Die Spielzeit 1976/77

Erzählung
zuerst erschienen 2009 in Volker W. Degener und Hugo Ernst Käufer (Hrsg.): Schreiben in der Metropole Ruhr. Texte, bio-bibliografische Daten und Fotos von 48 Autorinnen und Autoren, Essen.

Ich hatte nur einen linken Fuß. Deshalb spielte ich in der ersten Mannschaft des SuS Wilhelmshöhe linker Verteidiger. Ich hätte auch Linksaußen spielen können mit meinem Handicap, das ja auch ein Vorteil war, aber diesen Posten hatte unser Spielertrainer Horst für sich reserviert, ein ehemaliger Halbprofi, der in den sechziger Jahren bei Eintracht Gelsenkirchen in der Regionalliga unter Vertrag gestanden hatte. Er war jetzt Ende dreißig und graumeliert. Schon in der Jugend hab ich hinten gestanden und es sogar in die Bochumer Auswahl geschafft, aber als dann nach der B- der Sprung in die A-Jugend erfolgte, fuhren wir mit unserer Abiturklasse nach London und die Stellung war anderweitig vergeben, an einen Spieler vom VFL Bochum, der es aber auch nicht zum Profi brachte und bei den Amateuren versauerte. In unserem Team war ich aufgrund meiner Spezialisierung konkurrenzlos und ich wurde auch nur ausgetauscht, wenn ich verletzt war. Wir hatten auch keinen adäquaten Ersatz mit einem linken Fuß auf der Bank sitzen. Nun fing also die Saison an. Wir waren aus der Bezirksklasse abgestiegen und wollten versuchen, möglichst schnell wieder hochzukommen, indem wir Meister in der Kreisklasse A werden wollten.

Ich setzte also die Blutgrätsche an, obwohl Vogts nicht gerade mein Vorbild war, eher Nobby Stiles. Vogts konnte nur zerstören und keinen langen Pass auf Heynckes schlagen. Wenn er den Ball mal ergattert hatte, verlängerte er ihn weiter auf Netzer, Wimmer oder Bonhof und die schossen dann Gladbach zum Meister. Vogts war ja auch kein guter Trainer, weil er zu wenig Grips im Kopf hatte. Aber die Blutgrätsche war okay.

Wir hatten Laer sofort im Griff, und mein Gegenspieler wurde kaum angespielt. Er sah dann zu, möglichst schnell den Ball wieder los zu werden, bevor ich ihm erneut in die Knochen trat. Sonst lief das Spiel an mir vorbei. Ich bot mich ein paar Mal an, bekam aber den Ball nicht, worauf ich hinten blieb und vor mich hindöste. Ich weiß nicht, was Beckenbauer, Seeler, Netzer und Sepp Maier in ihren autobiographischen Büchern geschrieben haben, was in ihn auf dem Platz vorging, wenn sie den Ball mal nicht hatten, woran sie dachten. Also ich denk meist ans Ficken. Oft. Weil ichs so selten mache. Und je seltener man es macht, umso öfter denkt man dran. So ähnlich geht’s mir heute, deshalb schreibe ich auch dieses Buch. Ich dachte also an Ilona, meine letzte Nummer. War schon eine ganze Zeit her. Letztes Jahr auf dem Herbstfest, standen wir bei Jürgen Waßmann in Dreierreihen vor dem Tresen. Die gabs damals noch. Und plötzlich stand diese nicht ganz hässliche junge Dame neben mir. Ich war schon leicht schicker und haute sie an. Vorsicht, da kommt ein Steilpass. Ich fang ihn noch vor der Außenlinie ab und befördere ihn zur Ecke und stell mich anschließend an den Pfosten. Die Ecke wird aber nur schwach geschossen und ich hab meine Ruhe und denke wieder an Ilona. Sie war die Nichte unseres ältesten Spielers. Bernd, unserem Libero. Wir spielten übrigens ein 4-3-3-System, mit Bernd als letztem Mann, der aber nicht mehr der schnellste war und froh sein konnte, dass er den Dietmar als Vorstopper vor sich hatte, genau wie Beckenbauer und sein Adlatus.

