Langendreer Dorf (Bochum)

Erzählung
zuerst erschienen 2014 in Bettina Fischer u.a. (Hrsg.): Eigentlich Heimat. Nordrhein-Westfalen literarisch, Düsseldorf, S. 210-121.

Bevor ich einen Spaziergang durch Langendreer Dorf mache, wo ich seit ein paar Jahren wohne, kehre ich zur Wilhelmshöhe zurück, die Zechensiedlung, die fünfzig Jahre meine Heimat war, bis meine Mutter starb und ich raus aus der Wohnung bin, da ich für meine Schwester bürgen musste. Ich habe schon oft über die Höhe geschrieben. Mein erster Prosatext und mein erster Suhrkamp-Roman hießen „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“, ein taz-Artikel hieß „Herbert Grönemeyer lebt hier nicht mehr“.

Die Siedlung der ehemaligen Zeche Bruchstraße grenzt ans Opel­Werk II und an den Bahnhof Langendreer, in dessen Züge ich dreißig Jahre lang eingestiegen bin. Als die S-Bahn gebaut wurde, machte man ein Kulturzentrum draus, in dem seitdem die alternative Szene verkehrt. Es gibt hier auch ein vielfach ausgezeichnetes Kino und ein vielbesuchtes Restaurant. Hier beginnt das eigentliche Dorf. Rechts von der Unterführung ist die Villa, in der bis zu seinem Tode der Bergwerksdirektor Gerd Springorum wohnte. Eine Zeitlang verkehrte ich dort. Das war eine schöne Zeit. Als Kind.

Neuerdings führt eine Einbahnstraße statt der Hauptstraße in Richtung Markt. Die BOGESTRA baut hier eine, wie ich meine, vollkommen überflüssige neue Straßenbahntrasse. Ein Dorf für sich bilden links die Behindertenschulen. Sie werden von Extra-Bussen angefahren. Rechts Ravis Pizza-Express hält sich schon zwanzig Jahre.

In der Hasselbrinkstraße praktiziert eine junge Ärztin, nachdem fünfzig Jahre Vater und Sohn Hoffknecht hier gearbeitet haben, zu denen ich immer hingegangen bin. Jetzt geh ich zu einem Internisten am Alten Bahnhof, einem Ortsteil, der nicht mit dem Kulturbahnhof zu verwechseln ist. Andere Ortsteile heißen Kaltehardt, Langendreerholz und Oberdorf.

Wir lassen die Ärztin in Ruhe und gehen die Hauptstraße ein bisschen weiter runter zum Markt. Wo früher eine Kneipe war (Treffpunkt), ist jetzt ein Grilllokal, das hauptsächlich von jungen Leuten aufgesucht wird. Daneben ist eine Ausbildungsstelle für Erste Hilfe. Die Goldin-Tanksteile ist lange weg, dafür ist da jetzt eine Elektrowerkstatt. Auf der andern Seite steht schon lange eine Aral-Tanke, mit allem, was dazugehört. Burbach verkauft Getränke im Einzelhandel. Der Toner-Bedarf ist relativ neu. Wo früher die alte Aral­Tankstelle war, ist nunmehr eine Autowerkstatt. Gegenüber wohn ich. Neben mir hat gerade eine junge Ärztin ihre Praxis eröffnet. Auf der anderen Seite ist eine Gemeinschaftspraxis von Psychologen. Obwohl ich es nötig hätte, gehe ich nicht hin, sondern zu meiner gewohnten Neurologin nach Weitmar. Die Nachbarn brauchen nicht zu sehen, dass ich da hingeh.

An der Ecke Unterstraße steht mit 125 Jahren das älteste Geschäft im Dorf, die AdleApotheke. Ich hatte mal Ärger mit dem Pharmazeuten, weil ich ihn in meinem ersten Roman vorkommen ließ. Ich hatte keine Ahnung, dass sein Name Reinhard ist. Außerdem meinte ich eigentlich einen Zahnarzt, der seine Frau schlug. Der Apotheker wollte mich verklagen, was aber ein befreundeter Anwalt abwenden konnte. Eine weitere Apotheke ist am Markt, der jetzt folgt. Da löse ich bei den beiden Zwillingen immer meine Rezepte ein. Wo bis in die siebziger Jahre Reul war, eine Kneipe, verkauft ein Pole Spezialitäten aus seinem Land. Zu dem Damen-und-Herren-Salon daneben gehe ich auch nicht, sondern weiterhin zur Wilhelmshöhe, wo ich auch meine Zähne richten lasse. Lotto geb ich aber am Markt ab.

An der nächsten Ecke ist die Markt-Börse, die Gaststätte, an der meine Schwester Pleite gegangen ist und ich mit ihr. Da half auch die Spielhölle an der andern Ecke nichts. Wir gehen einmal um den Markt. Im Reisebüro habe ich noch nie was gebucht. Nebenan ist ein Geschäft für Angelgeräte und Aquaristik. Den Big Döner kauf ich mir einmal die Woche. In der Bude daneben ebenso oft eine Currywurst mit Pommes und Majonäse. Ins Backhaus gehe ich fast jeden Tag ein Stück Kuchen essen und einen großen Kaffee trinken. In die Kneipe gehe ich nicht rein. Brinkhoffs ist nicht meine Marke. Und die Sparkasse ist nicht mein Geldinstitut, sondern die Volksbank, zu der wir jetzt in die Alte Bahnhofstraße gehen.

Oder wir gehen erst auf das ehemalige Gelände der Schultheißbrauerei, wo ich immer im Real einkaufe. Daneben die Disco Matrix. Ich hätte vor fünfzig Jahren nie geglaubt, dass meine damaligen Idole Eric Burdon und Manfred Mann mal in Langendreer Dorf auftreten würden, wie sie’s vor einiger Zeit getan haben.

Die Alte Bahnhofstraße ist voller Geschäfte, vermietet von einer Bekannten von mir, die meinen dicksten Kumpel geheiratet hat, eine Bombenpartie. Es gibt dann noch einige Läden, Schmuckgeschäfte, Papierwaren. Vielleicht sollte ich auch noch erwähnen, dass der Großvater meines Suhrkamp-Lektors ganz früher Prediger in Langendreer Dorf war. So was verbindet.

Der Spaziergang neigt sich dem Ende. Hier sind auch einige Leerstände, der typische Schlecker-Drogeriemarkt zum Beispiel. Dann gibt’s in einem Fachwerkhaus ein Restaurant, Landau, das stets ausgebucht ist, eine weitere Apotheke und eine Lotto-Annahmestelle. Weiter oben erstreckt sich das imposante ehemalige Amtsgericht. Mein Kollege Küster hat ausführlich darüber geschrieben. Als er daraus vorlas, war auch der ehemalige 88-jährige Justizpfleger Droste da, der ihm die Stichwörter geliefert hatte. Der konnte sich noch an meinen Vater als Fußballer im Krieg erinnern.

Letzte Woche war ich stationär in Langendreers höchstem Gebäude, dem Knappschaftskrankenhaus. Entgegen ersten Vermutungen hatte ich doch keinen Schlaganfall, sondern einen eingeklemmten Nerv. Mit ihm geh ich zum Physiotherapeuten und geh öfter, als mir lieb ist, durchs Langendreer Dorf.