»2020 – Sing Blue Silver«

»2020 – Sing
Blue Silver«
Tagebuch

31.3.2020

Eine Geschichte über den Regisseur Eric Rohmer, die sein Produzent erzählt hat: Für ein Filmprojekt (Le Genou de Claire) ist vorgesehen, dass in der Szene eine blühende Rose im Garten zu sehen ist. Rohmer liess die dann an der von ihm dafür vorgesehenen Stelle des von ihm dafür ausgesuchten Gartens pflanzen — im Jahr bevor die Dreharbeiten beginnen sollten. Als es soweit war, blühte diese Rose wie gewünscht.

Daran denke ich derzeit.

30.3.2020

Abends zum ersten Mal ins sogenannte Webinar, gefiel mir gar nicht so schlecht wie befürchtet. Wie im Theater kann man sich auf der übrigen Fläche des Mosaiks umschauen, wenn einen die aktive Rede nicht ergreift. Trotzdem Unbehagen vor dem Beobachtetwerden beim Wegschauen oder Gähnen (Erinnerungen aus der Erfahrung mit Video-Calls). Der Rechtswissenschaftler führte gerade seine Überlegungen aus hinsichtlich einem Recht des Staates, die körperliche Verfassung seiner Bürger zu überwachen (er hat dazu kein Recht), da öffnete sich im Hintergrund eine Tür inmitten seiner Bücherwand und ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt oder vier betrat die Szenerie. Es war als Krankenschwester verkleidet. Mit weisser Haube, darauf das Rote Kreuz. Zunächst von seinem Vater, dem Rechtswissenschaftler unbemerkt, verharrte es im Hintergrund, von dort aus in die selbe Kamera schauend, wie auch sein Vater; freilich anderen Inhalt teilend. Der Vater wird aus den anderen Kästchen des Mosaiks auf das Geschehene in seinem Hintergrund aufmerksam gemacht, schaut sich um und gerät, seiner verkleideten Tochter ansichtig werdend, ganz kurz aus dem Konzept. Vom unteren Bildschirmrand her steigen daraufhin traubenweise bunte Herzen auf und werden über das Mosaik geweht. Eine Sternstunde der Semiotik.

Gestern nachmittag Spaziergang mit Friederike durch die unattraktiven Teile der Stadt, um so wenig Menschen wie möglich zu begegnen. Auf dem Mittelstreifen der Frankenallee stand ein junger Mann, beide Hände in schwarzen Latexhandschuhen. Sonnenblumenkerne aus der Tüte knuspernd. Die Schalen spuckte er vor sich hin.

28.3.2020

Das neue Album von Brian Eno gefällt mir ausgezeichnet, ich finde es nicht ganz so gut wie Northwest Passage von Merrin Karras, aber ein Stück, Celeste, ist wunderschön. Eno hat dazu ein Video gedreht, während einer Bahnfahrt. Er hat dabei die Kamera seines Telefons auf die vorbeiziehende Landschaft gerichtet. Das Ganze im Zeitlupenmodus und draußen auf den Feldern ist kein Mensch zu sehen.

Ich höre sehr viel solcher Musik seit dem vergangenen Sonntag, als ich zufällig diese Radiosendung erwischt hatte. Für mich passt Ambient, passen die elektronisch erzeugten Symphonien zu der Stimmung vor meinem Fenster.

Draußen ist es sehr viel stiller geworden. Es fliegt so gut wie überhaupt kein Flugzeug mehr. Morgens manchmal ein großer Hubschrauber. Selbst auf der Mainzer «Landstraße» mit ihren vier Spuren fährt kaum noch ein Auto vorbei. Das Martinshorn eines Rettungswagens tönt jetzt wie doppelt so laut oder halb so nah, auf jeden Fall klingt es dramatisch. Gestern drang mit einem Mal ein ungewohntes Sirenengeräusch durch die Spalte zwischen den Häusern und diffundierte dort schwach in den Hinterhof. In regelmäßigen Abständen wurde der Sirenenton von einer männlichen Stimme unterbrochen, die tatsächlich «Achtung, Achtung!» rief. Danach kamen Anweisungen, darauf wieder die Sirene. Es brannte wohl ein Haus. Weil es ansonsten so still war, bekam diese eine Komponente der städtischen Geräuschkulisse eine unangemessen große Bedeutung — größer noch als ein Martinshorn, weil eine Stimme zuhören war. Und weil es keinen konkurierenden Schall gab, war auch der Nachhall der Stimme zu hören. So als wäre die Welt draußen nicht bloß still, sondern leer. Und ich, wie bei Human League im Circus of Death oder bei Herbert Rosendorfer im Großen Solo für Anton der «last man on earth».

