»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

24.7.

Eigentlich müsste das Ypsilon mein Lieblingsbuchstabe sein. Wo ich gehe, finde ich kleine und größere Astgabeln. Diejenigen, die ganz genau meiner Vorstellung eines Ypsilons entsprechend geraten sind, stecke ich ein und lege sie nachher zu den anderen auf die Fensterbank. Aber mein Lieblingsbuchstabe sieht anders aus. Ich kenne auch niemanden, dessen Vorname mit einem Ypsilon beginnt. Muss heißen: Kenne auch niemanden mehr.

Alles liegt wie unverrückbar hier, alles wird zum Exponat, kaum hinter meine Tür gebracht. Wie dieses Buch, das aufgeschlagen zwischen anderen liegt und dem ich, im Vorübergehen, flüchtig, einen Satz entnehme, den ich zwar kannte, aber nicht so, und dann sozusagen automatisch zurückkehren muss, um den ganzen Rest zu lesen. Eine Falle, wenn man so will, die ich mir selbst gestellt, denn wer hat denn dieses Buch dahin gelegt? Und darin steht, bekanntlich:

»Mit allen Augen sieht die Kreatur
das Offene. Nur unsere Augen sind
wie umgekehrt und ganz um sie gestellt
als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.
Was draußen ist, wir wissen’s aus des Tiers
Antlitz allein; denn schon das frühe Kind
wenden wir um und zwingen’s, daß es rückwärts
Gestaltung sehe, nicht das Offne, das
im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.«

Ein Boot, vermutlich, machte ein Geräusch wie mein Telefon, wenn es auf der weichen Unterlage meines Notizbuches liegt und mit dem Eingang einer SMS vibriert – täuschend ähnlich.

Ein Kirschblatt hatte drei große Löcher, Fraß vermutlich, durch deren sonnenlichtgrünen Passepartout ich das Blau des Himmels sehen konnte (wie in der Erfindungslegende der Brezel by the way) – ist das jetzt zu geschraubt; am I trying to hard, wie Irina einst es mir vorwarf, dabei aber retrospektiv argumentierend à la: Ich hatte gedacht, you are.

Und über allen offenen Wunden steht der Geruch von Blut, einer – natürlich –: mineralischen Note mit (für uns Menschen) extremer Sillage.

Und wenn man, wenn ich: so bin? In Wirklichkeit, im RL *setzt einen Gedankenstrich*, auf der Suche nach einem gelungenen Ausdruck, nein: dem gelungenen Ausdruck für jemandes Haar, las ich mich in Loslabern fest (ohne sic) und stellte erneut, wie vor einiger Zeit schon mit dem roten Buch, fest, dass irgendetwas – schwerwiegend klingt immer so dramatisch negativ, es klingt nach Krebs und weißen Blutkörperchen, aber es gibt wohl auch eine positive Konnotation – schwerwiegendes sich in mir getan haben muss, gehirnlich, denn selbst Loslabern, das ich seinerzeit nie ansprechend gefunden hatte, konnte mit einem Mal singen, war wohl erwachsen geworden. Oder halt ich.

Ich kann es – natürlich, wie ich mir innerlich gütig zunickend feststellen will – exakt beziffern, wann ich noch nicht erwachsen war (aber auch nicht mehr jugendlich, von daher aus altersfaschistoider Sicht, die mittlerweile jedem oktroiert scheint: in limbo): 1987. Da war ich nach Jahreszahlen knapp Jugendlicher und in dem Zeitraum war erschienen Kiss Me Kiss Me Kiss Me. Da muss man gar nicht groß synästhetisch veranlagt worden sein, um ermessen zu können, was das bedeutet haben mag. Es gab ja, um von Kriegszeiten zu erzählen, damals nur wenige Fachgeschäfte für Schallplatten, in denen ein sogenanntes Vorhören möglich war. Vorhörvorrichtungen wurden erst mit Rave und Techno eingeführt, als die Zahl der zunächst wöchentlich, dann aber bald täglich aus Detroit und Chicago und bald auch schon Frankfurt am Main und Berlin hinter der Mauer hereinbrandenden Maxisingles, 12inches (unter Technikern gesprochen) derart fluthaft sich gebärden sollte, vor allem White Labels darunter, dass es ohne eine Möglichkeit, da in der Rille zu forschen unmöglich geworden war, überhaupt noch Käufe zu tätigen; überhaupt noch so etwas zu entwickeln wie »eigenen Geschmack«.

