»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

12.2.

In einem melodramatischen Sonnenaufgang, der sich über drei Stunden hingezogen hat, erscheint lange nichts als eine beige Zone und darüber bleibt es dunstig. Dann fällt ein Strahl auf die Teekanne, die zu leuchten beginnt und ihre kleinen Punkte an die Decke wirft. Am Boden liegt eine alte Ausgabe der Zeitung mit dem halbseitigen Foto in Schwarz-weiß aus dem Plenarsaal in Bonn mit den kastig schwarzen Möbeln, die, wer weiß wohin, verschwunden sind (und ob sie irgendwo noch eingelagert sind). An ihrem ersten Arbeitstag, dem 29. März 1983, ist darauf die Abgeordnete der Grünen, Marieluise Beck, zu sehen. Sie trägt einen Pullover aus flauschiger Wolle über ihrer weißen Bluse und lacht aus vollem Hals. Vermutlich nicht über einen Witz aus ihrem Umfeld, sondern über eine komische Stelle in einem Vortrag, denn der unweit entfernt von ihr sitzende Bundeskanzler lacht ebenfalls. Die Finger ihrer linken Hand hält sie zusammengefaltet, zu keiner Faust, eher so, als hätte sie von diesen Fingerspitzen etwas fortgeschnipst. Nicht allein, weil es eine historische Aufnahme ist – und weil dieser Pullover, den sie trägt, der den Grauwerten der Abbildung nach eventuell gelb war, grün, orange oder rosa, seltsam zeitgenössisch wirkt; das betrifft auch ihren Haarschnitt –, wirkt dieser fröhliche Moment wie ein zum Laufen gebrachtes Filmbild, angeklickt von einem ersten Sonnenstrahl.

Auf der zugefrorenen Fläche am Ufer haben sich einige Kraniche versammelt, die dort in ihren weiß strahlenden Federkleidern wie aufgereiht sitzen. Enten verfolgen sich über das Eis und über dem Wasser dahinter, das im Sonnenschein schon wieder blau wirkt, so blau wie im letzten Jahr, startet ein Kormoran zu einem Erkundungsflug durch. Auf die ihm eigene, gewissermaßen ihm eingebaute, mühselige Weise. Er kann ja nicht anders, und trotzdem würde ich ihm beinahe gerne zurufen: Nichts dazugelernt! Es quietscht und es zwitschert. Anima Latina von Lucio Battisti untermalt das sehr schön.

John Baldessari fragt: »Warum haben die Höhlenmenschen keine Stillleben gemalt?« Auch die damaligen Landschaften stelle ich mir ziemlich spektakulär vor.

Als ich gestern von dem Cargo-Kult um das alte Flugzeug las, Eckart Lohse, einer meiner absoluten Lieblingsautoren hatte das beschrieben: Die ehemalige Lufthansa-Maschine mit dem ehemaligen Namen Landshut, die, nachdem sie durch viele Hände gegangen war, jetzt irgendwo in Südamerika steht und dort versteigert wird, soll möglicherweise, zumindest wird das anscheinend erwägt, vom Staat erworben, aufwendig, entweder ganz oder in Teilen filetiert, nach Hause transportiert und hier ausgestellt werden. In dem Text wird der Wunsch der GSG 9 erwähnt, das sechs Meter hohe Leitwerk wie ein Hirschgeweih als Trophäe auf einer Kaserne aufzubocken. Wie ein Dinosauriergerippe (im Naturkundemuseum in der Invalidenstraße steht eines auf verspiegeltem Podest). Oder wie ein Wirbelknochen eines Pottwals (in Peru, dort liegen die hier und da in der Landschaft herum, aber als Hinterlassenschaften). Interessant, wie in dem Text subtil nachgezeichnet wird, wie aus dem neutralen Ding Flugzeug, das wie gesagt jahrzehntelang weiter von diversen Fluggesellschaften als Verkehrsmaschine benutzt worden war, dann in der Politikerrede plötzlich etwas Weibliches gemacht wird, das schützenswert wirkt und des Erhalts mehr als würdig. Einfach durch den ursprünglichen Namen: die Landshut. Eine Sie. Selbst noch in ihren Fragmenten.