Aber der ungewohnte Sirenenklang mit der Männerstimme trieb bald auch die Mume auf den Balkon. In ihren Ohren muß es noch unheimlicher geklungen haben, denn sie versteht ja kein Wort Deutsch. Nach und nach strebte auch der Rest ihrer Familie aus der Zweizimmerwohnung, in der sie zu fünft leben, ins Freie zu ihr. Wir lauschten, konnten uns aber nicht über unser gemeinsames Hörerlebnis verständigen. Sie leben auch in angstfreien Zeiten ihre Isolation.

27.3.2020

Gestern vor dem Einschlafen über unser herrliches erstes Jahr gesprochen, das Jahr 2015, in dem wir uns noch nicht gesehen hatten, ich noch nicht einmal wusste, wie Friederike ausschaut (Jan hielt es bei ihrer anhaltenden Weigerung ein Foto zu offenbaren zwischendurch für möglich, dass sie im Rollstuhl sitzt, ich irgendwie nicht), wir aber ohne trotzdem sondern halt vor allem sehr viele Stunden pro Nacht telefonierten. Pro so ziemlich jeder, an die ich mich erinnern kann in diesem Jahr und auch in dem darauffolgenden (zu einem ersten Treffen war es dann tatsächlich erst im Oktober 2016 gekommen). Eine diese von uns damals eingehaltene Spielart des social distancing überbrückende Erfindung von Friederike war die Übertragung sogenannter Wohngeräusche: Das fand vor allem am Wochenende statt, wenn sie — aus heutiger Sicht: in häuslicher Quarantäne lebte. Dann stellte man den heimischen Computer an und übertrug die Hintergrundgeräusche des gesamten Alltags via Skype von Frankfurt nach Berlin und umgekehrt. Die Kamera blieb freilich ausgeschaltet.  Man konnte auch einfach mal während dieser laufenden Übertragung in seinen Computer hineinsprechen und wenn man Glück hatte, befand sich der andere gerade in der Nähe und sagte auch etwas. Oder es rauschte atmosphärisch und der andere schlief, oder hatte sogar die Wohnung verlassen. Einmal, die Übertragung lief, aber ich war ausgegangen und saß vor einem Café, um ein paar Menschen an ihrem Sonntag zu beobachten, bekam ich eine SMS von Friederike «Ich komme jetzt nach Hause». Da habe ich auch rasch gezahlt und bin heim gestrebt, um diesen Moment ihres Türenaufschließens und hereinkommens live mit zu erleben. Lauschenderweise.

Las heute früh ein wenig in den Tagebuchaufzeichnungen aus diesem Jahr. Sandte einen Text auch an Friederike, per Air drop, die im Nebenraum an unserem Erstschreibtisch in der Heimredaktion sitzt (mit Blick auf das Verlagsgebäude; das hat nicht jeder zur Zeit).

25.3.2020

Könnte ich so das Schreiben für mich wieder möglich machen: aus der Erinnerung; an Bäume in Zürich, an alles; weil dieser Raum nur mir gehört? Und somit die Geschichte.

Könnte ich so — das war für mich die Frage letztlich, dauernd — «die dem Herrn entwundene Peitsche» wieder an mich bringen, die mir abhanden gekommen war in jüngster, noch längst nicht vergangener Zeit?

