-Album.

Dienstag, 12.58 Uhr. Im Restaurant Top of the Rock riecht es nach Fish n‘ Chips. Affen posen geduldig für Fotos. Möwen schreien. In der Bucht kreuzen mittelgroße Tanker. Der Strand der Südseite verschwindet im Nebel. Das Meer nach Marokko ist ein weißes, weites Wolkenbett, in der Ferne Hügelhäuschen. Dort schon Marokko? Ein schönes Ritalin-Mädchen mit kleinen Rastas kaut nervös auf ihren Fingernägeln.

TANGER, Dienstag, 19.20 Uhr. Ich sitze im Bug der Fähre. Zwei britische Senioren betrinken sich mit Whisky. Eine Großfamilie fährt nach Hause. Kind sagt zu Kind: Du Stinker. Vorne wird Tanger größer, gleich ist Afrika. Ich bin unendlich erschöpft.

Dienstag, 20.38 Uhr. Kahlil, mein Guide, hat mich für ein Taschengeld ins Mamora-Hotel in der Altstadt gebracht. Der Page öffnet die 36 und erschrickt, weil auf dem Bett eine junge englische Frau liegt. Ich nehme die 29 und versuche ein Wort zu lernen: Danke auf Arabisch, ausgesprochen wie Schukran, so in etwa.

Dienstag, 20.51 Uhr. Zentraler Platz der Medina. Eindruckssturm. Gesichter rasen. Stimmengetümmel. Hautfarben in der Tönung geschlagener Glasscherben. Am Berg ein Fixstern: Das goldene M von McDonald’s. Hallo Tanger, bunter Kreisel. Für dich sprechen deine Fans: McDonald’s und Bianca Jagger, William S. Burroughs, der kam, nachdem er seine Frau erschoss, Paul Bowles, der blieb, bis er erblindete.

Mittwoch, 8.05 Uhr. Ich wache auf, durch das offene Fenster spielt ein Orchester Singvögel. Das Bett ist nass und zerwühlt. Der große Hunger drückt meinen Magen, ein Strahl Sonne zeigt: Die Härchen auf meinem Unterarm sind golden geworden. Das gibt mir so gute Laune, dass ich beschließe, hier zu bleiben.

Mittwoch, 9.18 Uhr. Auf einer Treppe in praller Sonne sitzen Kinder, Klebstofflappen unter ihren Nasen. Die Augen ausgeklinkt verdreht.

Mittwoch, 10.09 Uhr. Ein Café, über dem Eingang steht: Wir sprechen Deutsch. Hier werden Sie freundlich bedient. Im Hintergrund sitzt ein Mann im deutschen Italia90-Trikot. Auf dem großen Fernseher läuft RTL2, die Big-Brother-Zusammenfassung. An der Wand hängt ein Gemälde des Matterhorns.

Die Welt ist eine Schlampe: Out of Tanger

Mittwoch, 16.10 Uhr. Luftlose Hitze. Liege, schwebe angenehm verspult auf dem Bett im Hotel Mamora. Merci dem Brockenpeace, den mein Fünf-Euro-Schein bei dem Jungen mit den pickligen Schultern gekauft hat. Durchs Fenster ein Dada-Mix: Daft Punk, asiatische Kampffilme und orientalische Musik.

Mittwoch, 16.55 Uhr. Blick aus dem Fenster, auf das Match in der engen Gasse. Kinder spielen Fußbasket mit einem Ball. Das Geheimnis Marokkos: Die Jungen tragen alle T-Shirts, die jungen Frauen dünne Stoffgewänder, ihre Gesichter: hungrig.

Mittwoch, 19.14 Uhr. Schmerzen klopfen in meinem Kopf. Ich nehme zwei Aspirin, sofort fliest das Blut dünner. Peace rauchen ist wie einen Tiger am Schwanz zu ziehen - ein Risikospiel.

Mittwoch, 19.45 Uhr. Sitze im Männerteil des Café de Paris. Dunkelbraune Lederpolster, an der Wand grüner Marmor, Kork und Spiegel. Fühle mich matt. Sind das die Peace-Nachschwingungen (absehbar) oder das Leitungswasser (Paranoia), das ich ohne Bedenken getrunken habe?

Mittwoch, 22.08 Uhr. Habe mich total verlaufen. Ich stehe am Hafen, vor mir einer im XXL-T-Shirt mit Phil-Collins-Print. Where are you from? - Berlin - Deutschland. Hab Freund da. Komm, Heroin rauchen.