11.2.

Aufgewacht und dann lange herumgelegen mit dem präsidialen Gefühl, mir einen Überblick über die äußere und innere Lage verschaffen zu müssen. Alles schien unklar, mulmig, nicht verwirrt, trotzdem unübersichtlich, vom Erleben in Räumen bestimmt. Vermutlich, so dachte ich, ist das auch das mit Abstand Schlimmste für Dich in diesen Tagen: dass es kein Dazwischen mehr gibt. Du eilst von Raum zu Raum (weil es dort warm ist, hell). Das Unterwegssein aber findest du fruchtbarer als das Angekommensein. Möglicherweise liegt das am Alleinesein.

Die Erinnerung an den Mittag in der Konditorei zu Bonn, wie sich dort der Raum nach und nach mit fremden Menschen gefüllt hat; gemeinsam zu beobachten, was die sich im Einzelnen bestellt haben und wie sie es einnahmen: auch als einzelner Beobachter ist das möglich, die Möglichkeit besteht nicht sogar, sie besteht auch in Berlin, aber es entsteht nicht dieselbe Freude, es macht auf eine andere Art Lust, zu beschreiben, was sich vor mir abspielt, wenn ich es in einen Text einschreiben kann (und nicht in Dich).

Lust am Text, ja, aber. Vor ein paar Abenden, als ich im Zwiebelfisch verwechselt wurde, da saßen an einem erhöht gebauten Tisch neben mir zwei Männer, die sich mit durchdringenden Stimmen unterhielten, sodass ich nicht anders konnte, als sie passiv zu belauschen (falls es so etwas überhaupt gibt analog zum Passivrauchen). Der Modus ihrer Unterhaltung bestand aus dem permanenten Selbstzitat. Das geht ja jetzt ganz leicht, indem man dabei vom Display seines Telefons abliest wie von einem Teleprompter. Und so lasen sie sich gegenseitig im Wechsel ihre jeweiligen Postings vor. Die freie Rede diente der Überleitung zum nächsten Posting, hin und wieder kam es zu Nachfragen der jeweiligen Gegenseite bezüglich spezifischer Re-Postings oder Replyings, woraus dann im wechselseitigen Vortrag ihre Unterhaltung entstand. Höchst intertextuell also. Der eine, offenbar im Lobbying oder bei einer Partei beschäftigt, wechselte dabei zwischen zwei Geräten ab, eins für private Zwecke, das andere dienstlich. Nicht nur deshalb stand ihm eine größere Zahl an Zitaten zur Verfügung. Er war, das stellte sich bald heraus, weil der andere, der zudem noch leicht übergewichtig war, bald beinahe verstummte, auch näher dran an den wichtigen Themen. Ich nahm an, er arbeitete für die CDU, weil es bei ihm ausführlich um schiefgegangene Briefings für Julia Klöckner ging, auf deren Grundlage diese dann in diversen Interviews mit regionalen Fernsehsendern schlecht abliefern konnte. Je weniger der andere ihm entgegenzuhalten hatte, umso dröhnender trug der eine seine Textbausteine vor, um sie dann selbst zu interpretieren. In diesem Vortrag fiel dann der Vergleich des Kanzlerkandidaten Schulz mit dem amerikanischen Präsidenten Trump, den ich an jenem Abend als abstruses Detail nahm, in der ohnehin auf mich abstrus wirkenden Art der Gesprächsführung frischwegs vom Display.

Dann passierte das mit der Verwechslung. Und überdeckte das zuvor Erlebte, weil mich der Gedanke an einen Anderen in Beschlag nahm. Aber als ich zwei Tage später dann eben dieses Argument gegen Martin Schulz als Zitat des Finanzministers in der Zeitung wiedergegeben fand, kam die Erinnerung zurück an die beiden auf ihren Hockern. Sie bedeutet nichts. Auch in der Politik wird gearbeitet und die Arbeiter dort haben auch irgendwann Feierabend und gehen dann noch ein Bier trinken, warum auch nicht.

