»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

6.4.2019

Am Donnerstagabend stellte Jan im Nebenraum des Grill Royal seine 360°-Verfilmung eines Teils der Oper Figaro vor. Um sich das anschauen zu können, mußten die Teilnehmer eine VR-Brille aufsetzen und ein paar Kopfhörer. Man erlebt das also zwar gemeinsam an einem Ort, aber jeder für sich. Vergleichbar mit dem Konzept der Silent Disco. Diese Brillen sind von der Form her wie Taucherbrillen, durch deren Glas man ja auch eine Art für den Menschen virtuell bleibender Wirklichkeit betrachten kann, die der Meeresbewohner.

Emanuele Coccia schreibt: »Die Welt als Eintauchen zu betrachten, wirkt wie ein surreales kosmologisches Modell, und doch machen wir diese Erfahrung häufiger, als man meinen möchte. So erfahren wir die Welt des Fischs zum Beispiel jedes Mal, wenn wir Musik hören. Wenn wir das Universum, das uns umgibt, nicht ausgehend von dem Stück Wirklichkeit konstruieren, zu dem der Sehsinn uns Zugang gibt, sondern die Struktur der Welt von unserer musikalischen Erfahrung ableiten, dann müssten wir die Welt als etwas beschreiben, das nicht aus Objekten besteht, sondern aus Strömungen, die uns durchdringen und die wir durchdringen, aus Wellen unterschiedlicher Intensität und in ständiger Bewegung. Stellen Sie sich vor, Sie sind aus derselben Substanz gemacht wie die Welt, die Sie umgibt.«

Und so, auf eine anfänglich mich beängstigende Weise habe ich das Geschehen durch die VR-Brille erlebt. Ich fand mich aufgelöst in dem, was vor meinen Augen hinter der Brille geschah. Ich konnte beispielsweise nach unten schauen, da ging es tiefer zu Boden, als ich es fühlte (ich saß dabei.) Man kann, während die Darsteller sich vor einem bewegen, den Kopf umherwenden und schaut dann in eine unbespielte Ecke des Raumes, so als bewegte man sich frei in dem aufgezeichneten Raum. So ein Film wird wohl von einer Kugelkopfapparatur aufgenommen, die an einer Stange mitten in dem Bühnenbild befestigt steht. Der Kugelkopf enthält viele einzelne Kameras, die, ungefähr nach dem Prinzip des Facettenauges einer Libelle, lauter Teilausschnitte des räumlichen Geschehens aufzeichnen. In einem Computter wird dann aus den einzelnen Filmen die 360°-Illusion zusammengerechnet (der Vorgang nennt sich Stitching.)

Ich weiß nicht, ob ich die Erfahrung noch einmal machen will. Stellte mir vor, Gaspar Noé hätte seinen Enter The Void in dieser Technik verfilmt. Da würden einige Zuschauer sterben. Die ersten zwanzig Minuten wären dazu völlig ausreichend.

Ich wachte am Morgen jedenfalls auf und fühlte mich wie seekrank. Fuhr dann aber trotzdem mit dem Fotographen bis an die Stadtgrenze hinaus, um mit Heinz Bude zu sprechen. Dort gab es den größten jüdischen Friedhof Europas, wie er uns erzählte. Und durch das sprechen mit ihm, auch wie wir uns entsprachen wurde ich wieder an den Strand der Wirklichkeit geholt. Auch weil der Fotograph mich noch mitnahm in einen Baumarkt, weil er sich, plötzlich ganz dringend, eine Schlagbohrmaschine kaufen wollte. Am Stand mit »Neuester Technik« gab es ein Alexa-förmiges Türmle aus schwarzem Plastik, das nach dem Einschalten vibratorenhaft surrte und zwei Lappen aus Zellophan durch die Luft wirbeln ließ. Das war ein elektrischer Fliegenverscheucher. Auf dem Werbeschild stand »Sie können jetzt abends mit ruhigen Händen draußen essen. Der Fliegenverscheucher hält ihnen die Insekten vom Leib.«

5.4.2019

Die sogenannte Therme springt jetzt tagsüber kaum noch an, weil es schon morgens so schön warm ist – das Ende der Heizperiode ist da. Wie ich es im Buch geschrieben habe: Hin und zurück ist gleich weit. Und: Draußen wie drinnen wird es gleich schön. Der Luftdruck war überdies gesunken auf 993,0 Hektopascal.