Und so kaufte ich damals halt, wie andere ihren Liebling schüttelten, dieses Doppelalbum aufgrund dieser Fotografie dieser Lippen: unscharf. Aufgrund dieses Titels, in einer Art handgemalter Comic Sans: Kiss me Kiss me Kiss me. Vor allem aber natürlich und wegen der Band, The Cure, wegen Robert Smith. Zuhause dann, beim Anhören: Loyalitätskonflikte. Wörtlich: Darf ich das? Darf ich das gut finden? Mit jedem einzelnen Stück, besonders hart aber mit How Beautiful You Are war hier etwas zerbrochen worden, zerbrach, woraus zuvor die Verbindung der Freunde dieser Band zu ihrer Band bestanden hatte. Einfacher ausgedrückt: Das war nicht mehr dieselbe Band. Beziehungsweise: doch, aber jetzt ging es dieser Band scheinbar um etwas ganz anderes. Und das hieß anscheinend auch: um neue Freunde der Band.

Heute, ich bin jetzt 45 Jahre alt, kann ich mich vor so ziemlich jeden hinstellen und aussagen: Kiss me Kiss me Kiss me ist mein Lieblingsalbum von The Cure. Das ging lange Jahre nicht. Lange Jahre musste ich das insgeheim denken, das Album insgeheim gut finden. Es sogar: insgeheim hören. Vor allem How Beautiful You Are.

Erwachsenwerden ist anstrengend, es erfordert Verantwortung und Pflichtgefühl. Es macht dick und es macht alt. Aber es gibt halt auch gute Seiten.

How Beautiful You Are.

23.7.

Oh man, mir tun die Leute in Russland so leid! Das mit dem Embargo geht ja angeblich noch bis zum 8. August und das will und will ich mir eigentlich gar nicht mehr vorstellen müssen, wie sehr und derart diese mir lieben Russen doch leiden müssen bis dahin; bis nämlich sich endlich wieder die Schleusen öffnen werden dürfen und wir ihnen den gerechten Fisch (unter anderem) zwischen die ausgedorrten Kiemen spülen. Denn eins ist klar: Russischer Fisch ist Schrott! Ich weiß das, ich darf es so in den sogenannten Raum stellen, seit ich in unserem Supermarkt, der ja signifikanterweise eine russische Abteilung vorzuweisen sein Eigen nennt, die Konservendose beinhaltend die Sardinelle erstanden hatte.

Sardinelle — hier ist ein Quadritelstrich angebracht: Was soll das denn sein für ein Fisch? Halb Sardine, halb Forelle? Soweit das ginge: Bedeutete das einen Hybriden aus Süßwasser und Salzwasserfisch? Und wenn ja, wäre das denn dann der LEVIATHAN???

Wurscht übrigens, denn so schmeckt dieses Wesen »in eigenem Saft«: Es schmeckt wie Corned Beef, sieht aber anders aus (von daher das Ekelpotenzial). Und ich will eigentlich und lediglich vor zweierlei gewarnt haben:

1.) Den Doseninhalt nicht erwärmen.
2.) Den erwärmten Doseninhalt auf gar keinen Fall mit Okraschoten vermischen.
3.) Falls doch passiert: »Vitamin C« von Can anhören. Und zwar wieder und wieder. Die ganze Nacht.