In der Druckersprache, so steht es in diesem Lokal in der Speisekarte, bedeutet der Zwiebelfisch einen Buchstaben aus einer anderen Schrift, der sich ins Schriftbild des Textes verirrt hat. So war ich an jenem Abend im Zwiebelfisch so einer für die Frau, die mich mit dem Anderen verwechselt hatte. Und das Zitat des Mannes mit den zwei Telefonen wurde zum Zwiebelfisch in meinen Augen, als ich ein paar Tage später die Zeitung las.

Klaustrophobie und Entropie: »it’s a hell of a combination«, heißt es in Coffee and Cigarettes.

10.2.

In den Zeitungen hier wurde es nur gemeldet, die NZZ macht einen großen Artikel daraus: es gab und gibt in diesem Winter nur sehr wenige kleine Vögel in den Städten zu sehen. Vermisst wurden, offiziell also nicht bloß von mir die Meisen, Spatzen und Finken. Der Deutsche Naturschutzbund hat in seiner alljährlichen Vogelzählung Stunde der Wintervögel ermittelt, dass der Rückgang um ein Drittel der sonst üblichen Zahl liegen wird. In der Schweiz gibt es eine solche Zählungsinitiative, an der in Deutschland erfreulicherweise 180.000 Vogelfreunde mitarbeiten, nicht. Aber schon seit dem November des vergangenen Jahres meldeten sich laut NZZ besorgte Schweizer bei der Vogelwarte von Sempach: »Sie sind besorgt und wollen wissen, wie sich das Ausbleiben der Gartenvögel erklären läßt«.

Sehr wohl gemessen wird in der Schweiz, einem Agrarland, der Ertrag der Buchen. Die Rede ist dort von der im Frühling einsetzenden Buchenmast. Die Bäume (Fagus) waren im Herbst 2016 außergewöhnlich fruchtbar, die Zeitung spricht von einem tonnenweise vermehrten Abwurf von »Bueche-Nüssli«, also Bucheckern, wie zuletzt vor 30 Jahren. Demzufolge handelt es sich um ein europaweit verspürtes Phänomen; jedenfalls soweit dort Buchenwälder stehen.

Der Text führt die in Deutschland und Schweiz separat gewonnenen Erkenntnisse über anfallende Bucheckern in den Wäldern und ausbleibende Kleinvögel in den Gärten zusammen, und überlässt seinen Lesern den desillusionierenden, sogar traurigen Schluss, dass die kleinen Vögel sich nicht etwa freiwillig, oder der liebevoll gefüllten Futterhäuschen wegen in die Städte aufmachen, sondern in Hungersnot. Wenn, wie in diesem Jahr, ausreichend Bucheckern, Bueche-Nüssli und wie sie in den anderen Sprachen auch heißen werden, auf dem Boden der Wälder zu finden sind, bleiben sie wahlweise dort.

Auch für die Birdwatcher und Vogelfreunde haben die Schweizer einen eigenen Begriff. In der NZZ werden sie als »Küchen-Ornithologen« bezeichnet.

9.2.

Gestern Abend wurde ich zum ersten Mal verwechselt. Ich saß im Zwiebelfisch und las in der NZZ, da beugte sich eine Frau zu mir herunter und fragte höflich, ob ich in der Herderstraße wohne. Das konnte ich guten Gewissens verneinen. Sie blickte mich an. Konnte sich aber sichtlich nicht von ihrem Eindruck lösen. Auch meine Stimme, die Art wie ich sie beim Antworten angesehen hatte, wie ich sprach, schien sie nicht überzeugt zu haben: »Sie sehen jemandem ähnlich, der in meiner Nachbarschaft wohnt.« Nach meinem Namen hatte sie mich nicht gefragt.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie sagte: »Er sieht genau aus wie Sie«. Dann erst bat sie mich um Entschuldigung. Ich fragte die blöde Frage, ob er denn wirklich genau so aussähe wie ich. Dabei starrte sie mich an. Offenbar wurde ihr Eindruck von Neuem belebt, sobald ich mit ihr sprach. Ich war für sie wie eine Erinnerung an den anderen, die ein Eigenleben begonnen hatte. »Gut, dass Sie es nicht sind«, sagte sie im Gehen. »Er ist kein angenehmer Mensch.«

Ich zahlte und ging. Kam an ihrem Tisch vorbei, wo sie mit einem Herrn in ihrem Alter saß. Sie unterhielten sich leise. Ich konnte nicht anders als anzunehmen, dass es um mich ging.