Wahrscheinlich müsste ich aber die Dunkelzone etwas ausleuchten mit meinen Beschreibungen, um den Hintergrund aufzuhellen, vor dem die Lesung, vor dem auch Robert Habeck mir gestern so leuchtend erschienen war.

Es ist für mich eine unliterarische Umwelt (obwohl jeder und jede zweite, selbst im Gehen, andauernd liest). Es ist eine Umwelt, in der die Anzeigefelder an den Stangen der Tankstelle mir zu jeder Tageszeit den aktuellen Spritpreis in roten Ziffern anzeigen, ohne weiteren Kommentar. Und gleichzeitig habe ich gerade noch ein Eichhörnchen betrachtet, das, beim Sprung vom belaubten Baum hinüber ins Gerippe des anderen, seinen Schwanz wie beim Yoga über seinen Körper vorangebogen hat bis auf seine Schnauze hin und ich fragte mich: Was will mir diese Geste bedeuten?

Die gleiche Welt übrigens, in der ich mich dabei noch fragte, wieso der rechte Baum, von mir aus betrachtet, um Wochen früher austreibt als der linke. Und: Was ich für den Spätzünder tun könnte? Und in diesem Baum, dem kahlen, gibt es seit dem Winter schon Äste, von denen das Eichhörnchen unter anderen die Rinde abgeschält hat bis auf das Innere, das Fleisch seines Gewächses. Tags landen dort auf den Wunden des Baumes auch die Vögel, um Fasern herauszureissen. Die werden abtransportiert, als Material für den Nestbau. Eine Nebelkrähe, die gibt es angeblich bloß hier, in Berlin, hüpft mit einem Bündel dieser Holzwolle einen Ast aufwärts. Dann schwebt sie, anscheinend schwerelos geworden, damit davon.

Es ist eine Welt, in der sich, im Nachbarhaus der Buchhandlung zur Stunde der Lesung von Robert Habeck, massenhaft junge Leute versammelt hatten, um dort, bei Risa (einer Systemgastronomie für frittiertes Hähnchenfleisch) zu zweit oder zu dritt am Tisch beieinander zu sitzen, um diese auf Papierservietten ausgebreiteten Hähnchenfleischteile mit Pommes frites zu schmausen (und dabei hatten viele den persönlichen Bildschirm in der anderen Hand).

Wenig später fragte ich mich im Stillen, ob der Petersilienstrauch, den ich dabei war zu kaufen für weniger als zwei Euro, denn nicht unnatürlich hoch geschossen mir vorkommt, weil mir die am Rande seines Topfes aus blauem recycelten Kunststoffes herausragenden Stiele der Pflanze als etwas zu bleich scheinen wollten. Das war in dem Supermarkt, an dessen Front große Plakate verkünden, dass ich beim Kauf eines bestimmten Joghurts mittlerweile einundvierzig Prozent spare von meinem Geld.

Manchmal schrecke ich auf aus einem meiner Tagträume, weil der Xylophonakkord in »The Lost Generation« genau so klingt, wie der Benachrichtigungsklang meines Telephons (Und eventuell von The Lost Generation oder von »So lebe ich« von Blumfeld gesampelt ward).

Und es ist diese Welt, in der mir in der Zeitung eine Tauchdrohne vorgestellt wird, hergestellt in Schleswig, die über eintausend Euro kosten soll, und deren Hersteller sein Produkt an die Freunde des Angelsports offeriert: »Sie können den Fischen beim Anbeißen zusehen.« Und abends steigt die neueste Errungenschaft der Verkehrsbetriebe mit ein in die S-Bahn. Auf dem Rückenschild seiner gelben Weste steht »Kamera«. Demna Gvasalia dürfte das gefallen.