Desweiteren:

(und hierbei lauschte ich »Vitamin C«)

Wie geht das wohl, als hätte ich es vergessen, wusste es aber wohl schon einmal: Wenn einen die eigene Frau im supersexy navyfarbenen Wickelkleid mit ultraweißen Paspeln anspricht und etwas wissen will bezüglich später, später also diesbezüglich, wenn diese andauernd klagendenen und berichtenden Kinder, der Offspring nämlich, dieser also endlich im sogenannten Bett – und er dann aber, weil es drängt, zuvörderst eine Frage hat bezüglich Müllabfuhr (wahlweise: Steuerberatung, Kindergeld, Elternabend – choose your battle). Wie also wird man sich daraufhin eine bis anderthalb Stunden später begegnen? Wie kriegt man das hin?

Und, weiter draußen: Meine Leute (die Enten, das Paar Blässhühner, die Schwäne mit den Schwanenjungen, die Haubentaucherweibchen), dass also die auf der Wasserfläche der kleinen Marina saßen und dort umherfuhren, was im Gegenlicht gegen den extremen Sonnenuntergang so aussehen musste wie: Einschüsse im davon angeleuchteten Zinn.

Haben die ein Problem?

22.7.

Eigentlich hatte ich die Kritik der zynischen Vernunft zur Hand genommen, weil es dort im zweiten Band, im 12. Kapitel des historischen Hauptstückes, um die Hochstapelei geht, und ich mir davon Hinweise zur Erklärung des Falles dieser SPD-Frau Hinz versprach, war dann aber sozusagen im Vorbeiblättern weiter vorne hängengeblieben. Auf jene Weise, wie es mir manchmal geschieht, dass ich tatsächlich wie im Vorbeifahren aus dem Augenwinkel jemanden oder etwas erkannt zu haben glaube, zwar längst schon weiter bin auf meiner Wegstrecke, aber der flüchtige Eindruck haftet und will sich behaupten, mich für ihn einnehmen, sodass ich dann anhalte, umkehre, und an die Stelle zurückkehre, um mich vergewissern zu können. Und so auch in diesem Fall.

Dort stand: »Für das türkische Volk darf man es fast als ein großes Glück betrachten, daß die Zeit seiner schleichenden Erkrankung plötzlich in einer so furchtbaren Katastrophe abgekürzt wurde, denn im anderen Fall wäre die Nation wohl langsamer, aber um so sicherer zugrunde gegangen…
Es ist dann schon ein – freilich bitteres Glück –, wenn das Schicksal sich entschließt, in diesen langsamen Fäulnisprozeß einzugreifen, und mit plötzlichem Schlage das Ende der Krankheit dem von ihr Erfaßten vor Augen führt … Denn darauf kommt eine solche Katastrophe öfter als einmal hinaus. Sie kann dann leicht zur Ursache einer nun mit äußerster Entschlossenheit einsetzender Heilung werden.«

Dazu Peter Sloterdijk: »›Bitteres Glück‹: Dies ist der schärfste Ausdruck der völkischen Dialektik. Politischer Sadismus in medizinischen Metaphern? Pathologischer Zynismus in politischen Metaphern? Schon in der Geburtsstunde der Republik sind ganz rechts und ganz links die politischen Chirurgen in Stellung gegangen und schleifen die ideologischen Messer, mit denen man dem türkischen Patienten das Krebsübel herausschneiden will. Beide interessieren sich kaum für den aktuellen Zustand der Türkei. Sie blicken in die Zukunft und träumen von dem Tag, an dem die große Operation stattfinden kann.«

