Lernziel Menschlichkeit

Portrait
zuerst erschienen 2001 in Festschrift für Jörg Splett, Münster

Man fängt ja gern mit der ersten Begegnung an - Freitagnachmittag, ein heißer Tag im Mai in meinem dritten Semester. „Der Mensch: Mann und Frau“, so tollkühn hatte er die Vorlesung überschrieben, zu der ein glücklicher Zufall oder ein weises Curriculum mich verpflichtete; mit meinem damaligen Schwerpunkt Analytische Philosophie hätte ich diese Veranstaltung nie ausgewählt. So kam ich denn auch leichtfertig zu spät, doppelt zu spät sogar: die erste Vorlesung hatte ich versäumt und die zweite war schon im Gange, als ich die Tür zum großen Hörsaal der Hochschule für Philosophie öffnete. Der Raum war überfüllt, ich konnte den Redner zunächst nicht sehen und setzte mich auf einen Stuhl hinter einer Betonsäule. Der Redner sprach rasch, mit einer leichten, hellen Stimme, in einer Art Parlando, das ganz unakademisch und vor allem eins war: gewinnend.

Er sprach über verschiedene Modelle der Liebe, über Volkmann-Leanders Märchen von der Gänsebärbel und dem Schweinechristoph, die sich so sehr wünschen beim andern zu sein, daß Gott sie erhört und die Bärbel zu den Schweinen schickt und den Christoph zu den Gänsen, wo sie dann so unglücklich sind wie zuvor. Zitierte dann die ebenso fatale Variante Richard Wagners, in der die Liebenden ekstatisch aufeinandertreffen - und zerschellen im Liebestod. In der komischen wie in der tragischen Variante, so zeigte er, scheitern die Liebenden an der Verschiedenheit der Objekte ihres Sehnens und Begehrens, sodaß die wirkliche Übereinkunft, auf die Liebe aus ist, nicht gelingt. Die Lösung dieses Dilemmas, die Jörg Splett hier in nuce vorstellte, sollte ich später immer wieder von ihm hören, immer weiter entfaltet bis hin zur Spekulation über das Trinitätsgeschehen in Gott selbst: Wird von den beiden Liebenden „ein Dritter einträchtig geliebt“, so Splett unter Berufung auf Richard von St. Viktor, so schlägt die Neigung der beiden „in der Flamme der Liebe zum Dritten ununterschieden zusammen“. Gemeinsam, vereinten Herzens auf ein Drittes zugehen, ein Drittes lieben, die Arbeit, die Kunst, zuhöchst Gott, in diesen Gedanken mündeten Spletts Ausführungen, die ich staunend hinter der Betonsäule vernahm.

Gemeinsam arbeiten - das war damals die Losung meiner privaten Liebeslehre gewesen; gelernt hatte ich das von Brecht, der unter diesem Vorwand allerdings manche Geliebte als günstige Arbeitskraft instrumentalisierte. Hier wurde mir dieser Gedanke nun philosophisch situiert, begründet und geweitet auf seinen eigentlichen Kern hin, die Mitliebe. Ich war berauscht und beglückt und suchte, wie ich später dank Splett verstand, einen Adressaten, bei dem ich mich für mein Glück bedanken konnte. So verließ ich die Hochschule, kaufte bei einem Händler auf der Ludwigstraße einen Strauß Lilien und schenkte sie meiner verblüfften Freundin.

Vieles an diesem Nachmittag war bezeichnend für die Jahre, die ich bei Jörg Splett studieren durfte. Das Unverhoffte der Begegnung, die mich aus meinem anti-metaphysischen Schlummer weckte - ganz im Sinne Spletts, nach dessen Auffassung wir die wesentlichen Einsichten nicht den Fragen verdanken, die wir selber stellen, sondern den Fragen, von denen wir gar nicht wußten, daß wir sie hatten. Dann, mit meinem spontanen Blumenkauf, die selbstverständliche, ja notwendige Verlängerung der Theorie in die Praxis hinein: Philosophie als existentielle Lebens-Dimension, die keine universitären Grenzen kennt.