Mittwoch, 23.04 Uhr. Im Hotel. Den Phil-Collins-Typen bin ich mit zwanzig Dinar los geworden. Ich liege auf dem Bett und vertreibe die Angst wegen den roten Pusteln in meinen Armbeugen mit Wodka-Schlückchen.

Donnerstag, 9.44 Uhr. Das Fähr-Terminal in Tanger, Grenzkontrolle: Neben mir Sam aus dem Senegal. Beide wollen wir einen Ausreisestempel in den Pass. Ich lasse zwei Euro fallen. Sam drei Scheine, 250 Dinar, etwa 25 Euro. Die Welt ist eine Schlampe.

Donnerstag, 19.07 Uhr. Draußen rollt so was wie Mexiko vorbei, ist aber immer noch Südspanien. Mir ist l-a-n-g-w-e-i-li-g. Trinke im Speisewagen Weißwein. Zwei flüstern. Vier kichern.

Donnerstag, 21.33 Uhr. Parkplatz neben dem Atocha-Bahnhof. Bin raus, weil ich keine Menschen mehr sehen konnte. Zwei Jungen gehen vorbei, schauen nicht einmal. Trotz Gepäckkontrolle auf den Bahnsteigen ist Spanien das entspannteste Land nach Terroranschlägen.

Freitag, 10.19 Uhr. Im Bistro des TGV kurz vor Bordeaux. Das Fahren erinnert an die Rohrpost. Ich wette mit mir selbst, Frankreich ohne ein Wort Französisch zu durchqueren und schwöre: Nie wieder Liegewagen.

Der appetitliche Dessertwagen: Amsterdam

Samstag, 18.28 Uhr. Kleiner asiatischer Waschsalon am Damrak. Ich sitze auf dem Wash-o-mat. Das Stück Skyline durchs Fenster sieht aus wie ein appetitlicher Dessertwagen.

Samstag, 22.28 Uhr. Eine Bar am Rambrandtplein. Teak-Tresen. Die Gäste ausgesprochen gut aussehend, trotzdem konsequent in Oranje gekleidet.

Samstag, 23.46 Uhr. Die ganze Stadt eine Rolle vorwärts. Halbfinale. Ich sitze in der Tram, und die steht am Leidseplein, eingesperrt von Fans, die gegen die Scheiben schlagen.

Sonntag, 0.50 Uhr. Club OCC II, Spellbound-Nacht. Hier große Rolle rückwärts. Frühe Achtziger. Glitter, Pailletten, Pins. Schwule Skins, Zauberfeen, Dominas und eine Gräfin. Auf dem Videoscreeen hinter dem DJ tanzt Clubkid Michael Alig.

Sonntag, 1.32 Uhr. Auf der Bühne Team Plastique aus Brisbane. Sushi-Punker. Drei verdorbene Mädchen. Sie schlagen sich mit Tennisschlägern. Sie schreien Suck und Fuck a DJ und Superstar und werfen chinesische Dollars in die Menge. Und Puderzucker. Und Strohhalme.

Rosa Rosen, silberner Mond: Brighton

Sonntag, 19.10 Uhr. Ein kleiner Junge weint sich rote Backen. Dann ist das Licht aus. Hunde bellen. Der Eurostar steht in Lille und alle Passagiere müssen raus. Take all your belongings with you. Sicherheitsalarm. Bombendrohung? Schon die Abfahrt in Brüssel hat sich verzögert. Im Bauch ein Unwohlknoten.

Sonntag, 19.33 Uhr. Zurück im Zug. Die Zugchefin meldet mit Metallstimme: ein illegaler Immigrant, der sich im oder am Zug versteckt hat. Offenbar haben sie ihn. Zum Heulen.

Sonntag, 20.43 Uhr. Schwarzer Himmel. Blitze verbinden Himmel und Erde. Der Zug düst gleichgültig dahin, die Scheiben bleiben trocken. Am Bahndamm blühen rosa Rosen. Das Land wie eine Phosphorfabrik vor der Explosion. Franz Ferdinand singen von Schampus und Lachsfisch.

Montag, 0.12 Uhr. Gefühlsansturm. Ein Bild, das man sich sofort auf die Kontaktlinsen tätowieren möchte: Ich sitze auf Kieselstrand. Links blinkt der Brighton Pier, rot, gold, vorn das Meer, Ebbe. Über allem steht der Mond, macht der stillen schwarzen Wasserfläche einen silbernen Knutschfleck.