Der gesuchte Eintrag »Zur Naturgeschichte der Täuschung. Von deutscher Hochstapler-Republik« enthielt dann folgende Analyse: »Es erwies sich in jenen Jahren als allgegenwärtiges Existenzrisiko, daß hinter allem soliden Schein das Haltlose und Chaotische auftauchte. Eine Umwälzung vollzog sich in jenen Tiefenbezirken kollektiver Lebensgefühle, in denen die Ontologie des Alltags entworfen wird: ein dumpfes Gefühl von der Unfestigkeit der Dinge drang in die Seelen ein, ein Gefühl des Substanzmangels, der Relativität, des beschleunigten Wechsels und des unfreiwilligen Flottierens von Übergang zu Übergang.
Diese Aufweichung des Gefühls für das Zuverlässige mündet in eine kollektiv verbreitete Angstwut gegen die Modernität. Denn diese ist der Inbegriff von Verhältnissen, in denen alles eben nur ›verhältnismäßig‹ erscheint und auf Wandel angelegt ist. Aus dieser Angstwut formt sich leicht eine Bereitschaft, sich von diesem unbequemen Weltzustand abzuwenden und den Haß gegen diesen umzuformen in ein Ja zu gesellschaftlich-politischen und ideologischen Bewegungen, die die größte Vereinfachung und die energischste Rückkehr zu ›substantiellen‹ und zuverlässigen Verhältnissen versprechen. Hier begegnet uns das Ideologieproblem von einer sozusagen psycho-ökonomischen Seite. Der Faschismus und seine Nebenströmungen waren ja – philosophisch gesprochen – zu einem guten Teil Vereinfachungsbewegungen. Aber daß gerade die Marktschreier der neuen Einfachheit (gut – böse, Freund – Feind, ›Front‹, ›Identität‹, ›Bindung‹) ihrerseits durch die moderne und nihilistische Schule der Rafinessen, des Bluffs und der Täuschung gegangen sind – das sollte den Massen erst viel zu spät klarwerden. Die so einfach klingenden ›Lösungen‹, das ›Positive‹, die neue ›Stabilität‹, die neue Wesentlichkeit und Sicherheit: das sind doch Strukturen, die im Unterirdischen noch komplexer sind als die Kompliziertheiten des modernen Lebens, gegen die sie sich wehren. Denn sie sind defensive und reaktive Gebilde – zusammengesetzt aus modernen Erfahrungen und Leugnungen derselben. Die Antimoderne ist womöglich moderner und komplexer als das, was sie ablehnt; auf jeden Fall ist sie trüber, dumpfer, brutaler, zynischer.
In einer so ›verunsicherten‹ Welt wuchs der Hochstapler zum Zeittypus par excellence heran.«

Ich schaute auf und blinzelte in die Sonne. Bauschig, bläulich, beinahe brav saßen die quadratisch geformten Wolken nebeneinander wie Buchteln in ihrer Form. Ein Hund, dem Klang seiner Stimme nach war’s ein Hündchen, empörte sich in einem Staccato, elf Minuten lang. Dann war entweder jemand gekommen, ihm zu helfen, oder er war verendet (ich konnte das durch die Hecke nicht sehen). Die Kinder betraten die Terrasse mit Xylophon und Batteriegitarre, mit Ukulele und mit einer Rumbarassel, um ein Konzert zu geben. Ich ging lieber schwimmen. Jagte das Blässhuhn auf Augenhöhe, woraufhin es sich in einer fish or cut bait-Panik dazu entschließen musste, vor mir davon zu fliegen. Ich verfing mich in Wasserpflanzen, die legten sich wie ganz lange, klebrige Finger um meine Knöchel.

Milena schenkte mir einen Aal.

21.7.

Geschlafen, gegessen, gelesen, geschwommen: zunächst in exakt dieser Reihenfolge, im weiteren Verlauf des Tages auch durcheinander.

Abends dann, bei mildestem Sonnenuntergangslicht, das, die Bäume anleuchtend, deren Laub ins Dunkelgelbe bis Orangefarbene scheinen ließ, mit dem Buch auf dem Balkon gesessen. Die Nachbarskinder durften nach dem Nachtessen noch auf das Trampolin (eins von diesen Familienmodellen, wie man sie in jedem zweiten Garten sieht: von einem Sicherheitsnetz umgeben; neulich, ist schon ein paar Wochen her, las ich in der Zeitung, dass ein Kind, ich glaube in der Pfalz, während seines Springens auf einem solchen Trampolin von einer Orkanböe erfasst und mitsamt des Trampolins auf das Dach des Elternhauses geweht worden war. Augenzeuge: die eigene Großmutter – mise en abyme?), ich kann sie noch erkennen, wie sie sich eines nach dem anderen nackt durch die Hortensienbüsche drängen, dabei rufen sie »Sleep over für immer!« und die Szenerie verschwindet unter der dicht und dunkel belaubten Krone des Kirschbaums vor meinem Balkon. Aber hören kann ich sie noch, während sie dort unten ansonsten hüpfen und springen. Sie rufen »Jungs gegen Mädchens, Mädchens gegen Jungs! Jungs gegen Mädchens, Mädchens gegen Jungs!« Immer wieder, immer wieder von vorn. Danach gibt es Erdbeeren und Kirschen, dann Badewanne, dann geht’s ins Bett.