Was lernt man von einem solchen Lehrer? Auch philosophiehistorische Fakten natürlich, eine Fassung des Anselmschen Gottesbeweises etwa, die in ihrer distinktiven Schärfe jedem meiner angelsächsischen Analytiker standhielte - wenn denn die Analytiker die Schriften eines Philosophen zur Kenntnis nähmen, der sich selbst bescheiden (und manchmal trotzig) dem „poetischen“ Pol des Denkens zurechnet. Man durchdringt mit seiner Hilfe vielleicht zum ersten Mal die Herr-Knecht-Dialektik, und sei es auch bloß für den Augenblick der blitzartigen Einsicht, die sein Vortrag so oft entzündet. Das reicht über die Vermittlung des philosophiehistorischen Faktums schon hinaus - aus Philosophie wird Philosophieren. Da erntet der Schüler keine Bildungsinhalte zur späteren Verwertung, da ist, hier und jetzt, er selber gemeint.

Dann, bleibender als die Fakten, die Denkfiguren, etwa jene: Erlösung-der statt Erlösung-von, ein philosophisches Allheilmittel, für das ich ihm immer wieder dankbar bin. (Wie auch für dies: „Wer dreimal lügt, der glaubt nicht mehr.“ Oder für dies: „Wer nicht lebt, wie er denkt, wird irgendwann denken, wie er lebt.“) Erlösung der Geschlechterdifferenz in der Übereinkunft der Liebenden, statt Erlösung von ihr durch Verleugnung des Unterschieds. Erlösung der Zeit im Fest durch reflektierendes Heraustreten aus dem Zeitfluß, statt Erlösung von ihr durch Widerspruch und Ekstase. Erlösung des Verhältnisses zu Gott im bleibenden Gegenüber („Ich bin Dein“), statt Erlösung von ihm durchs Aufgehen im großen Fluß des New Age („Ich bin Du“).

Übrigens ist jeder meiner Filme von Spletts Denken geprägt. Die dokumentarischen Künstler-Porträts etwa, vor allem das große über den Dirigenten Sergiu Celibidache, mit dem meine freie Arbeit als Regisseur und Produzent begann, von seinem Hinweis auf C. S. Lewis, dem anläßlich eines Sonnenstrahls in seiner Scheune ein grundsätzlicher Perspektivwechsel aufgeht: vom Looking at zum Looking along. Beim Looking at blicke ich auf den Strahl und sehe die Stäubchen tanzen. Beim Looking along blicke ich am Lichstrahl entlang durch den Türspalt nach außen und sehe die Baumwipfel, den Himmel und die Sonne. In jeder meiner Annäherungen an einen Künstler ist es das, was ich versuche: nicht auf ihn zu schauen, mit dem entlarvenden Blick der Psychologie, sondern mit ihm auf das, was ihn bewegt, die Musik, die Gesetze der Kunst.

Den Filmessay „Bruckners Entscheidung“ kann man als Entfaltung von Spletts Philosophie der Freiheit lesen, am Beispiel der Lebenskrise Anton Bruckners im Jahr 1867, in dem für ihn die scheinhaften Alternativen seines bisherigen Lebens - „Wahl“ in der Terminologie Spletts - in sich zusammenfallen, und er sich an dem Punkt findet zu bestimmen, wer er ist und wer er einmal gewesen sein wird: „Entscheidung“. In diesem Moment der Krise geht es für ihn nicht mehr um die Wahl dieser oder jener beruflichen Option, es geht um das Ja oder Nein zu dem einzigen Angebot, das sich ihm offenbart, um die „Annahme seiner selbst“ (Guardini): um Leben oder Tod.

Und in „Belcanto“, einer Serie über historische Tenöre und die Idee der Tonaufzeichnung, kommt an prominenter Stelle Splett selber zu Wort: „Es stimmt zwischen Interpret und Partitur, wenn es zwischen Interpret und Publikum stimmt - im Dienst des Stimmens zwischen Publikum und Partitur. Jeder dient hier. Jeder vermittelt und macht dabei zugleich seine Erfahrung. Jeder geht beglückt nach Hause. Nur die Partitur nicht, aber die hat während der Zeit gelebt.“ Solche Sätze, im Interview leicht dahingesprochen, fast improvisiert und doch gehaltvoll, erregen im deutschen Fernsehen, wie ich feststellen mußte, Anstoß. „Ist ja alles sehr schön, aber dieser unverständliche Philosoph…“ „Seien Sie doch froh, wenn Sie einmal im Fernsehen einen Satz nicht auf Anhieb verstehen“, antworte ich meistens.