Andere wiederum kaufen Ostereier. Wieder andere färben die selbst. 

Die Welt, in der die Lesung von Robert Habeck gestern stattgefunden hat, ist natürlich noch größer. Am gleichen Tag telephonierte ich mit einer Autorin aus der Schweiz, die mir verständlicherweise mitteilen musste, dass sie für diesen Textauftrag nicht weniger als zweitausendfünfhundert Franken zu bekommen braucht. Und es war in der gleichen Welt, verbunden durch das Internet, als ich beim Ausfüllen des Mitgliedsantrages bei den Grünen feststellte, dass ich sehr wenig verdiene (man soll dort einen Prozent seines Monatsgehaltes eintragen als Beitrag – das war mir peinlich. Ich habe das Formular nicht abgeschickt).

Als ich Ingo neulich erst fragte, warum er seine Wohnung hier in Berlin nicht aufgeben will, sagte er: Eine Lagerfläche für meine Bücher in der Schweiz kostet mich mehr im Monat als eine Wohnung in Berlin.

Von einer Lagerfläche in der Schweiz wage ich nicht mehr zu träumen. Und zeitgleich schieben die Fingerspitzen des Postboten oder der Postbotin einen Brief durch den Schlitz in meiner Wohnungstüre, in dem mich die evangelische Gemeinde Luisen hier willkommen heißt und einlädt, zu den Gottesdiensten zu erscheinen. In diese Kirche übrigens, die ich schon mit Friederike und davor mit Christian bewundert hatte, weil die wirklich großartig gebaut ist.

Stelle die Musik aus, hör‘: Wie schön das draußen ist! (Abends legt sich alles in mir und ich traue mich nicht einmal mehr Musik anzumachen. Das ist wohl Erfurcht.)

Und die Welt ist ja noch viel größer. So groß, dass ich mich selbst nicht außerhalb ihrer vorzustellen vermag.

Das Eichhörnchen lebt auch in dieser Welt. Und Robert Habeck sagte gestern: »Wenn meine Leute im Bundesvorstand hören, dass ich hier Celan vorlese, drehen sie durch«.

Ah ja, warum eigentlich? Ist doch furchtbar traurig. Eigentlich. 

The world spins so fast, that I might fly off — Duran Duran haben das gesagt, Simon Le Bon hatte es gesungen. Ist mega lange her. War damals lustig gemeint (oder subjektiv), wirkt heute wie prophetisch auf mich, weil es ja die Motorizität des Planeten beschreibt. Gleich so, als ob der Tag nicht bloß vierundzwanzig Stunden hat, sondern auch noch einen ihm eigenen Rhythmus, gegen den man nun mal nichts aufzubringen hat. Gegen den man nicht an kann. Als Mensch. 

Aussteigen geht auch nicht. Mitmachen lohnt sich. Die abscheulichste Vorstellung, die ich von mir selbst haben kann, wäre die:…(Raum für Notizen)

My Heart Will Go On (Roman Flügel Club Mix).

4.4.2019

Robert Habeck hat in einer Berliner Buchhandlung gelesen, und ich war dabei. Warum? Ja, warum nicht, könnte ich schreiben, wenn dieser Entgegnung nicht eine Selbstverständlichkeit innewohnte; aber Spitzenpolitiker lesen nicht in Buchhandlungen—weder in Berlin, noch außerhalb des Hauptstadtareals; weder die von der Regierungspartei, noch die von den Grünen. Also war das außergewöhnlich, deshalb war ich dabei.

Robert Habeck kommt natürlich erst kurz vor Beginn seiner Lesung, die drei-, bis vierfach ausverkauft war. Die Reihe »Meine Lieblingsbücher« zieht regelmäßig einhundert Leute aus Prenzlauer Berg in die Buchhandlung von Katharina von Uslar und Edgar Rai, aber dieses Mal war es extrem.