Sommer ist einfach besser als Winter. Wer etwas anderes behauptet, lügt.

20.7.

Es ist meiner Ansicht nach wirklich gar nicht verwunderlich, dass Sigmund Freud ihn mit einem Berufsverbot belegt sehen wollte, und dass Carl Gustav Jung seine Mitarbeit aus sämtlichen Schriften tilgte: Otto Gross war sozusagen seiner Zeit derart weit voraus, dass insbesondere seine Theorie zum Geschlechterverhältnis den Zeitgenossen wie Wahnsinn erscheinen musste (den C.G. Jung ihm tatsächlich attestierte).

Otto Gross schreibt 1920: »Der Masochismus des Mannes, auf die Frau übertragen, führt einerseits zu einem Kompromiß mit dem Protest der Frau und wird in vielen Fällen zum allerdings überkompensierten Ausdruck für ein Kontaktbedürfnis auf Grund der Gleichordnung. Es ist dies die resignierte Geste des Mannes, der auf die Anerkennung der eigenen Person in der Beziehung verzichtet hat.

Andererseits liegt es im Wesen jedes überkompensierenden, einem Antagonistenkomplex angehörenden Triebes, daß er seinen Antagonisten selbst wieder wach erhält. Mit anderen Worten: Die masochistische Tendenz des Mannes, als ein übertreibendes, über die Gleichordnung der Geschlechter hinaustreibendes Moment, erzeugt einen Gegendruck im eigenen Innern, sie läßt den durch die eigene Hingebungstendenz stets gefährdeten Trieb zur Selbsterhaltung nicht zur Ruhe kommen und bringt ihn als Impuls der übertriebenen Selbstbewahrung, der Abwehr oder Rache, immer wieder an die Oberfläche.

Es ist im Wesen des Korrekturversuches durch Überkompensation, daß er zuletzt doch immer nur den Kampf der Extreme ergeben kann und nicht das seelische Gleichgewicht, weder im Inneren des Individuums noch in der Beziehung der Individuen zueinander. Und dennoch ist in ihm das Beste, das wir haben: das Streben nach Beziehung. –«

19.7.

Ein Albtraum über fünfeinhalb Stunden: Ich war nach 0 Uhr 30 eingeschlafen und wachte dann jeweils nach einer Stunde des Schlafens wieder auf, sah auf die Uhr, um kurz darauf (kurz, wie es mir schien; vielleicht nach ein paar Minuten) wieder einzuschlafen. Albtraum auch nur deswegen, weil dieser Traum sich dann nach meinen Wachmomenten nahtlos (wiederum wie es mir erschien und jetzt noch scheint) fortsetzte. Das Geschehen selbst war ohne Grauen, jedenfalls für mich, aber wie es den Traumfiguren jeweils geht, ist in Träumen wohl egal. Ich jedenfalls war zu Besuch bei einer Familie, die, so wurde behauptet, Mitglieder einer Sekte waren, die sich als Ritter des Tempelordens bezeichneten. Meine Aufgabe war es, mit den Eltern, aber auch mit den Töchtern (Söhne gab es keine und wenn ich es mir jetzt zu überlegen versuche, auch keinen Vater) über ihre Sündhaftigkeit zu sprechen. Vor allem hieß das, ihnen zuzuhören, denn sie litten darunter, sich andauernd zu versündigen, ohne dass sie es beabsichtigten – das lag an den Regeln der Sekte, wie ich bald, ich glaube schon während des ersten Abschnittes von 0 Uhr 30 bis 1 Uhr 30, herausfand. Jedenfalls erinnere ich mich, dass es mir da noch Freude machte, und ich sogar hoffte, dass der Traum so weitergehen möge; von mir fortgesetzt würde.