Zur Zeit entwickle ich einen Tanzfilm aus einer Erzählung von Ilse Aichinger, dem „Gefesselten“. Erwähnt hatte sie, am 11. 2. 89 in seinem Sokrates-Seminar, Jörg Splett. Und ich träume von einem gemeinsamen Film, einem, ja, philosophischen Film, aber ohne Waldspaziergänge. Ob es das geben kann?

Noch eine universelle Figur in Jörg Spletts Denken: die Asymmetrie von Gut und Böse, von Position und Negation - wunderbar anschaulich im Mini-Dialog von Jasager und Neinsager: „Bleiben Sie dabei, wollen Sie wirklich Nein sagen? - Ja!“ Das Böse nicht als die dunkle Hemisphäre, die unsere Existenz erst zur Ganzheit rundet, nein, das Böse als erbärmliche Schwundstufe, als Schmarotzer am Guten. Die Kraft des Ja!, immer wieder. Splett macht Mut, der Versuchung zum Nein zu widerstehen - in jeder kleinen Alltagsentscheidung, aber auch in der Kunst, wo heute Mut dazu gehört, das geschlossene Ganze anzustreben, die geglückte Gestalt, und sich den individuellen Kringel zu verbieten, jenes ängstliche „Verwechselt mich vor allem nicht!“, das Nietzsche umtrieb. Die lange Zeit mit Jörg Splett gibt mir den Mut, die Kraft und das Rüstzeug, das Prinzip der Kohärenz in der Kunst zu verteidigen, einer Kunst, die das Häßliche, Störende, Widerborstige nicht naiv vermeidet oder gar leugnet, aber integriert in das gelungene Ganze (Erlösung der Dissonanz, statt Erlösung von ihr) -, dieses Prinzip zu verteidigen gegen die übermächtige Tendenz unserer Zeit zum Torso, zum Fragment, zur offenen Form. Jeder Schnitt, den ich als Filmemacher setze, ist der Versuch einer restitutio ad integrum, einer Verwandlung des Stofflichen, einer Wiederherstellung der Unschuld. Einer Rekonstruktion im Zeitalter der Dekonstruktion.

Die privaten Begegnungen mit Jörg Splett, die sich mittlerweile zu meiner Freude immer wieder ereignen, nach Jahren des distanzierten Schüler-Lehrer-Verhältnisses, sind von einer gewissen Befangenheit meinerseits geprägt. Wie trinkt man Wein mit jemandem, dem man einen wesentlichen Teil seiner geistigen Sozialisation verdankt? (Es geht dann schon, mithilfe des Weins…) Und, so falsch und töricht es auch sicher ist: in Zeiten der Schwäche und Krise weiche ich ihm aus. Obwohl er doch gerade dann ein wunderbarer Ratgeber wäre. Aber ich fühle mich seinem Ethos dann nicht gewachsen.

Spletts Einfluß auf mich als Regisseur? Immer wieder groß, ja, aber eigentlich greift das gar nicht. Da ist nicht der Philosophieprofessor, von dem der Regisseur für seine Arbeit lernt, da lernt der ganze Mensch für sein ganzes Leben, und das fließt dann in alles ein, was er tut. Splett hat mich fromm gemacht. Er läßt mich gut sein wollen. Ist das ein aufgeklärter Standpunkt gegenüber einem akademischen Lehrer? Jörg Spletts Leistung ist auch und gerade, daß sich solch kleinliche Fragen nicht mehr stellen. Um ganz andere geht es, um jene, um die es der Philosophie immer gegangen ist. Mit einem frühen Buchtitel von ihm: „Lernziel Menschlichkeit“. Was mit dem Erwerb eines akademischen Titels natürlich nicht annähernd erreicht ist (den ich denn auch ganz ohne diese Mitte meines Denkens erwarb), bis heute nicht. Am Donnerstag beginnt das Dante-Seminar.