No beans, honey: Manchester

Dienstag, 19.12 Uhr. Hostel The Hatters, 5. Stock. Ich begutachte die Striemen an meinen Schultern von dem merkwürdigerweise immer schwerer werdenden Rucksack. Michael und Tom aus Kattowitz verabschieden sich. Die beiden Jurastudenten sind zur Sommerarbeit gekommen und haben jetzt ein günstigeres Zimmer gefunden.

Dienstag, 21.35 Uhr. Piccadilly Gardens, zentraler Platz. Stehe da und schaue. Erster Eindruck: Irgendwas ist falsch. Kaum Menschen, überall liegt frischer Sandstein. Wirkt wie eine frisch verlassene Expo-Stadt. Bunte Kühe, bemalt wie die Bären in Berlin, stehen starr auf der Grünfläche.

Dienstag, 23.48 Uhr. Frauenstöhnen über dem Exchange Square. Auf einer Großbildleinwand fasst BBC Wimbledon zusammen. Überall stehen große Center, Shopping, Entertainment. Manchester trägt eine frische Totenmaske. Eine rothaarige Frau, deutsche Journalistin, die ich nach dem Weg frage, weiß, dass seit dem IRA-Anschlag von 1996 ein Programm zur Stadtverschönerung läuft. Ich muss pinkeln. Gehe ins Hard Rock Café.

Mittwoch, 10.45 Uhr. Eat-Inn, hinter dem Tresen ein dunkler Engel. Honey, sagt sie und berät mich. Omelett, Cheese, Tomato, keine Bohnen. An den roten Tischen sitzen alte Frauen, Busfahrer, Gentlemen. Alle rauchen, einige schlafen. Es laufen die Stones, Jumping Jack Flash. Draußen englischer Regen, den man nicht sieht, der aber in kurzer Zeit komplett durchnässt. Ich lese in einer River-Phoenix-Biografie und bereite mich auf meinen dreiundzwanzigsten Geburtstag vor. In eineinhalb Stunden fährt ein Zug nach Glasgow. Abends ein Ryanair-Flug nach Stockholm.

Farben knallen, Augen bluten: Stockholm

Mittwoch, 22.12 Uhr. Rote Astrid-Lindgren-Häuschen, Fichte an Fichte, noch für tausend Jahre Ikea. Die Farben der Natur knallen so kräftig, dass ich fürchten muss, die Augen könnten bluten.

Donnerstag, 13.27 Uhr. Hörtorget, Marktplatz. Im Vordergrund jedoch: Laufsteg und ideelles Schlachtfeld. Nieten-Punks spielen laut den Wu Tang Clan gegen ein Panflöten-Quintett. Ein Blick auf die Schweden. Sehr wahr: They look so good. Die Mädchen glänzen im Gesicht. Die Jungen tragen Blumen im Haar und zeigen ihre Rippen. Alle unter zwanzig sehen aus wie Dior-Models.

Freitag, 0.13 Uhr. Sitze mit Samon aus Idaho im 7Eleven am Hauptbahnhof. Essen Brownies. Haben beide ziemlich rot geflammte Augen. Es laufen die Pixies. An den anderen Tischen sitzen Schweizer Fußballfans und schwule Gucci-Asiaten. Samon ist ein Träumer und stellt gute Warum-warum-Fragen. Warum sitzt der Typ in dem Trikot da wie ein Pfau, und ich und du, warum halten wir eigentlich im Sitzen unsere Füße fest?

Bang your Head - nach Hause: Rückkehr nach Berlin

Samstag, 0.25 Uhr: Bar Riesen, Stadtteil Vesterbro. Konzeptkünstler, Lederjackenladys und Fanta-Boys trinken zusammen. Eine Lina kaut mir am Ohr. Will wissen, wie es Christiane F. geht. Mit der haben sie in der Schule Deutsch gelernt. Alle sind betrunken, warten, wer den ersten Stein wirft und zu headbangen anfängt.

Samstag, 13.05 Uhr: Bahnhof Kopenhagen. Madonna singt Papa Don’t Preach. Versuche den Stepp in meinem Kopf mit Mango-Saft zu kitten. Vorbei laufen junge Gesichter. Verschlammte Gummistiefel an den Füssen. In Roskilde ist Festival.

Samstag 23.08 Uhr: Liege auf dem Boden meiner Wohnung am Alexanderplatz. Angenehme Erschöpfung. Zweifellos: zu Hause. Lou Reed singt The Black Angel’s Death Song.