Am Nachmittag hatte ich bei Otto Gross über den Konflikt gelesen und mich dann während des Sonnenunterganges gefragt, ob es eigentlich noch zeitgenössische Traumprotokolle gibt. Wo die erscheinen. Das Geschehen am Himmel war zu spektakulär und ich insgesamt zu träge nach einem fleißig verbrachten Tag, um das zu googeln, aber interessieren tat mich das schon. Ich konnte und kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Zeitgenossen noch immer so träumen, wie es beispielsweise in der Traumdeutung bei Sigmund Freud dokumentiert wird: also von Spinnen und Regenwürmern, die durchs Unterholz kriechen. Von Zähnen, die ausgerissen werden, von Leitern und Eimern und Karren und so weiter. Auch bei Otto Gross werden Träume erzählt, die mir geradezu archaisch anmuteten von ihrem Bildmaterial her.

Zu diesen Überlegungen dann aber wie gesagt das Farbenspiel eines Sonnenunterganges wie eh und je, bloß dass mir dazu halt das Cover von David Crosby einfiel, von diesem Album auf dem der Song with No Name (Tree with No Leaves) war.

Und in der Nacht dann, wie als Rache der Traumkonservativen oder Traumveteranen: die Töchter der Tempelritter! Wobei in der letzten Folge, die ging bis halb sechs, die älteste von ihnen in einem langen grünen Kleid unter einem Apfelbaum stand. Mit einem Kranz von Wiesenblumen im Haar. Ein Abfallkorb der Berliner Stadtreinigung aus orangefarbenem Plastik war freistehend in der kniehohen Wiese aufgestellt. Und jemand hat dies alles fotografiert.

18.7.

Aufgewacht mit dem Buch von Sue Hubbell im Schoß; im Sitzen eingeschlafen (kein Wunder bei solch idyllischer Lektüre). Ideen ohne Reflexion: ich schaute auf auf den schattigen Streifen am Rande des Hochbeetes, durch Cotoneasterbüschen vor Wind geschützt und dachte »Bienen« (Gesichtsausdruck freundlich gesinnt, verträumt, also leicht dümmlich) Punktpunktpunkt – dann endlich war auch mein Verstand aus der Mittagspause zurück und sagte klipp und klar: auf gar keinen Fall.

Ob es wohl stimmt, dass kurz vor dem ionischen Aufstand in der Zeit um 500 v. Chr. der Tyrann von Milet bei den Spartanern um Waffenhilfe werben wollte, indem er ihnen eine Landkarte, philosophisches Modell genannt, zum Geschenk machte, die er sich von Anaximander hatte anfertigen lassen. Laut Herodot waren darauf sämtliche Kontinente und Meere in ihren Größenverhältnissen zueinander und den Zusammenhängen zu sehen. Die Heeresführer der Spartaner besahen sich die Größe ihres Stadtstaates und sie konnten nun zum ersten Mal die Ausmaße des persischen Reiches begreifen, gegen die sie gerade noch in den Krieg zu ziehen gedacht hatten. Und darauf lehnten sie ab.

So berichtet es Gerhard Nebel, berichtet Peter Sloterdijk. Da frage ich mich – andererseits genügt die Anekdote mir, ob sie nun stimmt oder nicht, auch so und an sich als philosophisches Modell.

Und ob es wohl stimmt, dass es um diese Zeit und noch früher auf dem Olymp einen Orakelhain gab, den derjenige betrat, der das Rauschen des Windes in den Blättern der Hainbuchen wie ein Flüstern verstehen wollte. Und dass, wie Peter Handke behauptet, diese Blätter an den Hainbuchen allesamt einzeln vergoldet waren. Sodass dieses Flüstern sachte klirrte und kraspelte wie von einer Stimme nicht von dieser Welt?

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