»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

20.3.2020

Die Ranunkeln im vor ein paar Tagen frisch gekauften Strauß entblättern sich. Schon. Früher sammelte ich die Blütenblätter gern in einer kleinen Schale, die ich neben der Vase aufstellte — um ein Gleichgewicht herzustellen.

Heute, es war schon dunkel, streute ich sie vom Balkon in den Hof.

19.3.2020

Every day is like sunday

Von allein wäre ich wohl nicht draufgekommen: Eine Redakteurin fragt mich am Telefon, warum ich nichts mehr geschrieben habe. Mir fällt ein «Wenn man jeden Tag versucht, etwas zu erzählen und dann gibt es plötzlich diese riesige Erzählung, der alle lauschen und die ein Straßenfeger ist…» Ja, sagte sie. Und ich wußte es auch.

Das Genre Seuchentagebuch ist schon passé. Sieht doch jeder, was draußen los ist. Und was Leïla Slimani in Le Monde schreibt «J’ai dit à mes enfants que c’était un peu comme dans la belle au bois dormant» — Bobo-Porn.

17.3.2020

Zurück in Frankfurt. Um die Zeit im Garten noch zu verlängern, ihr nachzuhängen, wie es heisst, habe ich den Platz, an dem ich schreibe auf den Balkon verlegt — umweht von Wäschedüften und im Schatten eines Mandelbaums; der derzeit freilich erst ein Bäumle ist und mir mit seiner Krone, wenn ich sitze, gerade bis zur Schulter reicht. Die Sonne selbst scheint auch noch nicht.

Bei der Gartenarbeit war ich selig. Vor dem Einschlafen fragte ich mich gestern noch, warum. Wohl weil mir die Arbeit nützlich vorkam auf eine Weise, zumindest halt nutzbringender als die ich sonst tue. Mit beiden Händen in die trockenen Spiraën greifen und mit der Rosenschere Büschel schneiden, dass man später nach Feierabend den Handmuskelabend spürt. Kitsch der Rechtschaffenheit, ein Komplex?

So fiel mir dann auf, als wir sonntags nach Hohenhaslach fuhren, dass mithilfe der massenhaft verbreiteten elektrischen Heckenscheren das Erscheinungsbild von Natur an den Strassenrändern verändert wurde, dergestalt, dass hier bald alles Hecke ist. Auch ausserhalb der Ortschaften sind die Büsche und Sträucher zu Senkrechten getrimmt. Auf einem Vorplatz hatte jemand drei Forsythiensträucher zu gelben Würfeln beschnitten. Wenn man das alles mit der Hand schneiden wollte, brauchte es Hundertschaften, wochenlang.

In den Weinbergen allerdings immer wieder breite Streifen ungezähmter Natur, beinahe freilebend. Mit alten Obstbäumen, an einem hingen die schwarzen Quitten vom vergangenen Jahr. Es war schon warm, auf einem Haufen Feldsteine lungerte eine junge Eidechse herum. Früher hätte ich mich angeschlichen, mittlerweile macht unser Bruder Otho bloß noch eine Aufnahme mit dem Telefon. Er braucht auch nichts mehr abzupflücken. Und trägt doch reiche Beute mit nach Haus.

Vom Teufelsberg aus lösten sich im Schwarm die Paraglider. Trugen den Virus weit ins Land.

13.3.2020

Abends stiegen wir ins Auto, mein Vater fuhr uns nach Tiefenbronn. Ich schaute aus meinem Fenster. Die Sonne war eben erst untergegangen, ich schaute den schönsten Abendhimmel. Gerahmt vom dunklen Saum der Wälder, dahinter hoch und weit ein leuchtend warmes Grau, in dem sich Tusche kräuselte. Das Radio blieb ausgeschaltet, der Wagen flog dahin. In der Schwärze war die Autobahn zu sehen, ein weit gespannter Draht, besteckt mit lauter Leuchtdioden. Das ist der Fortschritt, seitdem ich hier aufgewachsen bin: Es ist alles viel besser beleuchtet.

Wir aßen in der Sonne. Die Wirtschaft hatte ich einst in Vanity Fair empfohlen — insbesonders wegen des herausragenden Schweinskoteletts. Eine Farbkopie meines Artikels hing viele Jahre im Eingangsbereich. Neulich wurde renoviert, jetzt hängen an dieser Stelle hübsche Motivkacheln, die zu dem schönen Scraffito auf der Husse des Kaminofens passen, das eine Tanne zeigt, ein Reh und eben den goldgelben Stern.

Später dann, bei der Fahrt heim durch die Wälder, funkelten aus dem Dickicht am Strassenrand die Reflektorwesten und Stirnlampen der Umweltaktivisten, die zur Zeit eimerweise Kröten einsammeln und über die Straßen tragen (damit die nicht überfahren werden. Meine Mutter erzählte von Schottland, wie dort an jedem Morgen die Straße gepflastert war von überfahrenen Hasen; und dass die Schotten dazu «Road Pizza» sagen.)

Mein Vater ist noch immer der Fahrer, dem ich blind vertraue.

12.3.2020

Im Zug nach Stuttgart. Mein Vater hat heute Geburtstag: 77 Jahre (und das im Jahr mit der symmetrischen Zahl!) Der Zug ist beinahe leer, Salonwagen-Gefühle (die sich natürlich «breit machen»). Mir gefällt das, aber gleichzeitig meldet sich ein schlechtes Gewissen: Ich sollte doch eher an die Bedrohung denken. Dabei fällt mir dann «Las Battuecas» ein von Stéphanie de Genlis, wo die perversen Karmeliterinnen sich singend in die Kolonie der Unberührbaren schleichen, um dort dann in der Grotte die Siechenden mit unkeuschen Küssen zu bedenken. Hatte sich eine endlich angesteckt, wurde sie von ihren Schwestern für ihre Schwären beneidet, die sie Rosen nannten.