Schwarzenbeck. Noch keiner hatte die Rolle Schwarzenhecks in Franz Beckenbauers Laufbahn richtig gewürdigt. Was wär der nur ohne den Mann mit der markanten Nase gewesen? Ilona war achtzehn und hatte ansehnliche Titten. Sie trug einen Maxi-Rock. Nach einer Viertelstunde küssten wir uns, und zwar so heftig, dass uns David Hoffmann den Schlüssel seiner Laube anbot. Wir schoben dann so ab. Ich brachte sie aber nicht auf meine Mansarde, obwohl nichts dagegen sprach, sondern wir fickten im Patt im Stehen, das war der Feldweg zwischen Stephan- und Hauptstraße. Sie war sehr heiß, aber ich kam nicht, und wir gingen zurück in die Kneipe, wo David lästerte. Meine Eltern waren auch da, bekamen aber die ganze Affäre nicht mit. So oder so ähnlich dachte ich nach während das Spiel an meinem Gegner vorbei lief und ich ihn leben ließ.

Ich verabredete mich mit Ilona für den nächsten Dienstag, sie sollte mich vom Training abholen. Ich hatte mir die ganze Sache aber überlegt, zumal ich noch eine andere gute Bekannte hatte, mit der ich zwar nicht rumvögelte, mit der ich aber gerne zusammen war. So sagte ich Ilona also nach dem Training, dass schon wieder alles vorbei sei. Ich hätte eine andere. Sie fing an zu heulen und ich griff noch mal nach ihrer Fotze. Sie hatte jetzt einen Minirock an. Ich hab sie dann nur noch einmal gesehen, als ich mit Charlotte beim Waßmann reinkam, und sie wutentbrannt rausstürmte. Aber irgendwie hatte ich instinktiv richtig gehandelt. Als ich zwanzig Jahre später mit ihrem Onkel Bernd bei Schulte am Tresen stand, fragte ich ihn, was seine Nichte machte, und er sagte, kaum hat der die Dose aufgemacht, hatte sie auch schon geworfen und sie hatte vier Kinder und ist dreimal geschieden. Gott sei Dank, dann hab ich es ja damals richtig gemacht. Damit war das Kapitel Ilona für diese Begegnung gegen Laer erstmal abgehakt. Aber natürlich kamen mir auch andere Gedanken. Der stream of consciousness oder war es der stream of unconsciousness? Also sind wir in England, nachdem ich mal wieder einen Ball abgewehrt habe. Und ich denke an Marry, die gerade da war und mit der ich so getan hatte, als würden wir ficken. The real thing würden wir im Herbst tun, wenn ich mit Reinhard rüber fuhr. Und schon war Halbzeit.

Horst stauchte uns zusammen, obwohl er als Linksaußen auch nicht viel gebracht hatte. Ausgewechselt wurde nicht. Nach der Halbzeit lief es besser und ich hatte noch weniger zu tun. Ich dachte schon an den morgigen Montag, wenn ich wieder auf der Ritter-Brauerei arbeiten würde, an deren Fuß unser Platz lag. Dann ein langer Pass auf Jürgen Waßmann, der auch unser Vereinswirt war. Er läuft bis zur Toraußenlinie, flankt zurück und etwa vom Elfer aus köpft Rainer den Ball ins Tor. Wir laufen alle zu ihm hin und beglückwünschen ihn. Jetzt drängt Laer und meine Gedanken haben kaum noch Gelegenheit abzuschweifen. Einmal muss ich meinen Gegner noch mal umhauen, sonst wär er durch gewesen, und ich bekomm völlig zu Recht die Gelbe Karte. Dann aber ist Schluss, und wir haben die beiden Punkte drin.

In der Kabine war einiges los. Wir Spieler hatten unterschiedliche Systeme. Manche zogen sich sofort aus, manche blieben in ihren Klamotten sitzen, alle zogen die Schuhe aus. Die meisten rauchten, noch im Trikot. Nur der Torwart nicht, der auch sofort unter die Dusche ging. Wir andern schmökten erstmal ein paar. Außerdem stand ein Kasten Bier in der Mitte. Das musste so sein. Das war eine conditio sine qua non. Ich kann mich nicht dran erinnern auch nicht auswärts, dass mal nach dem Spiel kein Kasten in der Kabine stand. Manche spielten sich am Schwanz rum. Peter hatte keinen Schwanz, sondern einen Rüssel. Ich hatte einen der kleinsten, aber wehe, wenn er ausgefahren ist.