Beim Blick durchs Fernrohr in die Wohnung schräg gegenüber im Hof steht dort einer, der mich beobachtet. Ich setzte mein Glas sofort ab und überlegte, mich möglichst unauffällig, also natürlich zu verhalten. Ohne zu posieren, wie ein gewöhnlicher Mensch. Allerdings schämte ich mich dafür noch zu sehr wegen meines Eindringens in fremde Privatsphären. Rasch verließ ich den Raum. Der Aufenthalt außerhalb des Zimmers gelang mir deswegen schlecht, weil ich mich vor allem fragte, ab wann, nach welchem Maß einer verstrichenen Zeit es natürlich wirken dürfte, oder normal, dass ich das Zimmer mit dem Fenster zum Hof wieder beträte im Rahmen eines normalen Tagesablaufes. Konnte mich deshalb auf nichts anderes konzentrieren als abzuwarten. Bis ich mich fragte, worauf ich wartete. Das nahm ich dann als Signal, dass mir verziehen ward, meine Tat in Vergessenheit geraten. Und fühlte mich wieder frei.

Bleibt das Unbehagen mit «der leeren Zukunft», von der Simon Strauss geschrieben hatte — ist das eine Woche her? Wie hieß das große rostige Schiff das an den Landungsbrücken vor Anker lag? Im Sonnenschein.

24.3.2020

Der Keim des Judasbaums treibt aus. Gestern abends war es noch ein Knie, das aus der Erde ragte, heute früh waren dort im ersten Licht schon die beiden Keimblätter entfaltet. Auf denen sind, obwohl erst halbierte Konfetti, schon die Zeichnung der Blattadern deutlich. Der Judasbaum blüht im April, das werden wir dann erst im nächsten Jahr erleben. Die Blüten im Spektrum von Purpur bis Violett entspringen ihm dann büschelweise und überall, wo ihm an den Zweigen die Rinde aufliegt, bis er jeden seiner Äste wie mit Flausch beflockt ins Blaue reckt.

Mir ist der Schönling im vergangenen Jahr in Zürich zum ersten Mal aufgefallen. Dort vor allem in dem kleinen Park vor dem Hauptgebäude der Universität, wo die Polybahn an ihrer Bergstation hält, aber auch in Privatgärten. Am Tag nach Ostern haben wir dann vor einem Blumenladen am See ein Exemplar entdeckt; als Kübelpflanze geschnitten und trotzdem in voller Blütenpracht — wie eine gefärbte Forsythie. Wollte ich unbedingt haben.  Die Samen hatte ichvor ein paar Tagen erst im Laden des Palmengartens gekauft, als der noch offen hatte (Friederike hat neulich auf einem Abendessen die Leiterin des Palmengartens kennengelernt. Es gibt auch dort ein Szenario für die Belegschaft, weil in den Gewächshäusern viele Pflanzen täglich versorgt werden müssen).

Der Keimling macht den Anschein, als wüchse er rapide und könnte bald raus zu unserem Mandelbäumle. Das ist jetzt ein schöner Ausgleich für meinen Aufenthalt in Zürich in diesem Jahr, der leider nicht stattfinden kann.

22.3.2020

Die Luft war kalt, es roch nach Ananas.

Ungewohnte Unlust an der Zeitungslektüre — früher gerne mehr Gedanken, weniger Nachrichtliches verlangt es mich jetzt genau umgekehrt. Kann freilich an den Gedanken liegen. Lieber nicht lesen (aus Solidarität mit denen, die schreiben müssen). Friederike hat eine Art Passierschein ausgehändigt bekommen (Wurfsendung). Die Rede ist von «kritischer Infrastruktur» und «unentbehrlicher Schlüsselperson«. Sagt man sich viel zu selten.

Über Mittag lief auf dem Radiosender NTS eine Sendung von Golden Ratio Frequencies, der ich zunehmend inniger lauschte. Befremdlicherweise. Verstehe trotzdem nicht, warum man diese Musikrichtung als »Ambient« bezeichnet wie eine Sitzlandschaft und nicht mit Trance. Stundenlang schwillt und pluckert es dahin. Doch was erhebt sich dann wie ein bemooster Rücken aus der stillen See — sind das noch immer elektronische Klänge? Nein, sagt die Playlist: Das ist das Hamburger Philharmonische Orchester, dirigiert von Wilhelm Furtwängler; sie spielen Richard Strauss, «Tod und Verklärung (live)».

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