Oder um den anderen.

Der andere. Das ging mir lange nach. Der Gedanke kam immer wieder. Ich schaute mir die Herderstraße, von der ich zuvor noch nie gehört hatte, in Streetview an. Eine kurze Stichstraße in der Nähe der Oper.

Um 3:30 Uhr wachte ich auf und dachte in der Dunkelheit schon bald wieder an diese Straße. Und war anscheinend bereits im Plänemachen begriffen, mir diese Straße zumindest einmal anzuschauen. In der verhohlenen Absicht, dort dem anderen zu begegnen. Es würde beruhigend sein, wenn ich dann feststellen könnte, dass er mir nicht derart ähnlich ist. Was, wenn doch? Beziehungsweise: Würde ich überhaupt erkennen können, wenn er mir zum Verwechseln ähnlich wäre? Ansprechen würde ich ihn auf gar keinen Fall. Womit denn? »Wir sehen uns ähnlich, finden Sie auch?«

Er mich aber vermutlich. Denn wie die Frau sagte, ist er kein angenehmer Mensch.

8.2.

Hildesheim. Der Modepark Röther dort (das cremefarben gestrichene Gebäude heißt wirklich so, und es hat kaum Fenster). Auf Hildesheim zu und von Hildesheim weg führt eine Allee über Land, ein paar hundert Meter dahinter verläuft noch eine, sodass sich in der Vorbeifahrt ein Fries ergibt aus ineinanderlaufenden Reihen von Bäumchenskeletten wie aus einer Laterna Magica an die Wand geworfen.

An welche Wand?

An irgendeine. An eine, die Dir lieb ist. An der Du dies Bild sehen willst.

Weiden werden ausgeputzt, Arbeiter tragen Leuchtkleidung, die Wurzelballen wurden freigelegt wie Zahnhälse (unwillkürlich zog ich Luft ein durch die Zähne, obwohl das ja dann besonders wehtut). Kurz vor Braunschweig standen vier Rehe auf einer durchweichten Wiese – drei schauten weg und eins schaute her, und allesamt machten sie ein erstauntes Gesicht, weil das bei dieser Tierart ja durch den gesamten Körper geht, das Erstarren der Mimik.

Die weißen Blumen!

Nur ein paar Minuten weiter schwingt sich am selben Himmel die Silhouette eines Raubvogels auf. Hinter ihm ist alles milchgrau, aber das sieht er nicht.

Der Zug bremst. Rechts ist es grünlich, links strohfarben, es ist ein außerplanmäßiger Halt. Wie unordentlich die Landschaft zu dieser Jahreszeit wirkt. Als sei es egal, weil sowieso niemand genau hinschaut. Und wie ich das denke, schaue ich weg.

Der Zug, also sein Lokführer, versucht nun, die vergangene Zeit wieder gutzumachen; sie einzuholen.

Es geht durch Kurven. Dem Gegenüber schwappt sein Weißbier erst links, dann kontrapunktisch rechts aus den Mundwinkeln (wie beim Zähneputzen). Ich tät‘ gern dazu gurgeln (tue es aber nicht).

Draußen die Pappeln wie Bürsten, die Wälder wie irgendwas; insbesondere die Birken sehen schäbig aus. Jetzt täte ein Fluss gut, zur Not auch ein See. Aber es kommt nichts.

Sad.

Bald führt die Landschaft links und rechts einen weißlichen Streifen mit. Offenbar wird es kälter. Dann kommt Berlin. Herbert, der Pharmavorstand vom Wasserhäuschen, konnte das, wie er betonte: »einzige Gedicht« von Franz Kafka rezitieren. Darin kamen unter anderem auch Spaziergänger vor, die nackt – also unbekleidet – im Kies unterwegs waren. Und ich hatte Herbert ermahnt, hatte gesagt: So etwas gibt es doch nicht – nackte Menschen, draußen.

