»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

MASCARA MELTDOWN

Alle sind zufrieden. Wie schnell sich das wegliest, woran man tagelang schreibt. Ganz ähnlich dem Kochen: Haps, haps, pieks, pieks: alles verputzt. Zur Feier drückte ich mir eine halbe Tube Kaviarpaste aufs warme Brot. Am Boden liegen, auf den Seiten dieser Zeitung ausgebreitet, die Walnüsse, die Frank uns von seinem Stückle mitgebracht hatte. Die waren innen noch weich wie Larven, sie müssen trocknen. So wie sie da jetzt rings um die Fraktur liegen, gibt das ein schönes Bild von Ewigkeit. Aus den Lautsprechern erklingt das Movement 5 von Carl Craig. Passenderweise. Festliches Gluckern.

Im Baum, ganz oben am Stamm, bevor der sich in zwei Äste teilt zur Krone: ist das denn etwa eine Maus? So wie dies kleine Tier dort hüpft, senkrecht nach oben, kann das ja wohl kein Vogel sein.

Über was soll ich schreiben, wovon kann ich erzählen? Am liebsten, zur Abwechslung, mal nicht von mir.

And the clouds are weeping. I spoke like a child.

SEX

Jetzt weiß ich es wieder, warum mir die letzten Zeilen so schwer zu entlocken waren. Weil es die letzten sein würden. Und weil die Welt, die ich mir da selbst beschrieben hatte, eine schöne war. Jetzt ist es vorbei.

Arno Schmidt soll ja, nach seinen fünfzigtausend Jahren in der Kemmenate, mit einem Glase Weinbrand in den Händen zu seiner Frau hinabgestiegen sein. Womöglich hat er dabei Klopstock imitiert, der nach der Vollendung seines Messias geradezu entgeistert gewirkt haben soll auf seine Familie. Und war es nicht Mommsen, der sich zur Feier des Tages sogar selbst in Brand gesetzt hatte?

Eine Treppe hätte ich. Allein die Frau ist leider unabkömmlich, sozusagen verhindert. Da bleibt mir bloß der Spiegel für meinen Krystle-Carrington-Moment.

Eins gilt es zu behalten: Wer jetzt ganz einfach, wie natürlich weiterschreibt, der kann noch viele Bücher schreiben.

NUR MIT EUCH

Der Wind hängt rauschend in den Bäumen. Manchmal wird es wieder still, als falte er die Hände. Blätter fliegen vor dem Fenster vorbei, die Ahornschrauber blitzen. Am Boden liegen dicht in Kreisen um die Stämme: Eicheln und Kastanien. Eine reichere Beute als im letzten Jahr und die Regel besagt, dass es einen harscher Winter geben wird. Wo neulich erst die Leitungen verlegt wurden, spriest Gras in feinen Spitzen, gerade so, als könnte es gar nie anders, als immer nur zu wachsen, gerade, nach oben hinaus.

Ich denke an die Zeit, als wir noch nicht zusammen waren. Heute herrscht die Tinte.

ELECTRIC GUITARS

Jetzt kann ich es schon kaum mehr unterscheiden, ob die Blätter am Kirschenbaum im Licht der Sonne golden leuchten, oder ob der Goldton ihrer Färbung von ihnen selbst, durch den Beginn des Welkens hervorgebracht wird.

Gestern abend mit dem Fotographen ein Konzert von Blumfeld besucht (im Festsaal Kreuzberg). Seit unserer Fahrt nach Bonn und dem Aufenthalt dort leidet er an einer Stirnhöhlenentzündung, gegen die er große, mir überdimensioniert erscheinende Pillen eines Antibiotikums einnehmen soll. Ich brachte ihm ein Alkoholfreies Bier, weswegen mich eine an beiden Armen schwer tättowierte Frau am Tresen dort milde anblickte. Ihre milde Gestimmtheit wird sich vermutlich auf die Gesamtheit des Publikums bezogen haben. Ich hatte es mir freilich ganz anders vorgestellt in seiner Zusammensetzung. Aber gut, Brecht behält Recht, und außerdem ist es für die meisten, gesamtgesellschaftlich betrachtet, anscheinend noch besser gelaufen als für den Fotographen und mich in ihrem weiteren Leben seit ihrem ersten Blumfeldkonzert. Jedenfalls ergab sich ein sittsames Bild. Ich hatte immerhin auf einen Sitzplatz bestanden. Mitsamt einem Tisch und einer gepolsterten Bank à la Dive Bar. Im Grunde saßen wir dort wie im Großraumabteil eines ICE. Stellte sich vor uns jemand hin, um uns den ungehinderten Blick auf die Bühne zu nehmen, baten wir höflich darum, den Ausblick zu räumen. Als Jochen Diestelmeyer sein Publikum über Mikrophon begrüßte, riet er dazu, dem Babysitter rechtzeitig Bescheid zu geben, denn es könnte heute doch länger dauern. Ich zündete eine Zigarette an. Mein Nebensitzer auf der Bank, also nicht der Fotograph, der war zu meiner Linken, der Herzseite, auch Diestelmeyer hatte die Bühne von der linken Seite her kommend betreten, sondern ein Fremder, der sich uns nicht vorgestellt hatte, sagte »Darf man das?«

Ich sagte »Natürlich nicht.«

Woraufhin er »Na also« sagte. Und mich anwies, die Zigarette umgehend auszulöschen. Zwar hatte er das Zauberwort vergessen, aber ich kam seiner unmißverständlich vorgetragenen Bitte selbstverständlich sofort nach. Woraufhin er sich wieder seiner Begleiterin zuwenden konnte, die, genau wie er, den Eindruck machte, als wollte sie beim Schmusen ihren Alltag samt Kostenstellen vergessen. Jochen sang Einfach so.

Es wurde aber trotz allem ein funkelnder Abend. Als dann zum Abschluß Verstärker gespielt wurde mit dem Zitat von Prefab Sprout in der Mitte »We were quoted out of context—it was great«, dann Strobo und Lärm mit Tobias Levin, lauschte ich in Ergriffenheit. Und hatte tatsächlich und wirkliche Gänsehaut (auf den Armen, und im Nacken ASMR.) Mir war nichts peinlich. Ich war halt in die sogenannten Jahre gekommen. Als ich zum ersten Mal in Altona auf einem Blumfeldkonzert gewesen war, hatte ich platinblond gebleichtes Haar. Einst hatte ich davon geträumt, ein Rockstar zu werden. Beim Erwachen mußte ich heute früh mal wieder selbst darüber lachen, denn mein Traum war mitsamt all seinen vielen Details in Erfüllung gegangen.

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