Ich muß ja gestehen, dass ich Robert Habeck als gesichtsähnlich empfinde mit Campino—was nichts Schlimmes bedeuten soll, weil ich mag den ja auch. Aber Habeck wiederum braucht keine Pose. Und im Gegenteil nahm er sein Publikum ein mit Verletzlichkeit, mit Fehlern. Denn die Bücher, die er als seine Lieblingsbücher vorstellen wollte, die waren nicht etwa Raupe Nimmersatt und Die Kinder von Schewenborn, Die Grüne Wolke oder der »Hirbel«: Habeck las aus Celan. Dann Levinas. Und aus dem Sisyphos von Albert Camus, den auch Heinz Bude als zentral befindet für das Verständnis unserer Krise.

Was mich beeindruckt hat—in und zu dem Maße, dass ich vor ihm niederknien wollte—war, wie er das vorgetragen hat. Nämlich verletzlich. Und unvollkommen. An den Texten selbst scheiternd. Als nicht dabei Gewesener sollte man es sich so vorstellen, dass da ein Spitzenpolitiker vorne steht, in seiner spärlichen Zeit, vor zweihundert Berlinern, und aus einem Buch vorliest, dass er selbst nicht versteht. Und das sagt er auch so: Ich verstehe den Text nicht, aber er scheint mir wichtig.

Als ich niederknien wollte, sagte Robert Habeck: In der Kuhle, wenn der Stein noch nicht wieder heraufgeschoben wird, aber eben erst herabgerollt ist; wenn der Sisyphos dann einen neuen Anlauf nimmt, scheint für mich das Kreatürliche im Menschen hervor.

Und dann, so dachte ich: welcher andere Politiker würde das oder so etwas vor Publikum sagen?

Wer traut sich, derart laut zu denken?

2.4.2019

Der Kleine Wagen ragt über das Dach der Häuser gegenüber, der Grosse steht zentral: Ich kann in den Sternen lesen (Allein auf meiner Ghost Ranch.)

In der glücklicherweise immerwährenden Frage, welches Stück der Popmusik wohl diesem Gefühl nahe kommen könnte, votiert Johanna Adorjàn für »Nine Out of Ten« von Gaetano Veloso. Ich finde »Listen Love« (von Jon Lucien.) 

Kein Disput.

Ja. Weil

Das Leben verlangt nach einer zartbittr‘en Symphonie

Als Soundtrack, weil wir dem Gelde versklavt

Jemanden suchen, der uns zur Seite

Steht, uns doch kaum zu ändern im Stande

Dann doch sterben werden

Müssen

Und Pure Vernunft darf niemals siegen.

1.4.2019

Am Morgen, bei der Zubereitung des Kaffees dachte ich, noch schlaftrunken, aber dabei erfrischt vom quadrophonisch aus allen Ecken des Hinterhofes hereinschallenden Konzerts der vier Amseltenöre: Warum wohl die Menschen sich als ersten Trunk des Tages noch Tee oder Kaffee machen, wo es doch einfachere Formen gäbe? Ob es vielleicht daran liegt, dass sie sich, aus in Gehirnwellen gebadet und gewiegt jetzt wieder am Strand der Wirklichkeit abtropfend erleben wollen: Feuer machend (am Gasherd), mit pulverisierten Gewächsen hantierend, Geräte bedienend, Tierprodukte schäumend, ihre Gefäße befüllend, diese zum Munde führend.

Dann unter der Sonne in den Fenstern die Zeichen und Wunder entdecken (und lesen können, gemeinsam als Paar.) Hat man sich erst eine eigene Welt erfunden, beziehungsweise eine eigene Sprache für deren Phänomene erarbeitet, spricht die Welt unaufhörlich zu einem; wir sind wie eins zu zweit. Die Wärme und der Stich des Lichts tut ein Übriges dazu—schwellendes Wohlbefinden.

Am Abend, jetzt, bin ich völlig erledigt. Kann nicht einmal mehr lesen. Meine Augen haben alles getrunken. Mach den Ofen aus; bin satt.

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