Und Herbert, mit großen Augen: in Frankfurt schon.

Im Traum leuchtet jemand mit der Taschenlampe in Tütensuppen und zeigt mir das bunte Granulat.

7.2.

Im vierten Stockwerk unseres Hotels gab es im Treppenhaus eine Tür, auf der in vergoldeten Buchstaben Helmut Schmidt stand. Sonst nichts. Also keine weiteren Erklärungen. In einem der umliegenden Gänge, die ansonsten menschenleer waren, bis auf einen einzelnen Mann, der hinter einer Glasscheibe auf einem Laufband trainierte, trafen wir auf eine Arbeiterin des Reinigungspersonals und befragten sie (auf Englisch), nach dem Raum hinter dieser Tür.

»It is conference room.«

Da es Sonntag war, hatte die Hotelküche geschlossen. So lautete zumindest die Begründung der Rezeptionistin, die uns einen Fächer aus den faltbaren Speisekarten von Bonner Bringdiensten aufs Zimmer gebracht hatte. Die Pizzeria Big Boss Brothers aus Bonn Bad Godesberg wusste mit den arabischen Schriftzeichen حلال aus der Masse an herkömmlichen Pizzabringsdiensten herauszustechen. Zudem war hier das Angebot an Belagskompositionen schier unübersichtlich und wurde in einer für das Setzen von Telefonbüchern entwickelten Schrift in einer veritablen Bleiwüste aufgeführt. So gab es UNTER ANDEREM eine Abteilung der Abart Pizza Hollandaise, die uns neugierig und auch noch hungriger gemacht hatte. Wir bestellten eine Hollandaise mit Thunfisch und eine amerikanische Fleischstreifenpizza mit käsegefülltem Rand. Der Telefondispatcher der Pizzeria stellte sachkundige Fragen, die – hier passt es mal ausnahmsweise: Pizzaspezialitäten wurden uns bereits wenige Minuten später per Motorradkurier bis ans Bett serviert.

Zur Hollandaise nur so viel: cremig. Und im Übrigen genau so, wie man sie sich vorstellt. Die amerikanische hingegen: eine Wucht.

6.2.

In die Außenwand der Bonner Kunsthalle hat ihr Architekt Gustav Peichl das Wort Deutschland in vergleichsweise kleinwüchsigen Buchstaben aus Bronze einsetzen lassen. Im letzten Abendlicht, das den hellen Ton der Wände rosig färbte, stand dort davor gestern ein Mann und fotografierte das Spiel aus Licht und Schatten und die reliefartig aus dem Beton hervortretenden Buchstaben, perspektivisch nach hinten weg, zum D in Deutschland hin in eine Unschärfe hin fluchtend. Das sah dynamisch aus auf seinem Display. Die Aufnahme war vermutlich als Header für seinen Account bei Twitter gedacht.

Die Ausstellung mit den Räumen von Gregor Schneider beginnt in einem Vorraum, dort sind indische Gottheiten aufgestellt, die teilweise noch in ihren Verpackungen stecken. Ringsum wird auf drei Projektionsflächen simultan gezeigt, wie an einem Ort in Indien diese Skulpturen aus Zement modelliert wurden. Dann fängt es dort an zu regnen und alles wird überschwemmt, während ein anderer Film zeigt, wie eben diese Skulpturen auf einer Art Thronwagen in das reißende Wasser eines indischen Flusses geschoben werden, während auf der anderen Seite dann bereits ein Tempel eingeweiht wird, dessen Altar mit diesen Skulpturen geschmückt erscheint.

Ein Mann in dunkler Kleidung, der streng nach Zigarettenasche roch, war plötzlich neben uns aufgetaucht in dem ansonsten schummrig beleuchteten Raum. Ohne dass wir ihm eine Frage gestellt, noch nicht einmal fragend um uns geschaut hatten, erklärte dieser Mann uns die Filminstallation mit wenigen Sätzen, indem er in seinen Worten wiedergab, was wir dort gesehen hatten. Und jagte grußlos davon, riss eine schwarze Tür in der mit schwarzem Molton verkleideten Rückwand des Saales auf, um in der dahinter aufgetanen Dunkelheit zu verschwinden. Wir folgten ihm nach.