Vor zwei Jahren erst sah es düster aus für meinen Vater. Heute ist bloß noch der Himmel grau.

11.3.2020

Die ersten Seuchentagebücher sind online. Wu Ming (jetzt bringt das chinesische Pseudonym natürlich die Würze) schreiben aus Bologna (2020L.net) und lassen es freilich offen, in welchem Maß ihr Text von Fiktionen kontaminiert wurde — genau das aber, in dem Ton will ich aber jetzt lesen. Ich finde ja auch Diary of the Dead noch gelungener als Dawn of the Dead. Gestern abend die Drohnenflüge durch das menschenleere Rom bei Tageslicht: Genau jetzt muss man dorthin und Fotos machen, Filme drehen. So billig kriegt man die Kulisse nie mehr vor die Linsen.

Wu Ming kommen bald, noch mit den Einträgen aus dem Februar auf «Überwachen und Strafen» zu sprechen. Ich hatte zuletzt häufig an die Passage gedacht, in der er erzählt, wie dieser stoische Grüßzwang der Franzosen geprägt wurde, der ja ursprünglich ein Nachfragen aus Pestzeiten war, wie es einem geht (Comment-ça va), mittlerweile eine Phrase wie How are you doing oder unser spechthaftes Na? 

Schade oder egal, dass Foucault den Virus seiner Ära nicht überlebt hat? Dass die Leute sich bald schon selbst diagnostizieren würden mit Gleichmut (ob ihre Karte heute akzeptiert wird oder abgelehnt, ob ihr Fingerabdruck ihr Telefon noch entsperrt, oder eine erneute biometrische Authentifizierung erforderlich ist für diesen Identitätsnachweis), dem eigenen Wohle zuliebe gegenseitig überwachen, hat er vorausberechnet.

In den Abendnachrichten auf Arte war gestern von Gefangenenaufständen in drei italienischen Strafanstalten die Rede, weil der Staat ein landesweites Besuchsverbot verhängt hat. In der Tagesschau wurde darüber nichts berichtet. Wu Ming beschreiben den nächtlichen Ausflug an die Gefängnismauern bei Mondenschein. Angeblich konnten sie unentdeckt bleiben, «the guards had other things to do».

7.3.2020

Die Zahnärztin verteilte wenige Milliliter einer Betäubungsflüssigkeit auf dem Zahnfleisch meines Oberkiefers und injizierte zweimal sehr kurz eine vermutlich sehr kleine Dosis davon in meinen Gaumen. Der Geschmack der Flüssigkeit war sauer und faulig zugleich. «Das war jetzt schon das Unangenehmste», sagte sie. Und behielt recht. Eine angenehm burschikose Persönlichkeit. Anlässlich des Weltfrauentag morgen gibt es im Google Playstore eine spezielle Abteilung «Apps für starke Frauen». Angeblich zum Thema «Empowerment» der Userinnen zusammengestellt, handelt es sich konkret um Mindshine («Kurze, tägliche Lektionen mit Audio-Coaching und Übungen helfen dabei, positive Gewohnheiten anzunehmen»), Meetup («Finde Menschen, die deine Interessen teilen»), Bumble («Die App bietet sogar die Möglichkeit, nur mit anderen Frauen in Kontakt zu treten»), mit Wayguard «kannst du dich virtuell von Familie und Freunden begleiten lassen, indem du deine GPS Position per App an ausgewählte Kontakte übermittelst», sowie der Beckenbodenkurs Pelvina und der Menstruations-Kalender Clue.

That’s it, folks. Das ist Empowerment für Frauen. Auch von Frauen, vermutlich. Die Zahnärztin jedenfalls würde herzhaft gelacht haben. Mir fiel dann erst hinterher ein, weshalb ich mich vor ihr gefürchtet hatte: Wegen Kurzeck. So geht es doch los in Übers Eis, dass er sich bei einer Zahnärztin zwei Zähne ziehen lassen will und die schafft es nicht, sodass er stundenlang, unter Betäubungsmittel gesetzt und «den ganzen Mund voller Blut» in ihrem Stuhl liegenbleiben muss, bis die völlig entkräftete Frau schließlich ihren Mann zu Hilfe ruft «der ist auch Zahnarzt».

Andererseits, das fiel mir heute erst ein, wo ich schon wieder feste Kost aufnehmen kann (und das in Massen ohne ß!): Wie segensreich in einem Jahrhundert der Narkosemittel leben zu dürfen. Auch Kurzeck kam ja noch in den Genuß. Wohingegen der zur Minne geborene Ulrich von Liechtenstein, Autor des Frouwen dienest sich seinen «verunstalteten Mund» noch gänzlich ohne irgendein Mittel hat zurechtschneiden lassen müssen.

Wenn ich den Schmerz nicht empfinden kann, entsteht er dann wohl trotzdem und kommt bloß aufgrund der blockierten Rezeptoren nicht an? Ich hatte eine verzögerte Wirkung befürchtet, wie aufgestaut, aber die war ausgeblieben. Anscheinend kann Schmerz sich totlaufen vor den blockierten Rezeptoren, oder sich verflüchtigen. Wie eine Schauspielerin, die wegen verschlossenem Bühneneingang ihren Auftritt versäumt.

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