Die Zimmerflucht bestand aus den unterschiedlichsten Räumen. Das klingt jetzt farblos, aber wann hat man das schon, dass man eine Türe öffnet und dahinter befindet sich nicht das Erwartete, aber halt auch nichts komplett Unerwartetes, sondern ein Raum, der von sich aus nicht passen will? So gelangten wir in einen Flur mit vielen Schiebetüren, die man allesamt nicht aufschieben konnte (in dieser Kunstausstellung war das Berühren der Kunst erlaubt, vielleicht sogar erwünscht, jedenfalls löste es keinen Alarm aus, gleich wie wirklich wir auch an den abstrahierten Modellen von Türen schoben und rüttelten. Unterdies wurden die Räume von Tür zu Tür konkreter, bis sie nach dem Durchsteigen einer gepolsterten Röhre, die von ihrem Inneren her leuchtend wie Cy Twomblys Zitronen gänzlich unverbunden in einem grenzenlos schwarzen Raum aufgebaut war, regelrecht ekelerregend wurden. Besonders schlimm war ein Badezimmer, hinter dessen beschlagenem Duschvorhang aus transparentem Plastik das Wasser mit zuwenig Druck aus dem Brausekopf rieselte. Auch ansonsten bot sich mir dort ein Anblick, dazu das Geruchliche, von dem ich mich nicht mehr leicht erholen konnte.

Ausgerechnet in einem dieser Folgemomente sprach uns der Mann in Schwarz erneut an. Es war, als hätte er uns eingeholt, dabei waren wir ihm doch hinterhergegangen. Übergangslos, also schon wieder ohne jeden Gruß, begann er uns von seinen Erfahrungen mit den Besuchern dieser Ausstellung zu berichten, die voller Leid gewesen waren. Offenbar gehörte der Mann zum Aufsichtspersonal des Bonner Museums. Vielleicht war er auch ein von Gregor Schneider beauftragter Darsteller eines Museumswärters. Im Zustand der leichten Verunsicherung, in den uns die Rauminstallationen der Zimmerflucht Gregor Schneiders versetzt hatte, schien uns das nicht mehr selbstverständlich zu sein. Auch zog sich das Gespräch mit dem Mann auf immer grotesker wirkende Weise in die Länge, bis dieser schon beim Aufsagen Kölnischer Grußformeln angelangt war. Unsere Flucht durch weitere Türen führte jedoch nicht ins Freie, sondern nur in weitere Räume, die Gregor Schneider in, wie es uns nun schien, unaufhörlicher Folge hintereinander geschaltet hatte, um unsere Plage ins Unendliche zu verlängern. Kurz bevor es unerträglich geworden war, standen wir in einem Raum, auf dessen Fußboden durch Abriebe schmutzig gewordene Kindermatratzen verteilt lagen, sowie unter Plastiktüten nur halb verborgene Attrapen von toten Kindern und Erwachsenen, die Trainingshosen anhatten. Endlich also der comic relief. Im letzten Raum waren dann scheinbar wahllos fotografische Arbeiten des Künstlers gehängt. Auf der einen, offenbar ein Selbstporträt, war er nackt und über und über mit Haferschleim bedeckt abgebildet. Daneben hing ein von den Proportionen her heillos überdehntes Aktgemälde einer unbehaarten Frau. Der Ausgang führte erneut durch den Vorraum, wo noch immer die Filme aus Indien gezeigt wurden. Wir beeilten uns, bevor noch der Schwarze kommen konnte, um uns erneut hinter ihm her in das Innere zu zwängen.

Vor dem Museum war noch ein wenig vom Tageslicht übrig, wie uns schien. Aber das kam aus kleinen Punktstrahlern, die in das über den Vorplatz auskragende Dach aus Beton eingelassen waren. Der Nachthimmel blau wie im Sommer. Ein friedliches Bild.

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